Freifahrkarten und Diäten

Geschichten rund um den Reichstag (Folge 5): Wie die NSDAP über die Privilegien der Abgeordneten ihre Parteikasse entlastete

Von Holger Becker

„Nun kann ja die Reiserei beginnen. Auf Kosten der Republik“, schrieb Joseph Goebbels am 28. März 1928 in sein Tagebuch, nachdem ihm als Mitglied des Reichstages eine Freifahrkarte zugestellt worden war. Denn der Artikel 40 der Reichsverfassung bestimmte, daß allen Abgeordneten des Parlaments „das Recht zur freien Fahrt auf allen deutschen Eisenbahnen“ zustehe. Die NSDAP hatte oft genug über die Privilegien der Parlamentarier gewettert. Doch ihre Mandatsträger nutzten die Vergünstigungen mit schönster Selbstverständlichkeit.

11. Dezember 1941: Hitler hält auf der Reichstagssetzung in der Berliner Krolloper seine Rede zur Kriegserklärung an die USA
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-B06275A / CC-BY-SA 3.0

Das änderte sich auch nicht, nachdem der Reichstag in Folge der Pseudowahlen vom 12. November 1933 nur noch aus einer Fraktion bestand: der der NSDAP. Das Recht auf für sie kostenfreie Eisenbahnfahrt blieb den Mitgliedern des Reichstages erhalten. Ja, sie bekamen nun sogar die Auslagen ersetzt, wenn sie mit dem Schiff nach deutschen Hafenstädten an der Ostseeküste reisten.

Manche NS-Abgeordnete nutzten ihre Privilegien so ungeniert, daß dies zu behördlichem Schriftwechsel führte. So beschwerte sich im Februar 1938 das Reichverkehrsministerium beim Direktor des Reichstages: Der Herr Direktor solle die Abgeordneten darüber belehren, daß es nicht statthaft sei, wenn sie Begleitpersonen mit Fahrkarten 2. Klasse zwecks „dienstlicher Besprechungen“ in Abteile 1. Klasse riefen, doch gegenüber Schaffnern die Nachzahlung unter Berufung auf ihr Reichstagsmandat verwehrten.

Bekannt sind auch die Kosten, die dem Staat mit den Freifahrten der Abgeordneten entstanden. Im Jahre 1934 wies die „Reichshaushaltsrechnung“ dafür 1.001.046, 10 Reichsmark aus. 1941 war der Betrag auf 1.327.487,24 Reichsmark gestiegen.

Überhaupt war die Freifahrkarte ein wichtiges Motiv für die Aufstellung von Reichstagskandidaten. NS-Organisationen wälzten so Kosten auf die Staatskasse ab. Der Naziideologe Alfred Rosenberg, bald „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“, wandte sich schon am 18. Oktober 1933 an den Reichsinnenminister und Chef der NSDAP-Fraktion Wilhelm Frick mit der Bitte, den Leiter des Kampfbundes für deutsche Kultur auf einen sicheren Listenplatz zu hieven. Denn das schaffe dem Mandatsträger in spe die Möglichkeit, „seine Reisen ohne die sonst sehr hohen Spesen in Deutschland“ zu absolvieren.

Regelrechte Lügen ließ Propagandaminister Joseph Goebbels über die finanziellen Bezüge der Abgeordneten in Umlauf setzen. Als im Herbst 1933 ein Leser des „Völkischen Beobachters“ Auskunft erbat, wie es denn nun um die Diäten der Reichstagsmitglieder bestellt sei, bekam er eine Mitteilung von der „Rechtsauskunft“ des von Goebbels herausgegebenen Blattes „Der Angriff“: „Die Abgeordneten erhalten nur Diäten, wenn das Parlament tagt und sie anwesend sind.“ In Wahrheit bekamen die Abgeordneten Monat für Monat 600 Reichsmark ausgezahlt – und das, obwohl der Reichstag nur noch selten zu Sitzungen zusammentrat. Dabei hatte sich doch der „Völkische Beobachter“ noch im Juni 1933 – in Fortsetzung der jahrelangen antiparlamentarischen Propaganda – darüber mokiert, was „die Marxisten an Diäten schluckten“.

Auch hier sah die NSDAP eine Gelegenheit, die Parteikasse zu entlasten. Hauptamtlichen Parteiangestellten wurden die Diäten auf das Gehalt angerechnet und nur der Differenzbetrag ausbezahlt. Das führte in der NS-Kaste zu Mißhelligkeiten. Denn Staats- und Kommunalbeamte – so der Multifunktionär Hermann Göring – und auch die Leute aus der Wirtschaft kassierten die Aufwandsentschädigung für Abgeordnete zusätzlich zu ihren anderen Bezügen. So verwundere es nicht, „daß manche Abgeordnete auf sonstige Weise ihre Einkünfte zu erhöhen suchten“ und „insbesondere Aufsichtsratsposten eine hohe Anziehungskraft ausübten“, schreibt Peter Hubert in seiner Untersuchung „Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933-1945“ (Droste Verlag Düsseldorf, 1992).

Doch die Tätigkeit als Aufsichtsräte war den Reichstagsmitgliedern bis 1936 offiziell verboten. Danach bedurfte sie einer Genehmigung durch den Chef der NSDAP-Fraktion Frick. Doch wurde alles so heiß nicht gegessen. Erst nachdem Hitler 1940 in einer Rede die Verhältnisse im „plutokratischen“ England gegeißelt und ausgerufen hatte: „Kein Abgeordneter darf Aufsichtsrat sein, es sei denn unbezahlt“, nahm man die Sache etwas genauer. Nach Aufforderung Fricks gaben 1941 plötzlich 183 Reichstagsmitglieder ihr Wirken als Aufsichtsräte an und ließen es so de facto legalisieren.