Bildung als nationale Lebensfrage
Aus Harald Wessels Memoiren „Doppelt befreit“: Jena 1948 – Sergej Tulpanow, Marie Torhorst und die Studienzulassung der schon „Aussortierten“
Eigentlich durfte man sich als Abiturient 1948 in der SBZ nur an einer Hochschule oder Universität bewerben und zwar für ein bestimmtes Fach. Da wir aber „Anarchisten“ waren und genau wußten, wie schlecht die Bürokratie funktionierte, schickte ich nach der Reifeprüfung im Sommer 1948 gleich drei Bewerbungen los: erstens an die Forstakademie in Tharandt bei Dresden – mit dem Berufsziel Förster, zweitens an die Bauhochschule in Weimar – mit dem Berufswunsch Architekt sowie drittens an die Friedrich-Schiller-Universität zu Jena für die Fächer Biologie, Chemie oder Medizin.
Von der Forstakademie erhielt ich leider nie eine Antwort. Aus Weimar erreichte mich ein Zulassungsversprechen mit der Aufforderung, bald möglichst zu Vorgesprächen an der Hochschule zu erscheinen. Also fuhr ich Ende August 1948 nach Weimar, um mich vorzustellen und die Studienbedingungen kennen zu lernen. Zur Einführung ins Studium am ehemaligen Geburtsort des berühmten Bauhauses gehörte eine Art von „Schnupperkurs“ in Aktzeichnen. Erstmalig konnte ich eine komplett unbekleidete und überaus ansehnliche junge Frau in Ruhe betrachten. Vor lauter erotischer Faszination brachte ich kaum Kohlestriche aufs wertvolle Packpapier.
Ergiebiger war meine praktische Teilnahme an einem Schnellkurs zur Lehmbauweise, die der neue Direktor der Staatlichen Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst zu Weimar, der charismatische Professor Hermann Henselmann (1905 bis 1995) persönlich leitete. Doch dann begann eine für mich irrationale Medien-Kampagne gegen „Formalismus und Kosmopolitismus in der Kunst“, die – wie ich später begriff – Josef Stalins „junger Ideologe“ A. A. Schdanow (1896 bis 1948) in Moskau losgetreten hatte. Plötzlich wurde die von einem Team der Bauhochschule entworfene moderne Innenarchitektur des wieder aufgebauten Weimarer Nationaltheaters (wie dann der Bauhaus-Stil insgesamt!) öffentlich „ideologisch verdächtigt“. Das war mir nicht geheuer. Also ließ ich die Architektur sausen und wartete geduldig auf einen Bescheid aus Jena.
Was sich dort in der Universitätsleitung, aber auch beim Ministerium für Volksbildung der Thüringischen Landesregierung in Weimar und bei den zuständigen SMAD-Instanzen von Mitte August bis Mitte Oktober 1948 hinter den Kulissen abgespielt hat, konnte ich nie genau herausfinden. Gewählter Rektor der Friedrich-Schiller-Universität war seit dem 1. April 1948 der ebenso ehrenwerte wie namhafte Quantenphysiker Friedrich Hund (1896 bis 1997). Er hatte in Leipzig bei Werner Heisenberg (1901 bis 1976) gearbeitet. Als die Amerikaner im Sommer 1945 auch an der Pleiße Atomphysiker und andere Spezialisten einsammelten, um sie nach Westen zu verbringen, war Hund ihnen entwischt. Er hatte sich bei einem Bauern auf dem Dorf versteckt. 1946 folgte er einem Ruf nach Jena – als Ordinarius für Theoretische Physik.
Meinem Eindruck nach standen bei dem schlanken, wortkargen, konzentriert lehrenden und seinem Wesen nach skeptischen Naturforscher Politik und Politiker nicht sehr hoch im Kurs. Politische Intrigenspiele konnte er gewiß nicht ausstehen. Und doch fanden gerade sie hinter seinem Rücken statt. Ausgerechnet er mußte als Sündenbock für das Versagen sowjetischer Besatzungsoffiziere sowie deutscher Landespolitiker herhalten und am 29. Oktober 1948 als Rektor zurücktreten. Friedrich Hund wurde zum politischen Opfer der damals emotional zugespitzten und von irrationalen Vorurteilen getragenen Auseinandersetzungen um die Zulassung von Arbeiter- und Bauernkindern bzw. von jungen SED-Mitgliedern an der altehrwürdigen Alma mater Jenensis.
Natürlich hatten Jutta, Karlheinz und ich zu der Zeit keine Ahnung von den Akteuren im Streit um unseren Zugang zu höherer Bildung. Doch schon in Langensalza rätselten wir herum. Eigenartig mutete an, daß gerade wir keinen Bescheid aus Jena bekamen, während andere Bewerber längst ihre Zulassungen in der Tasche hatten. Was einte eigentlich uns Drei? Wir waren soziologisch „echte“ Arbeiterkinder, aber auch die einzigen SED-Mitglieder des Abiturjahrganges 1948 in Langensalza! Unsere fachlichen Leistungen standen keineswegs hinter denen der schon zum Studium Zugelassenen zurück. Teils hatten wir sogar weit bessere Zensuren.
Besonders mysteriös fanden wir die bevorzugte Immatrikulation eines hoch gewachsenen, schlaksigen Mitschülers, dessen Vater in Oberschlesien Bergwerksdirektor gewesen war. Konnte man ausschließen, daß der vormalige Zechenherr zwischen 1933 und 1945 ein Braunhemd der SA oder gar die NSDAP-Montur getragen hatte? Keineswegs! Dieser Verdacht lag sogar nahe. Und wie war der Brennstoff-„Manager“ damals mit „jüdischen Kollegen“ oder mit Fremd- und Zwangsarbeitern umgegangen? Hatte er etwas auf dem Kerbholz? Und konnte man ihn damit erpressen? Oder gab es „zeitlose“ Seilschaften von der tiefsten Sohle einer kriegswichtigen Steinkohlengrube zu den höchsten Höhen des neuen, von der Nazi-Diktatur befreiten akademischen Lebens der Nachkriegszeit?
Wir staunten über die angestammten und anhaltenden Bildungsprivilegien eines Mitschülers „aus gutem Hause“. Rührten sie etwa daher, daß der Direktoren-Sohn im Unterschied zu uns Dreien bei den „sowjetischen Freunden“ ein und aus ging? Ihm konnte man nämlich öfter in der Langensalzaer Poststraße begegnen, wenn er „zufällig“ die Stadtkommandantur betrat oder verließ. Auch wollten bis in die fünfziger Jahre jene Gerüchte nicht verstummen, die von belasteten Nazis handelten, denen die sowjetische Geheimpolizei eine „neue Chance“ zugesagt habe, so sie vertraulich mit ihr zusammenarbeiten würden. Besaß etwa auch der Filius aus Oberschlesien als ein geheimer MGB-Informant stille, aber mächtige Fürsprecher?
Wie dem auch gewesen sein mag – wir Drei hielten uns an die Devise: „Lieber offen Partei-Mitglied als verdeckter Zuträger der Besatzungsmacht.“ In die SED, die damals erst zwei Jahre alte sozialistische deutsche Partei, waren wir nach längeren Gesprächen und einem Informationskurs eingetreten, der vom 3. bis 16. Juli 1948 an der SED-Kreisparteischule in Langensalza stattgefunden hatte. Die aus SPD und KPD hervorgegangene neue Partei trat damals für eine antifaschistisch-demokratische Ordnung und für ein einheitliches Deutschland ein. Dem Bildungswesen der SBZ war als Erziehungsziel „die selbständig denkende und verantwortungsbewußt handelnde Persönlichkeit“ vorgegeben.

Foto: Rudolf Lichtenberg junior
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Jutta, Karlheinz und ich dachten keineswegs an politische Sippenhaftung. Wir gönnten dem aus Oberschlesien geflohenen oder vertriebenen Mitschüler seinen Studienplatz. Wir waren allerdings dagegen, daß er bevorzugt bedient wurde, während wir um unsere Zulassung zum Studium bangen mußten. Übrigens hat der Mitschüler aus Oberschlesien den Studienplatz in Jena behalten und ist – so glaube ich mich zu erinnern – erst dann in den Westen gegangen, nachdem er seinen Studienabschluß (Staatsexamen) in der Tasche hatte.
„Da habt ihr aber Glück gehabt!“ Es muß der aus Kiel stammende Gewerkschafter Herbert Karwath (Jahrgang 1912) gewesen sein, der uns im Büro der Jenaer FDGB-Hochschulgruppe mit diesen Worten begrüßte. Beim FDGB beantragten wir gleich nach der Immatrikulation ein Stipendium. Karwath erzählte, zahlreiche Bewerbungen von SED-Genossen und von aktiven Mitgliedern der Gewerkschaft oder des Jugendverbandes seien „hier irgendwo“ aussortiert worden, um sie spurlos verschwinden zu lassen. Es handele sich um einen klaren Fall von politischem Numerus clausus (zahlenmäßige Zulassungsbeschränkung)! Das Weimarer Ministerium habe in letzter Minute eingegriffen. „Bedankt Euch bei der Torhorst!“
Bei „der Torhorst“ hätte ich mich Ende Oktober 1948 am Hintereingang des Hauptgebäudes der Universität bedanken können. Dort sah ich die – von Pressefotos her bekannte – kleingewachsene Frau erstmalig leibhaftig. Mit strenger Miene stand sie in einem Kreis aufgeregt gestikulierender Herren und wartete offenbar auf ihren Dienstwagen. Meiner dunklen Erinnerung nach hatte ich in diesem Stehkonvent auch Werner Eggerath erkannt, den Wuppertaler, der damals Thüringens Ministerpräsident war, dieweil Frau Dr. Marie (Maria) Torhorst (1888 bis 1989) seit Ende Mai 1947 in Weimar als vom thüringischen Landtag gewählte Ministerin für Volksbildung fungierte. Doch natürlich habe ich es nicht gewagt, in den Kreis „so bedeutender Personen“ zu treten und „die Torhorst“ anzusprechen.
Erst mindestens drei Jahrzehnte später fand sich eine Gelegenheit, „der Torhorst“ Dank zu sagen – im Dezember 1978 anläßlich ihres 90. Geburtstages bzw. Ende 1983, als ihr 95. in den DDR-Medien größere Beachtung fand. Marie Torhorst war längst pensioniert und lebte mit ihrer Schwester im Hause Kiefernweg 2 in Lehnitz nördlich von Berlin.
Die passionierte Pädagogin stammte aus einer kinderreichen westfälischen Pfarrersfamilie. Maria hatte in Bonn und Köln sogar Mathematik studiert, war 1918 zum Dr. phil. promoviert worden, trat der SPD bei und lehrte ab 1928 an der berühmten Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln. Nach Hitlers Machtantritt 1933 wurde die begnadete Lehrerin aus dem Schuldienst entlassen, schlug sich als Küchenhilfe durch und wurde dann für die Rüstungsindustrie „kriegsdienstverpflichtet“. Kein Wunder also, wenn sie sich im Herbst 1948 in Jena für unser Recht auf höhere Bildung stark gemacht hätte.
Dem Lehnitzer „Geburtstagskind“ sagte ich doppelten Dank: erstens für den ermutigenden Preis im „Thüringer Aufsatzwettbewerb 1848 – 1948“, dessen Urkunde (mit der Datumszeile „Weimar im November 1948“) die eigenhändige Unterschrift (in schwarzer Tinte) „Dr. Marie Torhorst“ trägt, sowie zweitens für ihre mutmaßliche Intervention im Oktober 1948 in Jena zugunsten „aussortierter“ Arbeiter- und Bauernkinder. Doch mein Versuch, bei solcher Danksagung Näheres über die damaligen Vorgänge hinter den Kulissen zu erfahren, scheiterte. Die alte Dame hatte Wichtiges verdrängt oder vergessen. Vergeblich stocherte ich in einer Art von Erinnerungsnebel herum.
Wer hatte uns damals wegsortiert? Wie viele Bewerber in Thüringen sollten unter den Tisch fallen? Wo saßen die Initiatoren des verschwiegenen Numerus clausus? Und wieso brauchte das Weimarer Ministerium fast einen Monat, um die „politische Selektion“ zu entdecken?
Immerhin hatten sich die Volksbildungsminister der Länder der SBZ bereits im Frühjahr 1947 darauf verständigt, an den Universitäten und Hochschulen so genannte Zulassungsausschüsse zu bilden, denen außer dem Rektor, dem Kurator, den betreffenden Dekanen, einem Mitglied des frei gewählten Studentenrates sowie Vertretern der Hochschulgruppen von FDJ, FDGB und DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) auch ein Abgesandter des jeweiligen Ministeriums für Volksbildung angehören sollte. Ferner war man überein gekommen, daß die Länder-Ministerien die Zulassungsentscheide der Universitäten und Hochschulen „bestätigen“ müßten.
Offizielle Vertreter der Besatzungsmacht waren meiner Erinnerung nach in den demokratisch angelegten Zulassungsausschüssen nicht vorgesehen. Doch konnte man davon ausgehen, daß die sowjetischen Behörden informell präsent waren.
Zentral vorgegeben waren in der SBZ eigentlich schon seit Herbst 1945 neue Maßstäbe zur Bewertung der Bewerber (Zulassungskriterien): erstens Leistungsnachweise, zweitens soziale Herkunft (um die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft der soziologischen Struktur der Gesellschaft wenigstens schrittweise anzunähern) und drittens politische Haltung (um Opfer der Nazi-Diktatur und antifaschistische Widerständler zu fördern sowie aktive Nazis fernzuhalten). Die neuen Zulassungskriterien bildeten ein wesentliches Element der „Demokratischen Schulreform“ von 1945 und der später (rückblickend) so genannten „Ersten Hochschulreform“. Natürlich brauchte es Zeit, um solche Kriterien gegen starke, raffinierte Widerstände vernünftig durchzusetzen. Doch der Abgesandte „der Torhorst“ im Jenenser Zulassungsausschuss von 1948 wäre verpflichtet gewesen, die neuen Maßstäbe zu verfechten. War er zu feige? Oder hatte er geschlafen?
Die alte Dame in Lehnitz schien sich auf meine Fragen nicht konzentrieren zu können. Statt Antworten bekam ich Anekdoten zu hören – über die festliche Wiedereröffnung des Weimarer Nationaltheaters, über die Vorbereitung des Goethe-Jahres 1949, über die schöne, neuerliche Torhorst-Reise in die Sowjetunion (im Sommer 1948), über die „wertvolle Hilfe von Tulpanow in Karlshorst und Weimar“ sowie über die „unerträgliche Hetze von Leisegang in Jena“. Über den Physiker und kurzzeitigen Rektor Friedrich Hund kein Wort.
Prof. Dr. Sergej Tulpanow (1901 bis 1984) war der erste und lange Zeit einzige höhere Sowjetoffizier, den ich respektiert und sogar bewundert habe. Dabei kannte ich den Leningrader Ökonomen nur von einem einzigen Vortrag her, den er damals (Ende 1948/Anfang 1949) in der Aula der Jenaer Universität vor Hörern aller Fakultäten gehalten hatte – in weitgehend freier Rede, in deutscher Sprache mit hartem slawischen Akzent, von bestechender Logik und nicht ohne sarkastischen Humor.
Sergej Tulpanow – das war ein eigenständiger Kopf mit Vollglatze, auf der Lichtstrahlen sich spiegelten, dieweil er Heinrich-Heine-Verse aus dem Gedächtnis deklamierte und uns junge „Teutonen“ an die eigentlichen, geistigen Werte unseres Vaterlandes erinnerte. Aus den Ruinen des Krieges und der Not der Niederlage könne Deutschland nur dann wieder auferstehen, wenn es seine wichtigsten Ressourcen – die geistigen Kräfte aller Klassen und Schichten der Bevölkerung ausschöpfe. Insofern sei zwischen Rhein und Oder die Brechung überkommener Bildungsprivilegien eine nationale Lebensfrage.
Der sich da um die Zukunft der Deutschen sorgte, hatte als Sowjetoffizier die schreckliche Leningrader Blockade durchgestanden, an der Schlacht um Stalingrad teilgenommen und war tausende Kilometer durch Trümmer und Tod bis nach Berlin marschiert. Marschall Georgi Shukow bestimmte Oberst Tulpanow zum Chef der Propagandaabteilung der SMAD. Doch der Politoffizier taufte seine Abteilung in Informationsabteilung um. In Berlin-Karlshorst war Tulpanow der beredsame Öffentlichkeitsarbeiter der sowjetischen Besatzungsmacht – im Unterschied (oder gar im Gegensatz?) zum dortigen eher schweigsamen, aber ungeheuer mächtigen Geheimdienstchef I. A. Serow. Pointiert ausgedrückt: Tulpanow stand für zwingende Logik – Serow für die Logik des Zwanges.
Marie Torhorst, die schon 1932 eine Art Mekka-Reise nach Moskau unternommen hatte, spielte 1945, gleich nach ihrer Befreiung aus dem Arbeitslager, eine wichtige Rolle im Hauptschulamt von Groß-Berlin. Sie sorgte für die Ausbildung von nazistisch unbelasteten Neulehrern in Schnellkursen. Das geschah in engem Kontakt mit einem Sowjetmajor namens Romm sowie eben mit Sergej Tulpanow. An ihn konnte sie sich auch halten, nachdem sie die turbulente Berliner Szene verlassen und ihr neues Amt in Weimar angetreten hatte. Seit Tulpanows Vortrag in Jena hatte ich das dunkle Gefühl, nicht nur „der Torhorst“ Dank zu schulden, sondern auch dem Leningrader Professor – für forschen Einsatz über die Köpfe der in sich zerstrittenen SMAD Thüringens hinweg zu Gunsten der 1948 aussortierten Bewerber.
Im Herbst 1967 feierte „das ganze von der siegreichen Sowjetunion geführte sozialistische Lager“ den 50. Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktober-Revolution“. „In Vorbereitung“ dieses Jubiläums fand Anfang Juli 1967 in Leningrad – an der „Wiege der Revolution“: im berühmten Smolny – eine internationale Tagung von Publizisten und Journalisten statt. ND-Chefredakteur Rudi Singer hatte keine Zeit oder keine Lust und reichte seine Einladung an mich weiter. Im Moskauer Sokolniki-Park besuchte ich eine Sachbuch-Ausstellung und fuhr dann mit dem „Blauen Pfeil“ durch die Nacht von der Moskwa an die Newa.
Den sowjetischen Organisatoren der Tagung schwebte kein wirklicher Diskurs vor, sondern eher so etwas wie eine oratorische Perlenkette von Elogen auf das „Moskauer Modell“. Dafür allerdings boten die politischen Realitäten im „Lande Lenins“ zu dieser Zeit wenig Anlaß. Der „Parallele Apparat“ (Geheimpolizei) war gerade dabei, den unter Chruschtschow verlorenen Einfluß auf die Sowjetgesellschaft zurückzugewinnen – mit Schauprozessen gegen renitente Schriftsteller.
Unter dem Klima solcher politischer Restauration litt die Zusammenkunft im Smolny. Der kubanische und der nordkoreanische Redner muckten gegen die Tagungsregie auf. Der Tagungsleiter (ein Mitglied des ZK der KPdSU, dessen Name mir entfallen ist) pochte auf „die führende Rolle der Sowjetunion“. Er geruhte, den Kubaner (wegen „revolutionären Übereifers“) und den Koreaner (wegen „ideologischer Nähe zu Peking“) rüde abzukanzeln. Die beiden ganz unterschiedlichen „Rüttler am sowjetischen Führungsanspruch“ drohten abzureisen. Da geriet ich – als „Vertreter der DDR“ – unversehens in die Rolle eines deeskalierenden Vermittlers und „Friedensstifters“. Und hatte Erfolg. Niemand reiste ab. Der Tagungsleiter wurde etwas vernünftiger.
Ausgerechnet im Smolny war ich erstmalig mit der Nase darauf gestoßen worden, daß die östliche Führungsmacht allen Geredes über „proletarischen Internationalismus“ zum Trotz kein wirklich international angelegtes politisches Führungskonzept besaß und daß ihr moderne Techniken der Konfliktbewältigung weitgehend fremd waren. Wie unter Stalin wurde offiziell wieder imperial gedacht. „Bruderparteien“ und „Bruderländer“ hatten sich zu fügen. Das würde bis zum Ende der UdSSR so bleiben.
Gerne hätte ich im Smolny einen Vortrag über „Freiheit und Kooperation im Sozialismus“, über „Kooperation und Autonomie“ oder über „Reziprozität in der Sozialität“ gehalten. Solche Themen waren mir ja nicht fremd. Darüber hatte ich 1964/65 in der DDR referiert. Und die Referate waren im „Forum“ veröffentlicht worden. Doch so etwas war zwar unter dem kurzzeitigen Reformer Walter Ulbricht in der DDR möglich, nicht aber unter der Breschnew-Führung in Leningrad.
„Wer erfolgreich mit anderen kooperieren will, muß sich in die Lage der andern versetzen können.“ Schon diese meine These wäre umgehend als „politisches Versöhnlertum“ mißverstanden und als „revisionistische Abweichung“ gebrandmarkt worden. Es war zwecklos, von außen in die innere politische Struktur, in die inneren Widersprüche einer Supermacht wie der UdSSR hineinwirken zu wollen.
Gleichwohl bat ich meinen „Betreuer“ um ein Treffen mit Tulpanow. Man war überrascht und irgendwie konsterniert. Nach Tagen sagte man mir mit „großem Bedauern“, der Professor Tulpanow befinde sich gerade im Urlaub. Längst war es still geworden um den einst berühmten Karlshorster Politoffizier. Seit er 1949, kurz vor der Gründung der DDR, ohne Angabe einleuchtender Gründe aus Berlin abberufen worden war, spielte er in den Medien und auf der politischen Bühne kaum noch eine Rolle.
Erst ein halbes Jahrhundert später konnte ich einer 1998 ins Deutsche übersetzten russischen Dokumentation über die von Tjulpanow geleitete SMAD-Informationsverwaltung der Jahre 1945 bis 1949 entnehmen, daß der glatzköpfige Sowjet-Oberst damals „auf Betreiben Abakumows“ in Karlshorst abgelöst und in die Sowjetunion zurückbeordert worden war. Ich las das mit Schaudern. Da muß Tulpanow zwischen 1949 und 1954 mit einem Bein im GULAG oder gar im Grabe gestanden haben!
Abakumow? Das war – populär ausgedrückt – eine der miesesten Typen im „Parallelen Apparat“, im System des Stalinschen Staatsterrorismus. Viktor Semjonowitsch Abakumow (1894 bis 1954) hatte sich ab 1942 als Chef der SMERSCH (Abkürzung von „Smert schpionam!“/Tod den Spionen!) hervorgetan. Ursprünglich sollte dieser geheime Abwehrapparat innerhalb der Roten Armee (aber hinter der Front!) SMERNESCH („Smert nemezkim schpionam!“/Tod den deutschen Spionen!) heißen. Doch Stalin selbst dehnte das „Jagdgebiet“ von Abakumows Todestruppe aus – mit der „smarten“ Begründung, außer deutschen gebe es ja auch britische und amerikanische Spione.
Abakumow exekutierte dann Stalins paranoides Verdikt, alle in Kriegsgefangenschaft geratenen Sowjetsoldaten seien als Feiglinge und Verräter zu betrachten. SMERSCH sorgte also dafür, daß die meisten aus deutschen Lagern befreiten Rotarmisten unverzüglich in sowjetische Arbeitslager hinter dem Polarkreis verbracht wurden. Auf diese Weise empfahl sich der Mann, der Berija in den Schatten stellen wollte, für „höhere“ Aufgaben.
Von 1946 bis 1951 fungierte Abakumow als Chef des Moskauer Ministeriums für Staatssicherheit (MGB). Er war – nach Kriegsende – für die blutige Liquidierung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK) verantwortlich. Dieses Komitee war Ende 1941 in Moskau mit Blick auf den US-Verbündeten gebildet worden, nun aber in Stalins politischem Kalkül überflüssig und „gefährlich“ geworden. Und Abakumow sollte 1949 einen (verdeckt antizionistischen) Schauprozess gegen eine vermeintliche „Verschwörung der Kremlärzte“ vorbereiten. Die Verhaftung und öffentliche Verleumdung von Medizinern, die angeblich Stalin nach dem Leben trachteten, bildeten die letzte „Säuberungsaktion“ des Sowjetdiktators vor seinem Tod im März 1953.
Dem Aktenband von 1998 zufolge hatte Abakumow 1949 ein Denunziationsdossier fabrizieren lassen, in dem Tulpanow „verbrecherische Handlungen“ gemeinsam mit einem „jüdischen Mitarbeiter“(!) vorgeworfen wurden. Danach soll Tulpanow unter Hausarrest gestanden haben. Vermutlich war er als einer der Angeklagten im Schauprozeß vorgesehen. Doch da Abakumow nicht die nötigen „freiwilligen Geständnisse“ zu erwirken vermochte, ließ Stalin ihn selbst 1951 verhaften. Nach Stalins Tod wurde Abakumow auf Betreiben Berijas wieder freigelassen. Und erst nach Berijas Sturz im Sommer 1953 kam Abakumow vor Gericht. Wegen Machtmißbrauchs und Korruption wurde er zum Tode verurteilt und 1954 hingerichtet. Von da an scheint Tulpanow außer Lebensgefahr gewesen zu sein. Doch öffentlich rehabilitiert wurde er nicht.
Von Tulpanows Gefährdung hatte ich keine Ahnung, als mich das KPdSU-Zentralorgan „Prawda“ (Wahrheit) im Herbst 1969 um einen Aufsatz zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR bat. Das war – zwei Jahre nach dem Desaster im Smolny – die Gelegenheit! In meinem Jubiläumsartikel brachte ich eine dezidierte Laudatio auf Tulpanow unter. Und die „Prawda“ veröffentlichte den Beitrag ungekürzt – am 6. Oktober 1969 auf Seite vier. Tulpanow muß darin eine Art von öffentlicher Rehabilitierung gesehen und sich darüber so gefreut haben, daß er den ganzen ihn betreffenden Absatz meines Artikels in seinen Memoiren zitierte – siehe Sergej Tulpanow: Deutschland nach dem Kriege (1945 – 1949)/Erinnerungen eines Offiziers der Sowjetarmee. Herausgegeben von Stefan Doernberg, Berlin 1986, Seite 119.
Nie habe ich also mit Tulpanow sprechen können. Indem er aber meinen dankbaren Hinweis auf seine intervenierende Rolle 1948 in Jena aus der „Prawda“ in seine Memoiren aufnahm, hat er meinen Erklärungsversuch indirekt bestätigt. Da wundert es mich denn doch, daß der Name Tulpanow auf den 1017 Druckseiten der allerneuesten Jenenser Universitätsgeschichte nicht auftaucht. Wir meinen das von „der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert“ herausgegebene und in rotbraune Pappe gebundene Werk „Traditionen – Brüche – Wandlungen/Die Universität Jena 1850 – 1995“, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009, 49,90 Euro…
Harald Wessel (1930 bis 2021) war einer der wichtigsten politischen Journalisten der DDR, Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“. Er hat umfangreiche Memoiren unter dem Titel „Doppelt befreit“ hinterlassen. Sie besitzen einen hohen zeitgeschichtlichen Wert, sind aber Fragment geblieben. Der Text des hier veröffentlichten Auszuges war im Jahr 2012 fertiggestellt.