Als ein Zauberlehrling am Rad der Weltgeschichte drehte

Bemerkungen zum Ende der DDR anhand zweier Neuerscheinungen des Herbstes 1999

Von Holger Becker

Gäbe es die DDR noch, wäre dieser Krieg unmöglich. Diese schlichte Feststellung, auf Kundgebungen gegen den NATO-Überfall auf Jugoslawien mehrfach getroffen, läßt sich nicht als »Nostalgie« denunzieren. Wohl deshalb unterblieb in den Medien Polemik gegen diese Botschaft. Auseinandersetzung mit ihr hätte der Erkenntnis nur zu weiterer Verbreitung geholfen. Und wie hätte auch begründet bestritten werden sollen, daß die Existenz des deutschen Staates mit sozialistischem Anspruch immerhin für vier Jahrzehnte Frieden in Europa garantiert hat? Es war ja sogar abgemacht zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl sowie mehrfach öffentlich verkündet, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur noch Frieden ausgehen dürfe. Wie sich in diesem Jahr zeigte, als bis zu 75 Prozent der Ostdeutschen sich gegen den Jugoslawien-Krieg aussprachen, aber auch im Westen keine Begeisterung für die erste deutsche Kriegsbeteiligung seit 1945 ausbrach, formulierten Honecker und Kohl damals nach dem Willen einer großen Mehrheit der Deutschen in Ost und West – ganz zu schweigen von den Polen, Tschechen, Belgiern, Niederländern oder Franzosen, die kein Interesse daran haben konnten, daß quasi über Nacht und ohne wirkliche andere Garantien jener Nachkriegsordnung der Garaus gemacht werde, die auch in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges gehalten hatte.

Inszenierung eines „Parteiputsches“ durch Vollgorbatschowisten: Demonstration vor dem Haus des SED-Zentralkomitees am 3. Dezember 1989. Die Krenz-Riege trat an diesem Tag zurück und SED und DDR waren praktisch führungslos. Alexander Schalck-Golodkowski immerhin hatte im November den vernünftigen Vorschlag gemacht, Egon Krenz solle gemeinsam mit Helmut Kohl in Warschau die Grenzöffnung als gemeinsame Entscheidung von DDR und BRD vorstellen
Foto: ADN-Zentralbild, Gabriele Senft, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1203-016 / CC-BY-SA 3.0

Der Katalog der Konsequenzen aus dem Verschwinden der DDR ist umfangreich. Und nicht nur ehemalige DDR- Bürger machen ihre Erfahrungen. Auch die Westdeutschen müssen mehr und mehr einsehen, daß seit 1989 die Zeiten eines Schaufensterkapitalismus, der aus Gründen der sozialen Konkurrenz mit dem alternativen System vielfältige soziale Kompromisse eingehen mußte, vorbei sind. Fragen nach den Gründen für das Verschwinden der DDR, mehr aber noch nach den Hintergründen und tatsächlichen Abläufen der »Wiedervereinigung« werden deshalb trotz wachsenden zeitlichen Abstands nicht leiser, sondern lauter werden und die derzeitigen offiziösen bzw. parteipolitisch gefärbten Geschichsbilder in Zweifel ziehen.

Mit fast allen interessengeleiteten Tabus brechen da jetzt schon Eberhard Czichon und Heinz Marohn, die mit ihrem Buch »Das Geschenk. Die DDR im Perestroika- Ausverkauf« den Ursachen für das Ende der DDR nachspüren – im Allgemeinen wie im Speziellen. Im Allgemeinen, das sei gleich gesagt, erscheint mir ihre Schrift als inkonsequent. Den letztlich blutigen Witz, den sich die Weltgeschichte erlaubte, indem das neue, höhere Gesellschaftssystem ausgerechnet in einem bitter rückständigen Riesenland ins Leben trat, das dann die Führerschaft der kommunistischen Bewegung beanspruchte und seine Verhältnisse zum notfalls brachial durchgesetzten Modell erhob, würdigt dieses Buch nicht gebührend. Aber auch ein Stalin erklärt sich ebensowenig aus sich selbst heraus, wie sich die Defizite an materieller Produktivität und sozialistischer Demokratie, die letztlich die Niederlage des sozialistischen Lagers bewirkten, nur aus den Folgen des Stalinschen Wirkens erklären lassen. Die DDR, so stellen die Autoren selbst fest, »blieb trotz aller staatlichen Souveränität grundsätzlich ökonomisch und militärisch und damit auch weitgehend politisch abhängig von der UdSSR«. Furios ist ihr Buch aber im Speziellen, dort nämlich, wo es äußerst materialreich nachweist, wie sich diese Abhängigkeit seit dem Machtantritt Michail Gorbatschows als KPdSU-Generalsekretär 1985 auswirkte.

Gorbatschow, so stellen sie fest, war nicht in der Lage, die historische Aufgabe zu bewältigen, per Reform die Krise zu meistern, in der die Sowjetunion und das sozialistische Lager steckten. Seine »Perestroika«-Politik sei voluntaristisch und spontan gewesen und »grundsätzlich im alten Stalinschen Leitungsstil der internen Stabsarbeit des ZK-Apparates befangen« geblieben. Er habe trotz der »Glasnost«-Propaganda keine Debatte in der sowjetischen Öffentlichkeit und der KPdSU über seine Reformvorstellungen zugelassen. Schon gar nicht habe er eine internationale Diskussion in der kommunistischen Weltbewegung gewollt. Als sich zeigte, daß die konzeptionslose »Perestroika« die Probleme nicht löste, sondern verschärfte, habe er versucht, innenpolitischer Kritik mit einem selbstinszenierten Personenkult (»Gorbi-Manie«), der aber nur im Ausland gut angekommen sei, zu begegnen.

Auf die DDR wirkte sich diese »Katastroika« (Alexander Sinowjew) verheerend aus. Zum einen bestätigte sie Honecker in seinem Starrsinn, daß mit der Politik der SED alles zum besten bestellt sei. Zum anderen suchten Gorbatschow und seine Berater angesichts der heimischen Unbill ihr Heil in neuen internationalen Konstruktionen, die jedoch ebenfalls realitätsfremd waren. Das Gerede über ein »Neues Denken« und ein »gemeinsames europäisches Haus« sowie die neue Doktrin von der Priorität »allgemeinmenschlicher Interessen« verbanden sich mit dem Rückgriff auf deutschlandpolitische Konzeptionen aus den Zeiten Stalins und Berijas. Anhand der inzwischen vorliegenden Quellen zeichnen Czichon und Marohn nach, wie Gorbatschow, die »Germanistenfraktion« um Valentin Falin und Nikolai Portugalow sowie die KGB-Führung die Diskussion um die DDR als »Faustpfand« wieder aufnahmen. Ihren »Freunden« und »Brüdern« in der DDR allerdings sagten sie davon nichts – mit Ausnahme von Markus Wolf, der darüber in Moskau sowohl mit den »Germanisten« wie hochrangigen KGB-Vertretern sprach. Doch Wolf teilte diese Tatsache erst 1991 mit. Noch im Sommer 1989 hatte er sie in einem Gespräch mit Egon Krenz verschwiegen, obwohl der ausdrücklich nach Wolfs Meinung über die Situation in der DDR fragte – worauf Krenz in seinem neuen lesenswerten Buch »Herbst ‘89« ausführlich eingeht. Er erinnert dort an den Umstand, daß die DDR unter Walter Ulbricht noch eine »linke Option für die Vereinigung« gehabt hatte, die in der 1968 angenommenen DDR-Verfassung verankert war. »Sie wurde durch Moskauer Vorgaben verändert«, schreibt Krenz. Es sei die Moskauer Führung gewesen, wobei Honecker den sowjetischen Standpunkt vertrat, die 1971 durchsetzte, die Theorie von den »zwei deutschen Nationen« auszuarbeiten.

Honecker jedenfalls, den durchaus Signale der neuen Moskauer deutschlandpolitischen Diskussionen erreichten, konnte sich nicht vorstellen, daß die Sowjetunion ihren bislang wichtigsten Verbündeten fallenlassen würde. Czichon und Marohn bewerten das falsche Spiel der sowjetischen Führung als »Verrat«. Allerdings wäre es auch falsch, in Gorbatschow eine Art »Vorkämpfer« der deutschen »Wiedervereinigung« zu sehen, als den er sich auch in seinem jüngsten Buch – es trägt den kolossal anspruchsvollen Titel »Wie es war. Die deutsche Wiedervereinigung« – darzustellen versucht. Vielmehr ging es der Ende der 80er Jahre hoffnungslos in innenpolitische Widersprüche verstrickten »Perestroika«-Gang – die Läden selbst in Moskau leerten sich mehr und mehr – um einen ökonomischen Befreiungsschlag, bei dem sie auf den westdeutschen Staat als ökonomisch potentesten in Europa setzte. Die DDR, die in Notzeiten die Futterstellen der Moskauer Hochnomenklatura mit Kartoffeln hatte beliefern müssen, sollte dabei als Verfügungsmasse im Poker dienen.

Aus der Darstellung von Czichon und Marohn läßt sich entnehmen, wie den Zauberlehrlingen auch dieses Spiel mißriet. Das Einverständnis der Gorbatschow-Führung zur Grenzöffnung in Ungarn und der folgenden Massenflucht von DDR-Bürgern hatte Honecker zwar weitgehend paralysiert, doch die Riege um Egon Krenz und Günter Schabowski, die dann Honecker stürzte, entsprach nicht dem Kreml-Wunsch nach Installation einer DDR-Führung, die bedingungslos den Willen der Moskauer Konfusionäre erfüllte. Auch Czichon und Marohn lokalisieren das Aktivitätszentrum der schleunigen Krenz-Demontage im »Freundeskreis Markus Wolf«, bei der »neuen Opposition« in der SED, wie es unsere Autoren nennen. Kurz streifen sie auch die mögliche Rolle der KGB-Sonderstruktur »Lutsch« in jenen Tagen des gezielt gesteigerten Drucks gegen die Krenz-Mannschaft, die es so – aber auch aufgrund eigener Fehler – nicht vermochte, Vertrauen bei den massenhaft unzufriedenen bzw. verunsicherten DDR- Bürgern zu erringen. Doch mit der Grenzöffnung am 9. November – auch sie war letztlich Ergebnis beständiger Druckerzeugung – lief den Moskauern die Sache aus dem Ruder (was Markus Wolf übrigens sofort begriff, und er begrub seinen Plan, SED-Generalsekretär zu werden).

Egon Krenz kann in seinen Notizen über den 9. November glaubhaft machen, daß es seine Entscheidung war, die in dieser Nacht ein Blutvergießen verhinderte. Als nach Günter Schabowskis berühmter Pressekonferenz in Berlin Massen zu den Grenzübergangsstellen strömten, habe er Erich Mielke und Heinz Keßler, die seine Meinung teilten, gesagt: »Hoch mit den Schlagbäumen!« Vielleicht war Alexander Schalck-Golodkowski der einzige, der in diesem Moment die Chance begriff. Krenz schreibt, Schalck habe ihm an jenem Abend vorgeschlagen, noch in der Nacht nach Warschau zu fliegen, wo sich gerade Helmut Kohl aufhielt. Gemeinsam mit Kohl solle er dann auf einer Pressekonferenz die Grenzöffnung als gemeinsame Entscheidung der Regierungen beider deutscher Staaten begründen. Doch Krenz gesteht jetzt ehrlich ein, er habe dazu nein gesagt. Er habe nicht den Eindruck bei Gorbatschow verstärken wollen, »wir spielen gemeinsam mit der BRD die deutsche Karte«.

Die »deutsche Karte« spielte dann ein saukluger Helmut Kohl. Mit voller Kraft und klarem Programm ging er allerdings erst ans Werk, nachdem er begriffen hatte, daß die fundamentalgorbatschowistische »neue Opposition« mit ihrem »Sturm auf das Große Haus«, der zum Rücktritt des SED-Politbüros und des SED- Zentralkomitees führte, vor allem eines bewirkte: In der DDR lag die Macht auf der Straße. Es gab keine Kraft, die eine souveräne DDR in dieser Situation eines welthistorischen Rückzugs in einen Prozeß selbstbestimmter und schrittweiser Vereinigung mit dem anderen deutschen Staat hätte führen können. So rächte sich auch der mit der Ablösung Ulbrichts auf Druck Moskaus vollzogene Kurswechsel. »Wir haben zu früh die deutsche Frage als abgeschlossen aus der Hand gegeben, anstatt sie für linke Visionen offenzuhalten«, meint Egon Krenz. Czichon und Marohn beschreiben haarklein und mit bisher nicht gesehener Quellenfülle den Prozeß des schließlich folgenden »Notverkaufs« (Wolf Biermann) der DDR, den Kohl mit Gorbatschow aushandelte – vor allem in präziser Abstimmung mit der US-Administration, die ihre große Chance längst begriffen hatte, die Russen endlich kleinzukriegen und als einzige Weltmacht dazustehen.

Weder Egon Krenz’ Erinnerungen an den Herbst 1989 noch das Buch von Eberhard Czichon und Heinz Marohn dürften im inneren Zirkel der PDS-Führung auf Gegenliebe stoßen, da dieser sich aus Mitgliedern der damaligen »neuen Opposition« rekrutiert. Ihnen, so namentlich Gregor Gysi oder den Brüdern Brie, werfen Czichon und Marohn begründet vor, einen »Parteiputsch« inszeniert zu haben, mit dem die DDR sturmreif geschossen wurde, obwohl sie versprochen hatten, eine sozialistische DDR zu erhalten und alles besser als die alte SED-Führung und die Reformer um Krenz zu machen. Mit ihrer Konzeptionslosigkeit seien sie ihrem Idol aus Moskau sehr nahe gekommen.

Eberhard Czichon/Heinz Marohn: Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf. PapyRossa Verlag, Köln 1999, 547 Seiten, DM 48

Egon Krenz: Herbst ‘89, Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 415 Seiten, DM 39,80

Erstmals veröffentlicht 1999