Strahl des Göttlichen

Zeugen-Probleme: Die Affären Crainquebille und Bad Kleinen

Von Frank-Rainer Schurich

Alles Unheil beginnt damit, daß der ambulante Gemüsehändler Jérôme Crainquebille mit seinem Karren um die vorletzte Jahrhundertwende herum in der Pariser Rue Montmartre den Verkehr behindert. Und schon ist die Staatsmacht mit dem Polizisten 64 zur Stelle und fordert den Stauverursacher auf, mit dem Wagen weiterzugehen. Crainquebille weigert sich und erklärt mehrfach, er habe Geld für drei Porreestangen zu bekommen. Diese Beleidigung nimmt für den Polizisten 64 unweigerlich die überlieferte, genormte, rituelle und sozusagen liturgische Formel „Bulle verrecke!“ an. Crainquebille gerät in die Fänge der bürgerlichen Justiz und ins Gefängnis. In dem Strafprozeß geht der Richter davon aus, die Autorität des Schutzmannes zu schwächen würde bedeuten, den Staat zu schwächen. Also hat Crainquebille „Bulle verrecke!“ gesagt. Die Aussage eines anderen Zeugen, des Chefarztes Dr. Matthieu, der das Jammern des Händlers hörte, wird ohne Begründung zurückgewiesen.

Der Bahnsteig 3/4 in Bad Kleinen. Auf ihm fand 1993 die wilde Schießerei statt, bei der Wolfgang Grams und Michael Newrzella getötet wurden. Die Kioskbetreiberin Joanna B. konnte die Vorgänge beobachten und versteckte sich unmittelbar danach in einem Schrank. Die Aufnahme stammt von 2008. Siehe zu dem Fall Bad Kleinen auch hier: „… allein mir fehlt der Glaube“
Foto: wikimedia commons/ Global Fish, CC BY-SA 3.0

Hundert Jahre später erlangt das mecklenburgische Bad Kleinen traurige Berühmtheit. Allerdings geht es nicht um Porreestangen. Bei einer dilettantisch geführten Polizeiaktion unter Führung der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamtes (BKA) werden am 27. Juni 1993 auf dem dortigen Bahnhof das RAF-Mitglied Wolfgang Grams und der GSG-9-Mann Michael Newrzella erschossen. Ein beteiligter „Spezialist“ erklärt anonym nach den Ereignissen, ein GSG-9-Beamter habe den durch Schußwunden verletzten Grams regelrecht liquidiert. Von ihrem Kiosk aus will eine weitere Zeugin diese „Hinrichtung“ gesehen haben.

Die kriminalistische Untersuchung ist genauso laienhaft wie der Einsatz. Entgegen allen rechtsstaatlichen Regeln ermittelt das BKA zunächst gegen sich selbst. Auch die Chefs der Anti-Terror-Spezialeinheit GSG 9 befragen ihre Einsatzkräfte erst einmal persönlich.

Ein kriminalistischer Leitsatz besagt, daß Zeugen unverzüglich zu trennen und zu vernehmen sind, weil ihre Erinnerungsbilder verblassen könnten und vor allen Dingen Fremdeinwirkungen (bewußte Abstimmung und unbewußte Verfälschung der Aussagen, Beeinflussung durch die Medien usw.) ausgeschlossen werden müssen. Aber erst gute 14 Tage später entschließt sich der GSG-9-Kommandeur, ein paar Beamte nach Schwerin, wo in einer Sonderkommission ermittelt wird, zu schicken. Natürlich vermummt und mit einer Nummer. Was bei diesen und späteren Vernehmungen der Polizisten 6 und 8, gegen die erst aufgrund einer Strafanzeige der Eltern von Wolfgang Grams ein Ermittlungsverfahren durchgeführt wird, herausgekommen ist, bleibt im Nebel. Gesehen haben sie und ihre Mitstreiter eigentlich nicht viel, sie waren ja im Einsatz. Trotz langer und guter Vorbereitung durch ihre Vorgesetzten verstricken sich Nr. 6 und Nr. 8 in Widersprüche und machen objektiv falsche Aussagen, aber für die Ermittler scheint ihre Unschuld festzustehen.

Auch die Kioskangestellte, deren Aussage als unglaubwürdig eingestuft wird, vernimmt man viel zu spät. Außerdem macht später die Runde, Kioskmitarbeiter würden ohnehin dem Alkohol zusprechen. „Abwertung der Informationsquelle“ sagt die Psychologie dazu.

Obwohl man weit über hundert Augen- und Ohrenzeugen vernommen hat, gelingt es nicht, den Tathergang einigermaßen sicher zu rekonstruieren. Die „glaubwürdige Zeugen“, so wird verlautet, hätten übereinstimmend ausgesagt, die bei dem am Boden liegenden Grams befindlichen Beamten hätten nicht mehr geschossen.

Die Ablehnung von Zeugen und die damit verbundene selektive Anerkennung bestimmter Aussageinhalte haben im Strafprozeß historische Gründe. Die stürmische Entwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Kriminalistik seit der vorletzten Jahrhundertwende führte zu einem ausgesprochenen Pessimismus gegenüber der Zeugenaussage, der in der Feststellung gipfelte: Niemand, selbst nach eigener unmittelbarer Anschauung eines Vorganges, kann zu einem absolut sicheren Wissen von der Existenz eines Tatbestandes gelangen. Auf dem Boden von Agnostizismus und generellem Erkenntnispessimismus wurde dem Sachbeweis, der objektiv und sicherer erschien, im Laufe der Zeit oft der Vorrang gegeben. Gleichzeitig ergab sich für die bürgerliche Justiz ein vorzüglicher Grund, nicht genehme Aussagen zurückzuweisen.

In der Affäre Crainquebille traut man dem Zeugnis eines Menschen nicht. Eine Nummer aber in Gestalt des Polizisten 64 kann sich nicht täuschen. Sie ist eine Wesenheit, frei von dem, was den Menschen ausmacht und ihn verwirrt, verdirbt, mißbraucht. So hat das Gericht nicht gezögert, die Aussage von Dr. Matthieu, der nur ein Mensch ist, zurückzuweisen und die des Polizisten 64 zuzulassen, da sie wie ein Strahl des Göttlichen auf die Schranke des Gerichtes gefallen zu sein scheint.

Der Strahl des Göttlichen fiel ebenso auf Bad Kleinen. Als der Zeugenbeweis auf die geschilderte Weise ausgeschöpft ist, nimmt man sich den Sachbeweis vor. Aber auch hier versagt die deutsche Gründlichkeit. Die Tatortarbeit, von deren Qualität alle nachfolgenden Ermittlungen entscheidend abhängen, ist miserabel. Die „Hinrichtungsversion“ wird bei der Suche und Sicherung von Spuren nicht berücksichtigt. Unbeteiligte sammeln noch viel später Hülsen und Patronen, so daß weitere Ortsbesichtigungen notwendig werden. Von den nun gesicherten Spuren ist ihr ursprünglicher Entstehungsort z. T. unbekannt. Wie viele Schüsse von wem abgegeben wurden, bleibt ein Rätsel, zumal die Waffen aller eingesetzten Beamten entgegen der Dienstvorschrift nicht überprüft, die Patronen nicht nachgezählt werden. Keiner weiß, so sich die Waffe von Grams wirklich befunden hat. Zur Lage der Arme – ganz wesentlich für Erklärungen des Geschehens – gibt es am Ende unterschiedliche Versionen. BKA-Präsident Zachert sagt dazu später, die verantwortlichen Herren hätten nicht nach den Regeln der Kriminalistik gehandelt. Und daß es noch sechs Kugeln aus Bad Kleinen gibt, von denen niemand weiß, wer sie auf wen abgefeuert haben könnte …

Den Rest erledigen Spezialbeamte und Ärzte. Haare an der Einschußstelle werden bei der Obduktion von Grams zwar entfernt, aber nicht gesichert. Vor der erkennungsdienstlichen Behandlung unterläßt man sträflicherweise die Leichenfotografie. Zur Abnahme von Fingerabdrücken wird durch einen Arzt weisungsgemäß eine Hand gewaschen, dadurch sind auch eventuell vorhandene Schmauchpartikel, die einen Selbstmord hätten beweisen können, Opfer der massiven Spurenvernichtung geworden.

Die gerichtsmedizinischen Gutachter in Lübeck und Münster widersprechen sich. Während der eine die Selbsttötung Grams‘ ausschließt, erwägt der andere ihre Möglichkeit. Mit Sicherheit vermag man festzustellen, daß der GSG-9-Beamte von Grams erschossen wurde. Ein weiteres Gutachten wird angefordert.

Während der deutsche Sachverständige große Schwierigkeiten hat, eine Bestellung wegen Unzumutbarkeit zurückzuweisen (§ 76 StPO), arbeitet der ausländische Gutachter sozusagen freiwillig. Ungeachtet der desolaten Spurensituation übernehmen Schweizer Spezialisten den Auftrag. Der Wissenschaftliche Dienst der Stadtpolizei Zürich, der in der Vergangenheit schon Expertisen im Sinne der deutschen Ermittlungsbehörden und Terroristenbekämpfer erstattet hatte, begibt sich auf die ballistische Strecke, das dortige Institut für Rechtsmedizin auf die serologische. Asservate (Pistolen, Projektile, Hülsen und Bekleidungsstücke) kommen durcheinander, so dass man in Zürich zunächst die Absender erraten muß (Bundesanwaltschaft, BKA, Staatsanwaltschaft in Schwerin?). Siegel an Präparatpäckchen mit Leichenteilen von Grams, auf dem Wege von Lübeck zum BKA nach Wiesbaden, öffnen sich beim Transport auf merkwürdige Weise. Die frisch gewaschene Hose des GSG-9-Mannes Nr. 6 wird auf Spuren untersucht. Seine Jacke, möglicherweise auch gereinigt asserviert oder gar ausgetauscht, verschwindet in Zürich nach der Begutachtung aus dem Tresor des Instituts für Rechtsmedizin. Die Ergebnisse, die nicht mehr überprüfbar sind, haben keinerlei Wert.

Allen Kritikern zum Trotz kommt die wundersame Rettung der Ermittler doch aus Zürich. Obwohl kein einziger Zweifel ausgeräumt werden kann, wird aus der Expertise nur die Formulierung, daß eine exekutionsähnliche Handlung praktisch ausgeschlossen werden kann und Grams sich höchstwahrscheinlich selbst getötet habe, hervorgehoben.

Viele Fragen sind nach wie vor offen, z. B. wie sich Grams habe erschießen können mit der Hand, die sich nachweislich unter dem Körper befand. Jürgen Korell hat in einem Aufsatz (Zeitschrift „Geheim“ 4/1993, S. 19) für die Selbsttötungsversion den Geschehensablauf wie folgt kommentiert. „Danach muß Wolfgang Grams innerhalb von fünf bis sechs Sekunden zehn, maximal elf Schüsse abgegeben haben. Davon hat er dreimal getroffen, wodurch ein Polizist verletzt sowie Michael Newrzella tödlich getroffen wurde. In dieser Zeit wird Wolfgang Grams selbst durch einen Bauchschuß schwer verletzt, stürzt rücklings auf Gleis 4, ohne seine Waffe zu verlieren, und schießt sich im Liegen selbst in den Kopf, ohne daß dies von einem Zeugen bemerkt wird. Logisch, oder?“

Die Affäre Crainquebille hat, obwohl wahrhaftig, nur auf dem Papier stattgefunden – in der gleichnamigen Meistererzählung des französischen Schriftstellers Anatole France, der im Oktober 1924, also vor hundert Jahren starb und für den Gerechtigkeit nichts anderes war als die Sanktion existierender Ungerechtigkeiten: „Wer den richterlichen Entscheidungen die methodische Tatsachenerforschung zugrunde legen wollte, wäre ein gefährlicher Sophist und ein heimtückischer Feind der bürgerlichen und militärischen Rechtspflege.“

Die Affäre Bad Kleinen aber hat gute Aussichten, als eine der größten staatlich geführten Verschleierungsaktionen in die Kriminalgeschichte einzugehen, in der Fehler systematisch, bewußt und gewollt gemacht wurden. Da auch weiterhin nach politischen Vorgaben selbstherrlich darüber entschieden wird, was die reine Wahrheit ist, hat sich dieses Drama schon mehrfach wiederholt.

Siehe die skandalöse Vorgänge um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) …

2024

Frank-Rainer Schurich lehrte als ordentlicher Professor Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2015 mit Remo Kroll Mitherausgeber der „Schriftenreihe Polizei“ im Verlag Dr. Köster Berlin, die in zwei Reihen erscheint: „Studien zur Geschichte der Verbrechensbekämpfung“ und „Historische Kriminalistik“. Er arbeitete regelmäßig bei der Berliner Kriminalpolizei. Seit 1994 ist er als freier Autor tätig. Er legte zahlreiche Publikationen insbesondere zu authentischen Kriminalfällen in der DDR vor.