„After the Zeitenwende“

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Von Goethe, Gagarin und Fischbüchsen

„Die Fortschritte des menschlichen Geistes und die Revolutionen in der Entwicklung unserer Erkenntnis prägen den Charakter eines jeden Jahrhunderts.“ (Claude-Henri de Saint-Simon, 1760 bis 1825)

Auch ich sah nie einen Esel, nämlich keinen vierfüßigen, der wie ein Mensch gesprochen hätte, während ich Menschen genug traf, die jedesmal, wenn sie den Mund auftaten, wie Esel sprachen.“ (Heinrich Heine, 1797 bis 1856)

Kanonade von Valmy – Beginn einer neuen Epoche. Gemälde von Horace Vernet
Quelle: wikimedia commons / The National Gallery, London

Als 1792 ein Koalitionsheer europäischer Fürsten in Frankreich einfiel, begleitete Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) seinen Weimarer Herzog Carl August (1757 bis 1828) in dieser „Kampagne“. Die kriegerische Expedition sollte die junge französische Revolution in der Wiege erwürgen und Frankreichs Aristokraten wieder in ihre alten Rechte setzen. Das ging gründlich schief. Die Revolutionstruppen zeigten sich auch den favorisierten preußischen Kontingenten gewachsen. Ein Artillerieduell bei dem Dörfchen Valmy am 20. September des Jahres stoppte den Vormarsch der Preußen, bis Paris, dem eigentlichen Ziel der Eindringlinge, waren es noch gut 180 Kilometer. Einen Tag später rief der gerade ins Leben getretene Nationalkonvent dort die Republik aus. Die ging zum Gegenangriff über und schloß diesen „Ersten Koalitionskrieg“ 1797 mit erheblichen Gebietsgewinnen ab. So schob Frankreich seine Grenze zu den Deutschen an den Rhein vor.

Johann Wolfgang Goethe, festgehalten auf einem Bild des englischen Malers George Drawe von 1819
Aus: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Leipzig 1948

Goethe ließ sich 30 Jahre Zeit, um seine Erinnerungen an diesen Feldzug unter dem Titel „Kampagne in Frankreich“ öffentlich zu machen. Darin schildert er die niedergeschlagene Stimmung unter den vorher so siegessicheren preußischen Offizieren am Abend nach der „Kanonade“: „… die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch einem jeden Besinnung und Urteil.“ Aufgefordert, sich zu äußern, will Goethe aufmunternd gesagt haben: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“

Ob das so war? Wir müssen uns auf das Wort des Dichters verlassen. Der wußte natürlich mit dreißigjährigem Abstand um die Haltbarkeit des pompösen Satzes. Das zur politischen Macht gekommene Bürgertum Frankreichs hatte diese Macht militärisch verteidigt. Der Krieg offenbarte eine neue Qualität: Für ihre Interessen freiwillig Kämpfende waren den von Peitsche und Stock zusammengehaltenen Heeren der Fürsten überlegen. Sie konnten neue Taktiken anwenden, in aufgelöster Ordnung gezielt den in Reihen aufgestellten Gegner aus Gewehren mit gezogenen Läufen beschießen. Das machte sie unwiderstehlich. Der Siegeszug der Bourgeoisie, der vor Jahrhunderten mit den großen Gewinnen im Fernhandel begonnen hatte, war nun nicht mehr aufzuhalten. Der Kapitalismus würde alle Seiten des Lebens revolutionieren, wußte Goethe. Wie das, was barbarisch werden konnte, möglichst human zu gestalten sei und daß es einmal enden würde, wurde zum Gegenstand im „Faust“. Ja, es stimmte: Es begann eine neue Epoche.

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Zeitenwende“ – Nimmt man das Wort wörtlich, sieht die Sache so aus: Die „Wende“ ist eine Änderung der Bewegungsrichtung um 180 Grad. Man geht dahin, wo man hergekommen ist. Die „Zeitenwende“ ist in diesem Sinne eine Rückwärtsbewegung auf dem Zeitstrahl. In der US-Fernsehserie „The Time Tunnel“ von 1966/67 waren solche Ausflüge jenseits aller Physik und Logik recht amüsant. Sie führten nach Camelot zum legendären König Artus, in das biblische Jerusalem oder zum US-Flottenstützpunkt Pearl Harbor vor dem japanischen Angriff 1941. Was soll das Ziel geistiger Rückwärtsbewegung denn jetzt sein? Der Sommer 1969, bevor Willy Brandt Bundeskanzler wurde? Oder geht es weiter nach hinten?

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Kann man Juri Gagarin (1934 bis 1968) mit den Beatles vergleichen? Ja, selbstverständlich. Der russische Bauernsohn war ein Popstar der Swinging Sixties. Den sympathischen Gagarin als ersten Menschen in das Weltall zu schicken, war eine phantastische Wahl. Wo er sich sehen ließ – auch im Westen – versammelten sich Menschenmassen. Es gab auch kreischende Mädchen, wie bei den Fab Four.

Juri Gagarin am 3. Juli 1961 in Helsinki
Foto: wikimedia commons/ Arto Jousi / Suomen valokuvataiteen museo / Alma Media / Uuden Suomen kokoelma

Aber Gagarins Flug am 12. April 1961 ist für die Menschheitsgeschichte weit bedeutender als das Erscheinen der Beatles, deren Musik wir Zuhörer bis in alle Ewigkeit wünschen. Mit Gagarin bekam die sowjetische Raumfahrt ein Gesicht. Ihren eigentlichen Spiritus rector, Sergej Koroljow (1907 bis 1966) , genialer Raketenkonstrukteur, Sowjetukrainer weißrussischer Herkunft mit griechischen und kosakischen Wurzeln, Gulag-Häftling und Chef des sowjetischen Raumfahrtprogramms, durfte niemand kennen.

Der Mensch betrat nun höchstpersönlich den Kosmos. Und Moskau führte Washington aufs Eindringlichste vor, wozu es in der Lage war – auf der Erde. Schon der Flug des ersten künstlichen Trabanten unseres Planeten am 4. Oktober 1957 hatte im Westen den berühmten „Sputnik-Schock“ ausgelöst. Dieser Startschuß für die zivile Raumfahrt schreckte die Militärstrategen von USA und NATO auf. Sie sahen: Die Überlegenheit der mit Atombomben bestückten US-Luftflotten nützte nichts mehr. Die Sowjetunion konnte nun – dank Koroljows Leistung – mit Raketen über Kontinente hinweg Nuklearwaffen an jeden Punkt der Erde bringen.

Sergej Koroljow 1960

Der junge Russe, der im April 1961 in seinem futuristischen Raumanzug der Welt zuwinkte, sollte mit ziemlicher Sicherheit auch einen Mann namens John F. Kennedy (1917 bis 1963) beeindrucken. Der amtierte noch keine drei Monate als 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie wir heute wissen, waren maßgebende US-Funktionäre immer mal wieder bereit, Atomwaffen einzusetzen, so auch Kennedy. In der Krise um Berlin 1961 drohte er nach Zeugnis von Franz Josef Strauß (1915 bis 1988) mit dem Wurf einer Atombombe auf einen Übungsplatz der Sowjetarmee, falls der Osten die Kontrolle auch über die Flugverbindungen nach Westberlin übernehme. Das stille Agreement von Kreml und Weißem Haus zum Bau der Mauer war der Ausweg aus dieser gefährlichen Lage. Nicht schön, aber friedlich. Wer weiß, ob ohne Gagarin und Koroljow unser Planet noch bewohnbar wäre? Das „Gleichgewicht des Schreckens“, das sich herstellte, ist perverserweise der Garant für das Überleben der Menschheit. Gagarins Flug war ein weltgeschichtlicher Einschnitt. Eine neue Zeitrechnung beginnt, wenn alle Atomwaffen verschwinden und die Welt abrüstet.

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Wenn wir uns recht erinnern, war es Erich Honecker (1912 bis 1994), der in den 1980er Jahren den „Wettlauf mit der Zeit“ in der DDR zur Parole machte. Gemeint war der Wettlauf mit dem Westen in der Mikroelektronik, in dem der Osten nach jahrzehntelangem Trainingsrückstand keineswegs à la Katrin Krabbe das Feld aufrollte. Vom „Wettlauf mit der Zeit“ zu sprechen, fühlte sich danach alles bemüßigt, was auf Funktionärsbeinen lief. Die Leute im Lande machten ihre Witze: Keiner wage mehr eine Fischbüchse aufzumachen, weil auch darin der „Wettlauf mit der Zeit“ stattfinden könne.

Die Erfinder der „Zeitenwende“ dürfen auf ähnliche Erfolge verweisen. „Zeitenwende im Stadtwald“ titelte neulich das touristische „Wandermagazin“ einen seiner Texte. Eine viel größere und bekanntere deutsche Zeitschrift bot in ihrem Internetshop ein „Focus Zeitenwende Bundle“ an, „statt 7,98 Euro jetzt nur 6,49 Euro“. Und das britische Wochenblatt „New Statesman“ kam schon im Mai 2022 mit der Überschrift „After the Zeitenwende: Jürgen Habermas and Germany’s new identity crisis“. Fehlen noch die Fischbüchsenwitze.

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Der Fall der Mauer lag keine zwei Jahre zurück, da hielt an der nach Carl von Ossietzky (1889 bis 1938) benannten Universität in Oldenburg am 17. Mai 1991 der Universalgelehrte Arno Peters (1916 bis 2002) eine Vorlesung zum Thema „Beginnt eine neue Ära der Weltgeschichte?“ Schon in der Frage steckte eine Provokation. Denn die geschichtsphilosophischen Debatten dominierte gerade der US-Politologe Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“, das der angeblich weltweite Sieg des Kapitalismus bringen solle.

Peters hatte in seinem Leben schon viel getan, um unser Bild von der Welt geradezurücken. So mit seinem Monumentalwerk der „Synchronoptischen Weltgeschichte“, mit der er den Eurozentrismus in der Historiographie ebenso überwand wie die Vernachlässigung der Kulturgeschichte und die Vorrangstellung des Wirkens der Reichen und Mächtigen. Ähnliches leistete in der Kartographie mit seiner „Peters-Projektion“. Seine Weltkarte wurde zum Klassiker. Sie zeigte „die Länder der Erde in flächentreuer Darstellung“ und bildete sie in ihrer wahren Größe ab. Ganz anders als in den Karten nach der herkömmlichen „Mercator-Projektion“. Die stammte aus dem Zeitalter des Kolonialismus und verzerrte die Größenverhältnisse enorm. Europa ist auf ihnen größer als Südamerika, obwohl seine Fläche nur halb so groß ist.

Arno Peters wichtigste Bücher zur Geschichte und Geographie und Thomas Manns Urteil über die „Synchronoptische Weltgeschichte“
Foto: Holger Becker

Die Entscheidungen über den Fortgang der Geschichte, so prognostizierte Peters vor den Zuhörern in Oldenburg, werde nicht in den USA oder im „untergehenden Europa“ fallen, sondern in den übrigen 14 Sechzehnteln der Erde. Gegenstand dieser Entscheidung sei die Frage, welchem Ziel die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen dienen solle: der Deckung des Bedarfs oder dem Gewinn (Was übrigens auch heißt: Kann ein Wirtschaftssystem aufrechterhalten werden, das Unmengen von Energie verpulvert, um aus purem Gewinnstreben angefachte Scheinbedürfnisse zu befriedigen?)

Peters zeigte sich optimistisch, daß es der Gewinn nicht sein werde – ein Gedanke, den er später mit seinem Buch vom „Computer-Sozialismus“ vertiefte, das auf Gesprächen mit seinem Freund Konrad Zuse (1910 bis 1995) fußte, dem Schöpfer des ersten Computers der Welt. Peters nannte Gründe für seine Zuversicht. Ein wichtiger: „… die einfachen arbeitenden Menschen in der außereuropäischen Welt erliegen der fünften Großmacht unserer Zeit, der zunehmend vom internationalen Finanzkapital beherrschten öffentlichen Meinung, weniger als ihre europäischen Genossen, die als Teilhaber der postkolonialen Ausbeutung sich die Meinung ihrer eigenen Herren immer offener zueigen machen.“ Erfülle sich seine Erwartung, beginne „tatsächlich vor unseren Augen eine alle Bereiche des Lebens umwälzende neue Ära der Weltgeschichte“.

Auch wer diesen Optimismus nicht teilt oder lieber weiter das Alte hätte, muß zugeben: Ja, es wäre eine neue Ära.

Der Text wurde erstmals im Juli 2022 publiziert. Am Tage seiner Neuveröffentlichung, dem 14. Februar 2025, überschrieb die „Frankfurter Allgemiene Zeitung“ einen Beitrag über Rekationen auf Donald Trumps „Ansagen zum Ukraine-Krieg“ nach dessen Gespräch mit Wladimir Putin mit „Eine zweite Zeitenwende“.