„Liebesgrüße von der Newa“
Aus Harald Wessels Memoiren „Doppelt befreit“: Über das Jahr 1987, eine Kur in der Hohen Tatra und Gründe des Konflikts der DDR-Führung mit Gorbatschow
„Kuriositäten“-Kalender 1987

Foto: ADN-ZB Rainer Mittelstädt, Bundesarchiv, Bild 183-1987-0704-037/ CC-BY-SA 3.0
1 Januar: Am Neujahrsabend gibt ein Festkonzert im Schauspielhaus am Ostberliner Platz der Akademie den Auftakt zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin. Vor der Freitreppe werden Margot und Erich Honecker von Darstellern in Altberliner Trachten mit Blumen begrüßt. Dazu tönen Posaunen von den Türmen. Zur gleichen Zeit weist die Jahresplanung der DDR-Medien für 1987 „weiße Flecken“ auf: Kremlchef Michail Gorbatschow läßt nach wie vor offen, ob bzw. wann er zur 750-Jahr-Feier nach Berlin kommen will.
Anfang Januar: Nachdem die ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) am Abend des 31. Dezember 1986 als „des Bundeskanzlers Neujahresansprache 1987“ eine TV-Rede ausgestrahlt hat, an deren Ende Bundeskanzler Helmut Kohl (Jahrgang 1930) seinen lieben Landsleuten – auch denen „zwischen Stralsund und Leipzig“ – alles Gute „für 1986“ wünschte, versucht die ARD-Leitung dem Publikum umständlich, aber vergeblich zu erklären, wie es „technisch“ passieren konnte, daß „irgend jemand“ in der TV-Sendezentrale „versehentlich“ Bänder vertauschte und die Kanzler-Neujahrsansprache vom vergangenen Jahr neuerlich auf Sendung gehen ließ. Bis auf die Jahreszahlen 1986 bzw. 1987 waren die Texte auch schwer zu unterscheiden.
16. Februar: „Die SED sucht wieder Tritt gemeinsam mit Gorbatschow, nachdem sie von dessen Welle der Offenheit und seinem Willen zur Umgestaltung sowjetischer Verhältnisse überrascht worden war.“ So kühn deutet der westdeutsche Radiosender „Deutschlandfunk“ einen von Kurt Hager gezeichneten Aufsatz, der an diesem Tage in der SED-Zeitschrift „Einheit“ erschienen ist.
6. April: Unter der Schlagzeile „Die Ära Brandt ist nicht zu Ende“ bringt das Hamburger Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ (Nr. 15/1987, Seiten 31/32) einen politischen Nachruf auf Willy Brandt – aus der Feder von Valentin Falin! Falin, von 1971 bis 1978 sowjetischer Botschafter in Bonn, fungiert nun als Chef der Moskauer Nachrichtenagentur „Nowosti“ und gilt als „deutschlandpolitischer Berater von Gorbatschow“. Brandt ist kurz zuvor vom SPD-Vorsitz zurückgetreten, weil seine Partei ihm übelnahm, daß er Margarita Mathiopoulos, „die schöne, junge und ehrgeizige Griechin ohne deutschen Paß und ohne SPD-Parteibuch“, die gerade einen CDU-Mann heiraten wollte, zur „Pressesprecherin der SPD“ erkoren hatte.
25. April: In der Gartensiedlung „Molchow 1“ nordöstlich von Neuruppin sind sowjetische Soldaten in Bungalows eingebrochen, um Nahrungsmittel und andere Wertgegenstände zu erbeuten. Als ein Anlieger-Ehepaar unerwartet mit seinem „Trabi“ vorfährt, flüchten die Marodeure, werfen aber „zur Deckung“ ihres Rückzuges eine Handgranate. Der deutsche Zivilist wird von Splittern verletzt. Da sich in der Ära Gorbatschow die Zahl der Straftaten sowjetischer Soldaten auf dem Territorium der DDR von Jahr zu Jahr erhöht hat, wird der Vorfall bei Neuruppin zum Anlaß genommen, die Strafverfolgungshoheit der DDR auch über sowjetische Militärangehörige endlich auch praktisch durchzusetzen.
22. Mai: Am Ende einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung (BRD-CDU) organisierten Studienreise durch die DDR finden sich die meisten journalistischen Teilnehmer zu einem „freimütigen Gespräch“ in der Redaktion „Neues Deutschland“ am Berliner Franz-Mehring-Platz ein. Der Westberliner RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) setzt einen angekündigten Bericht über das Gespräch kurzfristig ab. Die CDU/CSU-nahen Presseleute widerstehen der Versuchung, ein neues ND-Bonmot öffentlich zu verbreiten: „Früher hieß es: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Heute sagen wir: Von der Sowjetunion lernen will gelernt sein.“
28. Mai: Während im Ostberliner Palasthotel die zur „turnusmäßigen Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages“ anwesenden Partei- und Staatschefs des Ostblocks zu einem Festkonzert „aus Anlaß der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin“ ins Schauspielhaus aufbrechen, landet auf dem Roten Platz in Moskau der westdeutsche Sportflieger Michael Rust mit einer Cessna-172 – unbemerkt und unbehelligt vom sowjetischen System der Luftkontrolle und Luftverteidigung. Rust hat ausgerechnet am „Tag der sowjetischen Grenztruppen“ die (einseitig auf große Höhen eingestellte) Radar-Überwachung unterflogen.
Kremlchef Gorbatschow sieht sich am nächsten Morgen gezwungen, die Spitzengenossen der verbündeten Länder von dieser Blamage zu unterrichten – in „aufgeregter Atmosphäre“, wie es im internen Protokoll heißt. Die sowjetische Öffentlichkeit wird (trotz „Glasnost“!) erst sechs Tage später vom Desaster erfahren.
7./8. Juni: Im Zusammenhang mit drei Rock-Konzerten unmittelbar an der Mauer in Westberlin kommt es in Ostberlin nahe der „Staatsgrenze West“ zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und DDR-Sicherheitskräften. Etwa 50 junge Leute werden festgenommen.

Foto: National Archives and Records Administration
12. Juni: Unter ungewöhnlich starken Sicherheitsvorkehrungen besucht US-Präsident Ronald Reagan aus Anlaß des Berlin-Jubiläums Westberlin. Am Brandenburger Tor verlangt er nicht etwa von der DDR-Führung, sondern von „Mister“ Gorbatschow, dieses Tor zu öffnen.
13. Juni: Im Ostberliner Roten Rathaus findet (anläßlich des ND-Pressefestes) der erste und letzte Presse-Ball der Honecker-Ära statt, zu dem Honecker selbst allerdings nicht erscheint – wegen seines „gestörten Verhältnisses“ zu Journalisten und seines erklärten Widerwillens gegen „Selbstdarstellungen von Medien in den Medien“.
Mitte Juni: Innerhalb der SED-Parteiorganisationen wird dazu aufgerufen, für eine „große Volksaussprache“ vor dem XII. SEDParteitag (geplant für 1990!) „Verbesserungs- bzw. Reformvorschläge“ schriftlich einzureichen. Die Vorschläge werden eingesammelt und verschwinden später in Panzerschränken. Der Beginn der „Volksaussprache“ wird immer wieder verschoben.

Foto: Foto: ADN-ZB Rainer Mittelstädt, Bundesarchiv, Bild 183-1986-0617-038 / CC-BY-SA 3.0
18. Juni: Unter weitgehend konspirativen Umständen besucht Gorbatschows designierter KGB-Chef W. A. Krjutschkow in Dresden den „Roten Baron“ Manfred von Ardenne, um Einblick in dessen Briefwechsel mit Egon Krenz über „in der DDR angedachte Reformen“ zu nehmen.
22. Juni: DDR-Spionagechef Markus (Mischa) Wolf scheidet unvermittelt (ein Jahr vor Erreichen des Rentenalters) aus dem Ministerium für Staadtssicherheit (MfS) offiziell aus, um sich nun „seinen literarischen Interessen“ zu widmen. Tatsächlich greift er die von seinem verstorbenen jüngeren Bruder Konrad Wolf (1925 bis 1982) für einen Film „Die Troika“ angelegte Dokumentation auf, um daraus ein Buch zusammenzustellen, welches ihm gestatten wird, aus dem Zwielicht der Konspiration ins helle Licht literarischer Publizität zu treten.
25. Juni: Beginn einer ZK-Tagung der KPdSU in Moskau zu Fragen der Wirtschaftsleitung. Gorbatschows Endlosreferat läßt Inhalt und Wesen der „Perestroika“ nicht klarer, sondern eher verwirrender werden.
4. Juli: Großer Festumzug zur 750-Jahr-Feier Berlins im Zentrum der DDR-Hauptstadt. Nach einem unter Leitung von Günter Schabowski entworfenen Drehbuch sind im geschichtlichen Teil des Umzugs auch FKK-Nackte zu bestaunen. Den (sowjetischen) „Freunden“ entgeht der schöne Anblick. Schlagzeile der Springer-Zeitung „Die Welt“ (6. Juli 1987): „Diesmal jubelten die Ost-Berliner freiwillig“. Den Umzug von 42.000 Teilnehmern bei bestem Wetter nennt das Blatt einen „Cocktail aus Hollywood, Konfettiparade, Zapfenstreich, Bayreuther Pomp, Kölschem Karneval… und die halbe deutsche Geschichte“.
6. Juli: Bundespräsident Richard von Weizsäcker beginnt einen mehrtägigen Staatsbesuch in der UdSSR. Moskau hat den Bundespräsidenten und nicht den Bundeskanzler eingeladen, weil Gorbatschow Helmut Kohl (trotz eines Dementis) immer noch übelnimmt, daß der ihn im Oktober 1986 in einem Newsweek-Interview mit Josef Goebbels auf eine Stufe gestellt hat. Von Weizsäcker läßt vor der Reise durchblicken, er werde nicht als Kohls „Sühneprinz“ zu Gorbatschow reisen. Auch distanziert der Bundespräsident sich in einem Vortrag an der Harvard-Universität von Reagans Formel, die UdSSR sei ein „Reich des Bösen“.
21. Juli: Bei einem Kurzaufenthalt in Prag wird dem ND-Redakteur Harald Wessel das neuste Geraune der dortigen „Onkel“ (KGB-Residenten) zugetragen: Gorbatschow werde Honecker diesmal in die BRD reisen lassen, aber danach müsse Schluß sein mit dem Saarländer.
17. August: Im alliierten Kriegsverbrecher-Gefängnis in (West) Berlin-Spandau wird der 1946 in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilte Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (Jahrgang 1894) tödlich stranguliert aufgefunden; da der Fundort kurz darauf abbrennt, kann die Frage „Mord oder Selbstmord?“ nicht zweifelsfrei geklärt werden.
25. August: Zu Erich Honeckers 75. Geburtstag bringen auch wichtige westdeutsche Medien größere Beiträge – teils wohlwollender Art, zumindest aber sachlich kritischer Natur. Besonders angetan ist Honecker von seinem fotografischen Konterfei in der Kunstdruckbeilage der FAZ vom 22. August 1987 und dem dazu gehörenden ganzseitigen Artikel „Kommunist seit frühester Jugend/Erich Honecker wird 75“ aus der Feder des Berliner FAZ-Korrespondenten Peter Jochen Winters. Angenehm überrascht zeigt Honecker sich von der Tatsache, daß der ungeliebte „Spiegel“ (Heft 35/1987 vom 24. August 1987, Seiten 34 bis 46) einen längeren politisch-biografischen Aufsatz des saarländischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine zu Honeckers Geburtstag veröffentlicht hat – Titel: „Er läßt auch fünfe gerade sein“.

27. August: In Ostberlin und Bonn wird zeitgleich das SED/ SPD-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ der Öffentlichkeit übergeben. Das Papier, von der SPD-Zeitschrift „Vorwärts“ „eine Prise Glasnost in der DDR“ genannt, findet im Osten weit mehr Interesse als im Westen. Namentlich innerhalb der SED wächst Diskussionslust und werden Diskussionsfreiräume kurzzeitig erweitert.
5. September: Die SPD-Wochenzeitschrift „Vorwärts“ erscheint mit einem schönen farbigen Honecker-Porträt auf dem Titel. Günter Gaus wagt (Seite 9) einen futuristischen Blick auf die „deutsch-deutschen Beziehungen im Jahr 2000“, mit dem er (wie sich zeigen wird) ziemlich falsch liegt. Und Udo Lindenberg (Seite 10) verspricht ein „Ständchen für Erich“ – auf der Schalmei, die Honecker ihm geschickt hat. Von Helmut Kohl möchte Udo Lindenberg zur Friedensschalmei eine Friedensharfe geschenkt haben.
7. bis 11. September: Offizieller Besuch des SED-Generalsekretärs und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland mit Aufenthalten in Bonn, Köln, Düsseldorf, Wuppertal, Essen, Trier, Saarbrücken, Neunkirchen und München.
11. bis 13, September: Pressefest der DKP-Zeitung Unsere Zeit in Duisburg mit fast einer halben Million Besuchern. Am Rande des Festes übergibt ein Vertreter der Bonner Sowjetbotschaft einem DKP-Funktionär eine Liste mit unzähligen Namen sowjetischer „Lektoren“, die im Oktober anreisen würden, um anlässlich des „70. Jahrestages der Siegreichen Sozialistischen Oktober-Revolution“ allenthalben in der Bundesrepublik über „Das Projekt Zukunft“ zu referieren (siehe UZ vom 17. Oktober 1987, Seiten 6/7). Wer trägt die Kosten dieser PR-Kampagne zugunsten der „Urenkel der russischen Oktoberrevolution“?

Foto: ADN-ZB Rainer Mittelstädt, Bundesarchiv, Bild 183-1987-0916-030 / CC-BY-SA 3.0
16. September: Der polnische Partei- und Staatschef Jaruzelski kommt überraschend nach Ostberlin. Während des Honecker-Besuches in der BRD hatte die polnische Presse erstaunlich ungeniert polnische (und damit auch Moskauer) Vorbehalte gegenüber einer deutsch-deutschen Verständigung artikuliert. Dabei waren die wirtschaftlichen Vorteile der DDR herausgestellt worden. Und man hatte daran erinnert, daß Polen 1953 „in Abstimmung mit Moskau“ auf weitere Reparationen aus der DDR verzichtet habe.
17. September: In einem Bericht der Zeitung „Die Welt“ wird der ND-Leitartikel zum Honecker-Besuch „Ein Erfolg der Politik der Vernunft und des Realismus“ vom Vortage spekulativ gedeutet: „Indirekte Vorhaltungen gegen Honecker im SED-Blatt ‚Neues Deutschland’/Furcht vor Wiedervereinigungs-Debatte/Kommentar zielt auf Beruhigung Jaruzelskis“. Tatsächlich löst der Honecker-Besuch in der DDR weniger eine „Wiedervereinigungsdebatte“ als einen Massendiskurs über Reisefreiheit aus. Die DDR-Bevölkerung ist (und bleibt!) mehrheitlich darüber enttäuscht, daß Honeckers offizieller Besuch in Bonn keine generellen Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger in die BRD gebracht hat.
26./27. September: Ein Treffen Kanzler Kohls mit CSU-Chef Franz Josef Strauß soll Divergenzen ausräumen, die beim Honecker-Besuch kaum kaschiert werden konnten: Strauß setzt seit einigen Jahren eindeutig auf die deutsch-deutsche Option und hatte sich in diesem Sinne mehr vom deutsch-deutschen Gipfel versprochen, beispielsweise eine hinreichende westdeutsche Beteiligung an den für die DDR unerschwinglichen Kosten der Westreisen von DDR-Bürgern. Immerhin rechnet man für 1987 mit rund fünf Millionen Reisen von DDR-Bewohnern in die Bundesrepublik; und nicht alle Reisenden haben Verwandte im Westen, die sich an den Kosten beteiligen
Anfang Oktober: In Moskau gerät die Kremlführung über die Entwürfe des Gorbatschow-Referates zum bevorstehenden 70. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution in einen beklemmenden „Geschichtsstreit“: Man kann sich weder dazu aufraffen, die „Schwarzen Löcher“ der sowjetischen Geschichtsschreibung (Stalins Terror, Hitler-Stalin-Pakt, Katyn, Auflösung der Komintern usw.) offen anzugehen, noch dazu durchringen, die angemaßte Deutungshoheit der KPdSU-Führung über die Geschichte aufzugeben und sie kompetenten Historikern zuzubilligen. Gorbatschows Referat bleibt denn auch sogar hinter den „Enthüllungen“ des XX. Parteitages der KPdSU von 1956 zurück.
6. Oktober: Das KPdSU-Zentralorgan „Prawda“ veröffentlicht zum DDR-Gründungstag eine von „Neues Deutschland“ gestaltete Sonderseite mit einem geschichtlichen Bildbericht über die berühmte Lenin-Reise „im plombierten Wagen“ im Frühjahr 1917 von der Schweiz durch Deutschland nach Rußland. In diesem Geschichtsreport (Kurzfassung einer dreiteiligen ND-Reportage von Harald Wessel) wird Willi Münzenberg als enger Freund Lenins vorgestellt, sodaß die Prawda erstmalig nach über fünfzig Jahren den von Stalin zur Unperson erklärten deutschen Kommunisten (positiv) beim Namen nennt. Es sollte die einzige Münzenberg-Erwähnung in sowjetischen Medien der Ära Gorbatschow bleiben.
8. Oktober: In Nr. 41/87 der Moskauer „Hefte für Politik/ Neue Zeit“ läßt Gorbatschow-Berater Valentin Falin unter dem Titel „Warum gerade 1939?“ einen weiteren langen Aufsatz zum Hitler-Stalin-Pakt veröffentlichen. Obgleich Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt Einblick in die „strengst geheimen“ Papiere des Sonderarchivs des KPdSU-Generalsekretärs genommen hat, versucht Falin den HitlerStalin-Pakt weiterhin mit geostrategischen Gründen zu verteidigen und verliert kein Wort über die verheerende Wirkung dieses „Paktes mit dem Teufel“ auf die internationale antifaschistische und linke Bewegung – Willi Münzenberg im Herbst 1939: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“
11. Oktober: Uwe Barschel (CDU), Ex-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, wird – nach undurchsichtigen politischen Auseinandersetzungen und einem falschen „Ehrenwort“ – in der Badewanne eines Genfer Hotels tot aufgefunden. Hat er sich selbst getötet oder wurde er umgebracht?
13. Oktober: Gegen 12.30 Uhr ruft der Ostberliner Sowjetbotschafter Kotschemassow bei Egon Krenz an und bittet ihn, Honecker folgende Botschaft von Gorbatschow zu übermitteln: Das, was der Leningrader „Ingenieur Pawlow“ am 5. Oktober für die „Fernsehbrücke Leningrad-Mainz“ erklärt habe und am heutigen Abend im ZDF gesendet werde, seien „unreife Äußerungen“, die die sowjetische Führung „ablehne“. Krenz nimmt die Mitteillung entgegen und diktiert sogleich eine Hausmitteilung an Honecker.
Am Abend ist „Ingenieur Pawlow“ im ZDF mit dem Wunsch zu vernehmen, „daß sich Deutschland so schnell wie möglich wiedervereinigt“. In der Fassung der „Fernsehbrücke“, die das sowjetische Publikum zu sehen bekommt, sind des „Ingenieurs Pawlow“ Sehnsüchte nach einem „wieder vereinigten, starken Deutschland“ gestrichen.
Weder Krenz noch Honecker verlangen offenbar von Kotschemassow in Berlin (oder per Telefon von Gorbatschow), daß sich die sowjetische Führung nicht nur intern, sondern auch und vor allem öffentlich von den „unreifen Äußerungen“ des „Ingenieurs“ distanziert.
15. Oktober: Ernst-Otto Maetzke kommt in der FAZ auf die Fernsehbrücke zurück. Daß Pawlows Wunsch („Wir wünschen jedenfalls, daß Deutschland so schnell wie möglich wiedervereinigt wird“) im „verkürzten Zusammenschnitt der Veranstaltung“ mit Moskauer Zustimmung „verblieben war, darf als Politikum gelten“! Honecker aber schweigt weiter zu diesem unglaublichen Vorgang. .
21. Oktober: Auf der ZK-Tagung der KPdSU in Moskau brechen die Widersprüche offen aus. Jelzin beteiligt sich nicht an der Instrumentalisierung von Geschichte für aktuelle politische Zwecke, sondern macht Parteichef Gorbatschow für die zunehmend miserabele Versorgungslage in der UdSSR verantwortlich. Gorbatschow sichert sich durch „ideologische“ Zugeständnisse an den „konservativen“ Ligatschow eine ZK-Mehrheit zur „Verurteilung“ von Boris Jelzin. Da es auch dem neuen KPdSU-Generalsekretär an integrativer Führungskraft fehlt, wird der Streit Mitte November zur Absetzung Boris Jelzins führen – Machtkampf und Amtsenthebung in einem durchaus neostalinistischen Stil.
23. Oktober: Honecker läßt nun plötzlich über den in der SED-Führung für Medien zuständigen Joachim Herrmann (1928 bis 1992) um „Vorschläge“ bitten, „wie wir auf die Provokation im ZDF reagieren wollen“.
26. Oktober: Honecker lehnt den Entwurf eines Kommentars „Liebesgrüße von der Newa“ zur Fernsehbrücke „Mainz-Leningrad“ (in dem die „deutsche Frage“ als eine Angelegenheit bezeichnet wird, „die vor allem die Bürger der beiden deutschen Staaten zu entscheiden haben“) als „defensiv“ ab und sagt: „Wir schlagen den Sack und meinen den Esel. Wir nehmen uns den Schewardnadse-Film vor, der in der Fernsehbrücke lief.“ Das müsse noch vor seiner (Honeckers) Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten (zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution) geschehen.
Mit dem „Schewardnadse-Film“ ist die vom georgischen Regisseur Tengis Abuladse (1924 bis 1994) geschaffene Filmallegorie „Die Reue“ gemeint, die wegen ihrer Kritik am Säuberungsterror der Stalin-Zeit von Eduard Schewardnadse (georgischer Innenminister und Chef der georgischen KP zwischen 1965 und 1985, unter Gorbatschow zeitweiliger sowjetischer Außenminister) zunächst zurückgehalten und dann als „Glasnost-Ikone“ hoch gelobt wurde. Der sowjetische Filmverleih setzt „Die Reue“ vor allem im Ausland als Devisenbringer ein; die deutschen Synchronisationsrechte wurden vom ZDF gekauft.
28. Oktober: In der FDJ-Tageszeitung „Junge Welt“ erscheint unter dem Titel „Kunst und Geschichtsbewußtsein“ (von Hans-Dieter Schütt) eine – sicherlich „von oben“ angeregte und „abgesegnete“ – politische Polemik gegen den Abuladse-Film „Die Reue“.
31. Oktober: Im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ erscheint (nach tagelangem Hickhack) der Artikel „Wie die Geschichte befragen?“ (von Harald Wessel) – eine von Honecker via Herrmann amputierte „philosophische Betrachtung“ zum Film „Die Reue“.
In westdeutschen und anderen westeuropäischen Medien wird der ND-Artikel allerdings als Ausdruck eines „gewachsenen Selbstbewusstseins der DDR-Führung gegenüber Moskau“ gewertet. In der DDR selbst macht er nachhaltigen Wirbel: ND empfängt rund 600 Briefe von Lesern, die teils gegen, teils für die verkappte Kritik an Gorbatschow sind.
4. November: Im Vieraugengespräch mit Gorbatschow sagt Honecker: „Der Aufruf von Leningrad zur Wiedervereinigung ist ein Skandal.“ Der SED-Chef verlangt aber auch jetzt keine öffentliche sowjetische Erklärung; daß die deutsche Frage vor allem eine deutsch-deutsche Angelegenheit ist.
In seiner Rede auf der Moskauer Festveranstaltung zum 70. Revolutionstag unterläßt Honecker sogar jede Anspielung auf die (seit Monaten intern erhobene) Forderung, das Moskauer Komintern-Archiv allen ehemaligen Komintern-Parteien zugänglich zu machen. Honecker nimmt die Chance von Gorbatschows schöner Selbstbestimmungserklärung („Sinatra-Doktrin“ statt „BreshnewDoktrin“) nicht wahr und verspielt damit jeden essentiellen Einfluß der SED auf die kommenden Ereignisse.
6. November: In einem Kommentar unter der Überschrift „Honecker: selbstbewußt“ auf der zwölften Seite der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ (FAZ) schreibt der FAZ-Mitherausgeber Johann Georg Reißmüller: Honecker „erinnert den sowjetischen Generalsekretär sogar daran, daß es die SED war, die 1983, im östlich-westlichen Raketenfieber, Moskau zu Verhandlungen mit dem Westen drängte. Noch nie war Honecker so selbstsicher.“

7. Dezember: Treffen Reagan/Gorbatschow in Washington zur Unterzeichnung eines Abkommens „über die vollständige Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen“, des „Teufelszeugs“ (Honecker), um das der fast „siebenjährige Krieg“ zwischen der SED- und der Kremlführung vor allem ging.
19. Januar 1988: Nahe Forstzinna bringt ein auf die Geleise der Deutschen Reichsbahn der DDR gefahrener, dort steckengebliebener und von seiner Besatzung verlassener schwerer Panzer der Sowjetarmee einen voll besetzten Personenzug zum Entgleisen. Erstmalig wird über eine solche, von den „Freunden“ verursachte Katastrophe (mit zahlreichen Toten und Verletzten!) in den DDR-Medien offen und ausführlich berichtet.
„Die Onkel“ als Auguren?
Das Jahr 1987 war zu brisant, um es auf ein Kalendarium zu reduzieren. Kulminationspunkt des Jahres bildete zweifellos Erich Honeckers Ausflug in den anderen deutschen Staat. Könnte man diese „in die Geschichte versunkene“ „Haupt- und Staatsaktion“ – dem momentanen medialen „Mainstream“ zuliebe, also aus schnödem Opportunismus – einfach weglassen? Man könnte, doch es wäre sträflich. Würde ich die Sache übergehen, blieben auch die verblüffenden und seltsamen Begleiterscheinungen außen vor, die der Honecker-Kohl-Begegnung in Bonn 1987 ein besonderes Odium und Fluidum gegeben haben.

ADN-ZB Peter Zimmermann, Bundesarchiv, Bild 183-U0321-0032 / CC-BY-SA 3.0
Und überhaupt: Honecker kam schließlich – zum Hausbesuch bei Friedrich Engels in Barmen – auch ins schöne Tal der Wupper, nach Wuppertal also, in jene Stadt, die ganz nebenbei der Ort meiner Geburt und Kindheit gewesen ist. Da fühlen wir uns legitimiert, mal wieder weiter auszuholen, genüßlich abzuschweifen und (zeitlich auf das Jahr 1987 vorausgreifend) mehr in die Details zu gehen, in denen bekanntlich „der Teufel steckt“.
Am 9. März 1987 hatte Dr. H. Barthelmes, Oberarzt an der Hautklinik der Berliner Charité, mit einer ausführlichen dermatologischen Begründung den Antrag gestellt, dem „Herrn Dr. Wessel“ nach zehnjähriger Pause wieder einmal eine Heilkur im Ostseebad Heiligendamm zu bewilligen. Dem Antrag „konnte“ nicht entsprochen werden. Als Ersatz wurde mir eine Kur (vom 21. Juli bis 18. August 1987) im Sanatorium Helios in Strbske Pleso im slowakischen Teil der Hohen Tatra angeboten. Ich nahm das Angebot an, weil beim Prager Verlag Prace gerade (am 24. Juni 1987) die tschechische Übersetzung meines Buches über John Reed „Roter Reporter aus dem Wilden Westen“ erschienen war.
Bei der Zwischenlandung auf dem Prager Flughafen am 21. Juli 1987 traf ich Jan Hruska, den rührigen und „kongenialen“ Übersetzer. Wir zogen zum Verlag Prace, um mein Honorar abzuholen. Bis zum Weiterflug nach Poprad, in die Hohe Tatra saßen wir in einem Prager Café. Aufgeregt flüsterte Jan mir eine „Neuigkeit“ zu: Die „Onkel“ (so nannte man in der CSSR die vor Ort operierenden sowjetischen Geheimagenten) hätten jüngst eine vertrauliche „Weisung“ von Michail Sergejewitsch Gorbatschow an KGB-Chef Viktor Michailowitsch Tschebrikow kolportiert: „Diesmal lassen wir den Saarländer offiziell in seine Heimat reisen; danach aber muß Schluß sein, dann wird es für ihn nur noch Rentnerreisen geben.“
„Was hat die neue Moskauer Führung gegen Erich Honecker“, wollte Jan wissen. Ich zuckte mit den Schultern: „Es wird viel geredet in solchen Zirkeln.“ Mit einer salomonischen, aber anzüglichen Redensart verabschiedeten wir uns am Flugplatz: „Gott gibt es, Gott nimmt es.“ Was so viel heißen sollte wie: „Was eine höhere Gewalt uns gegeben hat, das kann sie uns auch wieder wegnehmen.“ Das galt für Führungskräfte ebenso wie für materielle Dinge.
Medizinisch war die „Hochgebirgskur“ in Strbske Pleso wenig hilfreich. Es gab kaum sonnige Tage. Der Sauerstoff der Bergwälder allein machte keinen Effekt. Meine Haut „vermißte“ die Aerosole vom Ostseestrand in Heiligendamm. Allerdings hatte ich bei einsamen Wanderungen in der Hohen Tatra hinreichend Gelegenheit, über die „Prager Neuigkeit“ nachzudenken. Was war dran am Gerücht aus Moskau? Taugten KGB-Leute als informelle politische Auguren? Kannten sie reale Pläne zum Sturz Honeckers? Oder sollten sie nur Gerüchte streuen, um den Saarländer vorab zu warnen, einzuschüchtern und von politischen Eigenmächtigkeiten abzuhalten? Keine Ahnung.
Das mit den Rentnerreisen für Honecker konnte jedenfalls als eine gut gezielte, durchaus ironische Drohung verstanden werden. Der gebürtige Saarländer würde am 25. August 1987 seinen 75. Geburtstag feiern. Wäre er nicht SED- und DDR-Staatschef gewesen, dann hätte er – den DDR-Gesetzen zufolge – schon seit 1977 jedes Jahr für ein paar Wochen „im Westen“ seine Verwandten besuchen können. In bezug auf die saarländische Heimat war Honecker schlechter gestellt als jeder normale DDR-Rentner. Doch alle anderen DDR-Bürger im Rentenalter (Frauen ab 60, Männer ab 65 Jahren) mußten natürlich auf solche Staatsvisiten verzichten, die dem Staatschef vorbehalten waren und ihn beinahe rund um die Erde führten.
Erich Honeckers außenpolitischer Ehrgeiz war sprichwörtlich. Jeden Staatsbesuch ließ er akurat vorbereiten. Die diplomatischen Sprachregelungen und Usancen wurden peinlich genau eingehalten. Oberstes Prinzip war: „Gleichbehandlung“. Malta wurde protokollarisch ebenso ernstgenommen wie der Vatikan, Frankreich, Spanien oder die USA. Mocambique beispielsweise wurden die gleichen diplomatischen Ehren zuteil wie Vietnam oder China.
Jedes Wort, das der „oberste Repräsentant der DDR“ in den besuchten Ländern sagte, las er von vorbereiteten Papieren ab. Da funktionierte der Saarländer wie ein richtiger Preuße.Er verkniff sich jede Nebenbemerkung oder erkennbare Gemütsregung. Und erstaunlich: Die vorgestanzten Formeln verfehlten im Ausland ihre beabsichtigte Wirkung nicht. Nie gab es eine nennenswerte Panne. Außenpolitisch war Honecker deutlich besser, als kritische DDR-Bürger 1971 befürchtet hatten. Innenpolitisch allerdings erschien die Honecker-Ära – gerade im Vergleich zu den letzten Jahren unter Walter Ulbricht – auf wichtigen Gebieten (Medien, Wirtschaftslenkung, Staatssicherheit) als eine kontinuierliche Katastrophe.

Foto: Fernshehen der UdSSR
Auf internationalem Parkett indes profitierte Honecker auch von der in Moskau andauernden „Mumiokratie“. Spätestens seit 1982, als sein Förderer Leonid Iljitsch Breshnew starb und rüde in die Grube an der Kremlmauer gelassen wurde, regierten in Moskau sterbenskranke alte Männer, von denen in sich schlüssige außenpolitische Aktivitäten nicht zu erwarten waren – geschweige denn neue Konzepte für eine friedlichere Welt oder auch nur Elemente eines „neuen Stils“.
So kam es, daß Honecker bis zum Machtantritt Gorbatschows im März 1985 zu einer Art von de-facto-Außenminister des Ostblocks avanciert war. Wollte beispielsweise der Vatikan für Katholiken in baltischen Sowjetrepubliken Erleichterungen erreichen, wandte er sich „intern“ an Ostberlin. Der Austausch von Agenten und Dissidenten auf der berühmten Glienicker Brücke (zwischen Potsdam und Westberlin) wurde ohnehin weitgehend von einem Honecker-Intimus gemanagt. Klar, daß Gorbatschow, der neue, junge „erste Mann im Kreml“, sich mit Honeckers Sonderrolle nicht abfinden wollte.
Seit es die DDR gab, hatte jede Kreml-Führung besonders die deutsch-deutschen Kontakte, Gespräche und Verhandlungen mit Argusaugen überwacht. Moskau unternahm in all den Jahren zwischen 1949 und 1990 beträchtliche Anstrengugen, um die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten unter strenger Kontrolle zu halten. Eine Vorstellung vom personellen Aufwand solcher Überwachung des jungen „Bruderstaates“ hatte ich schon 1952 in Berlin gewinnen können. Vom DDR-Ministerium für Volksbildung (an der Ecke Unter den Linden/Wilhelmstraße) aus ließ sich der Bau der neuen Sowjetbotschaft an der früheren „Prachtstraße“ Unter den Linden gut beobachten. Unter unseren Augen entstand damals – inmitten all der Kriegsruinen – am ehemaligen „Königsweg von Berlin“das vermutlich größte und prunkvollste Diplomaten-Domizil der Welt.
Aus dem Büro von Else Zaisser (1898 bis 1987) … hatte ich damals das Gerücht gehört, zur Einweihung der Botschaft am „35. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (7. November 1952) werde Stalin persönlich nach Berlin kommen. Er kam aber nicht – wie schon im Vorjahr, als seine Teilnahme an den „III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten“ (vom 5. bis 19. August 1951 in Berlin) ohne Begründung ausgefallen war. Meiner Erinnerung nach wurde das neue Botschaftsgebäude zum 3. Jahrestag der DDR-Gründung (7. Oktober 1952) im Rahmen eines Staatsbesuches vom damaligen formellen sowjetischen Staatsoberhaupt Nikolai Michailowitsch Schwernik (1888 bis 1970) eingeweiht.

Foto: ADN-ZB Peter, Heinz Junge, Bundesarchiv, Bild 183-23200-0001 / CC-BY-SA 3.0
Mit der weiträumigen Botschaftsanlage verfügte die Moskauer Führung von nun an über drei Kontrollzentralen in der DDR: erstens „Karlshorst“ (abgesperrter Stadtteil im Osten von Berlin, u. a. mit der aufwendigsten KGB-Niederlassung außerhalb der UdSSR), zweitens „Wünsdorf“ (Kommando-Zentrale der sowjetischen Streitkräfte „in Deutschland“; auf dem Gelände der ehemaligen Heeresführung der Deutschen Wehrmacht) und drittens eben die „diplomatische Vertretung“ Unter den Linden. Erst 1983, als Erich Honecker in Moskau die endgültige Abberufung des Sowjetbotschafters Pjotr Andrejewitsch Abrassimow („Ende gut, alles gut!“) durchzusetzen vermochte, verlor die Botschafterresidenz Unter den Linden das Odium einer penetranten Bevormundungszentrale. Abrassimow, der kaum ein Wort Deutsch verstand, hatte offenbar nichts dagegen, daß man ihn ironisch den „Sowjetgouverneur von Berlin“ oder einen „Außerordentlichen Regierenden Botschafter“ nannte.
Bundeskanzler Helmut Schmidt war vom 11. bis 13. Dezember 1981 zu einem offiziellen Besuch in der DDR (Schorfheide) gewesen. Seitdem stand die Einladung zum Gegenbesuch „im Raum“. Erst im Sommer 1984 wurden die Modalitäten einer Honecker-Reise in die BRD zwischen Bonn (wo seit 1982 Helmut Kohl Kanzler war) und Ostberlin ausgehandelt. Der gerade zum neuen Bundespräsidenten gewählte Richard Freiherr von Weizsäcker (Jahrgang 1920) begrüßte am 1. Juli 1984 in seiner öffentlichen Vereidigungsrede den bevorstehenden Honecker-Besuch ausdrücklich.
Erich Honecker selbst ging in einem Interview mit der italienischen Zeitung Il Messagero (vom 8. Juli 1984) auf den „geplanten Besuch in der Bundesrepublik“ und auf dessen friedenspolitische Bedeutung für Europa ein. Am 18. Juli 1984 wurde aus Bonn gemeldet, Honecker werde vom 26. bis 29. September 1984 in die Bundesrepublik kommen. Doch plötzlich legte sich Moskau quer. Die latenten Differenzen zwischen Ostberlin und Moskau eskalierten – wie nie zuvor! Erstmalig ließ eine sowjetische Führung in ihren Medien offen gegen die Deutschland-Politik der DDR-Führung polemisieren!
Wer sich damals die Mühe machte, die Aufsätze „Im Schatten amerikanischer Raketen“ („Prawda“ vom 28./29. Juli 1984) und „Auf falschem Weg“ („Prawda“ vom 2. August 1984) wirklich zu lesen, der konnte zu der wenig schmeichelhaften Ansicht kommen, im Kreml habe die Demenz epidemische Formen angenommen. Ich war entsetzt über die hirnrissigen Unterstellungen, über das starrsinnige Festhalten am Rüstungswettlauf mit den USA und über den Verfall des intellektuellen Niveaus sowjetischer Politik. Im Vergleich dazu kam mir der polternde Nikita Chruschtschow wie ein Riese an Denkkraft und Charakter vor.
Dieter Wolf (1932 bis 2010), mein verlässlicher Kollege und Freund, erzählte mir, Honecker habe als Antwort auf die Moskauer Polemik in jenen Tagen angeordnet, dem sowjetischen Journalisten Lew Besymenski , dessen Namen unter dem Prawda-Artikel vom 28./29. Juli stand, auf dem Flughafen in Berlin-Schönefeld die Einreise in die DDR zu verwehren. Der Abgewiesene rief (aus dem Schönefelder Transitraum) hilfesuchend Dieter Wolf (der einige Jahre DDR-Korrespondent in Moskau gewesen war) an und beteuerte, er habe den „Prawda“-Artikel gar nicht geschrieben; ohne sein Wissen sei sein Name unter den Text gesetzt worden. Wolf teilte das dem Büro Honecker mit. Nach einigem hin und her soll die ziemlich bescheuerte Einreisesperre für den Moskauer Publizisten aufgehoben worden sein.
Schon am Montag, den 30. Juli 1984, hatte Honecker auch die direkte Leitung zum Moskauer Kreml genutzt, um sich beim damaligen Partei- und Staats-Chef Konstantin Ustinowitsch Tschernenko (1911 bis 1985) über die „parteiamtliche“ Polemik im KPdSU-Zentralorgan „Prawda“ zu beschweren. Darauf hin wurde er zu einer „kameradschaftlichen Aussprache“ eingeladen.
Zur „Klärung der Meinungsverschiedenheiten“ fand am 17. August 1984 in Moskau ein Treffen Honeckers mit der sowjetischen Führung statt. Kurt Hager und Hermann Axen waren dabei – wie auch der spätere Kreml-Chef Gorbatschow. Andeutungen von Hager und Axen konnte ich entnehmen, daß Honecker vehement auf seinem Recht beharrte, offiziell in die BRD zu reisen. Der sieche Tschernenko (mit Verfügungsmacht über den Atomkoffer der Supermacht Sowjetunion) sei während der Verhandlungen bisweilen in einen Sekundenschlaf versunken. Dafür habe Verteidigungsminister Ustinow umso heftiger gegen Honecker gewettert. Ustinow und Russakow hätten jede Contenance verloren. Und Gorbatschow, zu der Zeit noch „der Benjamin“ im Moskauer Politbüro, habe Ustinow unterstützt.

Foto ADN-ZB Klaus Franke, Bundesarchiv, Bild 183-1984-0628-409 / CC-BY-SA 3.0
Das Protokoll dieser „kameradschaftlichen Aussprache“ vom 17. August 1984 ist trotz seiner eminenten historiografischen Bedeutung bis heute nicht vollständig veröffentlicht. Die bislang ausführlichste publizierte Fassung findet man bei Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Herausgeber): Die Häber-Protokolle/Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973 – 1985. Berlin 1999, Seiten 398 bis 421…
„Zum Glück“ für die gestörten Beziehungen zwischen UdSSR und DDR trat am 23. August 1984 der hessische CDU-Politiker Alfred Dregger (1920 bis 2002) mit einer (unüberlegten oder gezielt provokativen?) Bemerkung an die Öffentlichkeit, die Honecker zum Anlaß nehmen konnte, seinen Staatsbesuch in der BRD für 1984 abzusagen.
Ab März 1985, nach dem Machtwechsel im Moskauer Kreml, ging das Tauziehen um den Ausflug nach Bonn weiter. Auch Gorbatschow hielt in Sachen Honecker-Reise nicht viel von „neuem Denken“. Er speiste den SED-Chef mit dem netten Argument ab, erst müsse er (Gorbatschow) selbst in Bonn gewesen sein, bevor er (Honecker) dorthin fliegen könne. Doch 1987 war dieses konditionierte Moskauer Veto nicht mehr aufrechtzuerhalten. Gorbatschows „neues Image“ hätte unter einem solchen Veto und unter einem neuen (halb öffentlichen) Streit wie 1984 ohne Zweifel gelitten.
Wer (wie meine Wenigkeit) diesen von 1981 bis 1987 andauernden Hickhack um Honeckers Ausflug nach Bonn und ins Saarland aus ziemlicher Nähe verfolgen konnte, dem gab also die „Prager Neuigkeit“ vom Sommer 1987 durchaus zu denken. Sie war so abwegig nicht, wie man im ersten Moment hätte annehmen können. Die für den neuen Kreml-Herrn naheliegende, einfachste, aber auch radikalste Lösung des ärgerlichen Dauerkonflikts bestand in dem „großzügigen“ Konzept: „Tolerant und nachsichtig, wie wir im Zeichen von Glasnost und Perestroika nun mal sind, geben wir dem lieben Genossen Honecker jetzt Grünes Licht für seine liebste Auslandsreise, und danach sorgen wir unauffällig dafür, daß er rasch in Rente geht.“
Die momentan, gut zwei Jahrzehnte später, in Deutschland vorherrschende Historiografie erweckt den Eindruck, als sei der politische Konflikt zwischen Honecker und Gorbatschow „ganz einfach“ zu erklären: Ein „alter stalinistischer Betonkopf“ wie Honecker und ein „neuer, junger, agiler Reformer“ wie Gorbatschow hätten als einander wesensfremde politische Figuren zwangsläufig aneinandergeraten müssen. Doch in Wirklichkeit war alles weitaus komplizierter.
Wenn es unbedingt ein „stalinistischer Betonkopf“ sein muß – wie wäre es dann mit Andrej Andrejewitsch Gromyko (1909 bis 1989)? Der saß schon im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz der Siegermächte ganz nahe bei Stalin (während Honecker nach fast zehnjähriger Haft in einem Nazi-Zuchthaus noch in Berlin eine Bleibe suchte!). Und Gromyko hielt (flankiert von Ustinow) bis zuletzt hartnäckig am Aufrüstungswettstreit mit den USA fest, während Honecker sich (schon ab 1982/83) dem irrwitzigen atomaren Wettlauf mit folgenden drei Polit-Formeln zu entziehen versuchte: „Schadensbegrenzung“, „deutsch-deutsche Friedensverantwortung“ und „Teufelszeug“ (als Sammelbegriff für US-Pershing II-Raketen, sowjetische SS-20-Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen und für atomar bestückte nordamerikanische Marschflugkörper).
Zweifellos trug Erich Honecker mit dem Konzept der „Schadensbegrenzung“ (nach der Stationierung mobiler sowjetischer Mittelstrecken-Raketen in der DDR und dem NATO-Doppelbeschluß) der Friedenssehnsucht in weiten Teilen Europas Rechnung. Jedenfalls entsprach dieses Konzept dem Friedenswillen eher als das wechselseitige (reziproke!) Auftrumpfen von Gromyko und Ronald Reagan (1911 bis 2004), dem US-Präsidenten zwischen 1981 und 1989, mit immer neuen und immer mehr Massenvernichtungswaffen, die sogar im Kosmos angesiedelt werden sollten (Reagans „Krieg der Sterne“) und die besonders dicht auf den Territorien der beiden Staaten in Deutschland stationiert wurden.

Bis vor wenigen Tagen hätte ich darauf schwören können, daß Marschall Sergej Achromejew (1923 bis 1991) auf der „turnusmäßigen Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages“ Ende Mai 1987 in Berlin persönlich anwesend war. Inzwischen habe ich im ND vom 28. Mai 1987 nachgeschaut: Nicht Generalstabschef Achromejew gehörte der von Gorbatschow geleiteten sowjetischen Delegation an, sondern Gromyko, der – obwohl mittlerweile „Staatsoberhaupt“ der UdSSR – aus Altersstarrsinn immer noch dabei sein wollte, wenn es um „Rüstung und Nachrüstung“ ging. Doch insofern trog meine Erinnerung nicht: Achromejews kritischer militärpolitischer Geist dominierte bereits die Berliner Tagung.
Vereinfacht lief Achromejews „neue Militärdoktrin“ auf eine simple Erkenntnis hinaus: Da das atomare Abschreckungspotential der beiden Supermächte längst dazu ausreicht, das Leben auf unserer Erde mehrfach zu vernichten – unabhängig davon, ob die ersten nuklearen Waffen Leipzig und Ramstein oder Moskau und Washington atomisieren würden – , ist das atomare Wettrüsten der USA und der UdSSR sinnlos; man kann damit ohne Einbußen an Sicherheit sofort aufhören. Mit dieser Einsicht stand Achromejew näher bei Honecker als bei Gromyko. Und indem Gorbatschow Achromejew zu seinem „militärpolitischen Berater“ erkoren hatte, schien er – wenn auch verspätet – über das „Teufelszeug“ nun ähnlich zu denken wie der SED-Chef.
Gleichwohl stimmte die Chemie zwischen dem neuen Kremlchef Gorbatschow und dem SED-Chef Honecker von Anfang an nicht. Doch die sich schon 1985 abzeichnende Kontroverse zwischen beiden war erst einmal weniger eine Auseinandersetzung um politische Konzepte (einer veränderten Innen- und Außenpolitik der UdSSR und der DDR) als ein Streit darum, wer in der Deutschland-, Europa- und Sicherheitspolitik das Sagen haben sollte – Moskau oder Ostberlin. Wirklich neu und modern wäre es gewesen, sich jeweils in die Lage des anderen zu versetzen, die Kommunikation und Kooperation zu optimieren, unter sich ganz offen zu sein und auf gleicher Augenhöhe – „proletarisch internationalistisch“ eben – miteinander zu operieren, statt der ebenso antiquierten wie ordinären „Konkurrenz von Alpha-Tieren“ zu fröhnen.
Wie weit die „Führungsmacht“ des „sozialistischen Lagers“ im gewöhnlichen Machtkampf mit der DDR-Führung gehen würde, war im Sommer 1987 nicht abzusehen. Mir schwante allerdings, daß der Konflikt diesmal nicht nur per medialer Pression (wie 1984), sondern auch und verstärkt mit „konspirativen“, geheimdienstlichen Methoden ausgetragen werden würde (etwa wie 1965). Und in diesem Falle könnte sich Erich Honecker auf seinen „alten Kumpel“ („Erich & Erich“), den DDR-Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (1907 bis 2000) keineswegs verlassen…
Harald Wessel (1930 bis 2021) war einer der wichtigsten politischen Journalisten der DDR, Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“. Er hat umfangreiche Memoiren unter dem Titel „Doppelt befreit“ hinterlassen. Sie besitzen einen hohen zeitgeschichtlichen Wert, sind aber Fragment geblieben. Der Text des hier veröffentlichten Auszuges war im Jahr 2012 fertiggestellt.