Heide, Akvavit und Kolonisten

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Von Kümmeltürken und Kartoffeldeutschen

Von Holger Becker

Kümmeltürke? Nein das sagt man nicht. Im deutschen Neusprech gilt es als „rassistische“ Beleidigung gegenüber „Mitbürgern mit Migrationshintergrund“, vorzugsweise jenen, deren familiäre Wurzeln in dem großen Land beiderseits des Bosporus liegen. Wird es in diesem Zusammenhang benutzt, ist es in jedem Fall falsch und bescheuert. Denn die türkische Küche meidet den Kümmel. Sie würzt gern mit Cumin. Das trägt in Deutschland auch den Namen Kreuzkümmel, hat aber mit dem zwischen Holland und Sibirien als Gewürz verwendeten Kümmel nur gemein, ebenfalls der Same einer Doldenblütlerpflanze zu sein, anregend auf die Verdauung zu wirken und dem europäischen Kümmel äußerlich sehr zu ähneln.

Kümmel. Die Kümmeltürken stammen aus der Gegend um Halle an der Saale
Foto: Slick / wikimedia commons, CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

Doch beide schmecken recht verschieden. Unser braver Kümmel, der dem Geschmack von Sauerkraut, Gulasch oder Kartoffeln einen besonderen Kick geben kann, entwickelt ein eher herbes Aroma. Für die Norddeutschen ist er Zutat einer nach ebendiesem Gewürz benannten Branntweinsorte, ihre skandinavischen Brüder und Schwestern im Geschmack brauchen ihn für ihren Akvavit. Ganz anders das Cumin, ohne das auch Inder, Iraner, Chinesen, Nordafrikaner und allerlei Lateinamerikaner nicht auskommen. Es schmeckt scharf und leicht bitter, mit Anklängen von Zitrone und Anis. Falafel ohne Cumin geht gar nicht. Ein Chili con Carne macht erst der Kreuzkümmel perfekt, der ebenso in die für jeden Koch, der den Essern Gutes will, unverzichtbaren Gewürzmischungen Curry und Harissa gehört.

Die wahren „Kümmeltürken“, die gab es nämlich, scherten sich um ihre Benamsung wenig. Sie kamen aus der Gegend um Halle an der Saale, die schon Ende des 18. Jahrhunderts die Hochburg des Anbaus von Gewürzen in Deutschland war. Wer von den damaligen Hallenser Studenten aus diesem Umland stammte, wurde – im Unterschied zu den in der Stadt beheimateten „Pflastertretern“ – „Kümmeltürke“ genannt. Den Begriff, der auch in der studentischen Sprache an anderen Universitäten seinen Platz fand, überlieferten insbesondere Literaten der deutschen Romantik, so Achim von Arnim in seinem Drama „Halle und Jerusalem“, so Clemens Brentano in seinem Märchen „Der Baron Hüpfenstich“, so schließlich E.T.A Hoffmann in seiner Novelle „Der goldene Topf“.

Mit politischer Geographie, also der damals als Osmanisches Reich firmierenden Türkei mit einem Staatsterritorium, das fast den gesamten Balkan, ebenso Syrien, den Irak, Palästina und noch einige andere Kleinigkeiten einschloß, hatte das alles wenig zu tun. „Türkei“ hatte sich als Synonym für abgelegene und öde Gegenden mit einer überwiegend armen Bevölkerung eingebürgert. Und wo Goethe in seinem Faust den klassischen Spießer über sein Behagen schwafeln läßt, „…wenn hinten, weit, in der Türkei,/ Die Völker aufeinander schlagen“, mögen Sprachpolizisten ihre Beckmesser ruhig im Gürtel lassen. Unser großer Wolfi kann alles mögliche gemeint haben. Die Lausitz zum Beispiel galt als „Hundetürkei“.

Die 1766 erbaute Kirche der Kartoffeldeutschen in Frederiks
Foto: Holger Becker

Seit neuestem tritt dem „Kümmeltürken“, zumindest in den Zeitungen, der „Kartoffeldeutsche“ entgegen. Tja, was meint das nun wieder? Folgen wir Jakob Augstein, dem Herausgeber des Wochenblattes „Freitag“, handelt es sich um etwas ähnliches wie die historischen „Kümmeltürken“, zurückgebliebene Leute, irgendwie unurban, in jedem Fall „rassistisch“. In der hysterischen Debatte um den Rücktritt des Fußball-Veteranen und – Millionärs Mesut Özil meinte Augstein, „nicht die Muslime sind das Problem, sondern die Kartoffeldeutschen“ (spiegel-online.de, 30. Juli 2018).

Sicher können wir den Sohn zweier Millionäre – von „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein (rechtlicher Vater) und Schriftsteller Martin Walser (leiblicher Vater) – mit seinen Abgrenzungsproblemen allein lassen. Er teilt sie mit manchem verirrten Bürgerkind, das seine Rechnungen noch nie wirklich selbst bezahlen mußte. Aber gesagt sein soll: Wenn Augstein sich über „Kartoffeldeutsche“ mokiert, ist das keineswegs besser oder intelligenter als die Auslassungen der AfD-Knalltüte André Poggenburg über „Kümmelhändler“ auf einer Karnevalsveranstaltung im Februar 2018. Poggenburg kam in Weißenfels zur Welt, von wo man es nur 30 Kilometer bis Halle hat und dorthin durch die klassische „Kümmeltürkei“ fährt.

Aber lassen wir das. Wie die „Kümmeltürken“ hatten auch die „Kartoffeldeutschen“ ihren Auftritt in der europäischen und deutschen Geschichte. Ein Teil ihrer Nachfahren lebt auf der dänischen Halbinsel Jütland, ein anderer in Rußland. Was hat es auf sich mit ihnen?

Als im 18. Jahrhundert der Dänen-König Friedrich V. rund eine Million Hektar brachliegender Heide im mittleren und südlichen Jütland verstaatlichte, brauchte er einen Plan für das bis dahin kaum nutzbare Land. Kein dänischer Bauer wollte den sandig-unfruchtbaren Boden unter den Pflug nehmen. Und drei mecklenburgische Familien, die sich 1755 die riesige Heidefläche näher besahen, gaben schon nach wenigen Tagen Fersengeld. So ließ der König endlich zwischen 1759 und 1762 arme Bauern aus Baden, Württemberg, Hessen, der Pfalz und der Schweiz nach Norden locken. Seine Werber versprachen den Ausländern alles mögliche: ein Leben ohne Steuern, Fronarbeit und Militärdienst, zwölf Hektar Land für jeden, eine Kuh plus zwei Zugochsen, fertige Hofstellen und Religionsfreiheit. Rund 4.000 Menschen sollten so auf dänischem Boden, zu dem auch Südschleswig gehörte, angesiedelt werden.

Gedenkstein für Kartoffeldeutsche auf dem Friedhof von Frederiks
Foto: Holger Becker

In die großen Heidegebiete bei Viborg, der alten Hauptstadt der Jüten, und Billund, wo heute das Legoland liegt, kamen 265 Familien, deren 965 Angehörige recht bald enttäuscht wurden. Die fertigen Hofstellen erwiesen sich als Luftschlösser. Viele der Kolonisten mußten erst einmal bei Einheimischen wohnen, mit denen es bald Streit gab. Denn die autochthonen Dänen waren sauer auf Privilegien der Zugezogenen, insbesondere die Steuerfreiheit. Es kam zu handfesten Streitigkeiten, und schnell platzte für viele der Traum vom besseren Leben.

Nur 61 der Zuwandererfamilien blieben in dieser Sand- und Heidetürkei. Sie ackerten auf ihren Feldern wie die Kümmeltürken, also wie Gewürzbauern der Hallenser Gegend. Und sie taten das, was man „sich assimilieren“ nennt. Was aber ein bißchen dauerte. Die Kolonisten hatten ihre eigene Kirche und zwei Schulen, in denen der Unterricht bis 1835 nur auf deutsch stattfand. Doch die Liebe zwischen Frau und Mann ebnete die Unterschiede zwischen Einheimischen und Zugewanderten ein. Schon 1864 im Deutsch-Dänischen Krieg ließen letztere keinen Zweifel an ihrer Loyalität zur neuen Heimat.

Wappen der Kartoffeldeutschen. Es zeigt links die Landeswappen Hessens und Württembergs, in der Mitte das „Kartoffelmädchen”
Foto: Holger Becker

Die Dänen bewahrten den ausharrenden Kolonisten ein ständiges Andenken. Sie nannten sie „Kartoffeltysker“, die „Kartoffeldeutschen“. Was keineswegs abfällig gemeint war. Denn die süddeutschen Bauern hatten die auf Jütland bis dahin unbekannte Kartoffel mitgebracht, die den Speiseplan nun auch im Norden gründlich modeln sollte.

Ein Teil jener „Kartoffeldeutschen“, denen das Leben in der Heide zu hart war, ging wieder auf Treck nach Süden. Viele aber folgten 1763 dem Ruf der Zarin Katharina II., Steppengebiete an der Wolga und einige andere Plätze in Rußland zu besiedeln. Spuren von ihnen finden sich noch heute, so im ehemaligen Jekatharinenstadt, welches ab 1920 Marxstadt hieß und ab 1919 ein paar Jahre administratives Zentrum jenes autonomen Gebietes der Wolgadeutschen war, das 1924 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (mit der Hauptstadt Engels) befördert und 1941 aufgelöst wurde. Sowjetführer Josef Stalin befahl damals – nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion – nicht nur die Deportation der Wolgadeutschen in die Wege zu leiten, sondern auch Marxstadt in Marx umzubenennen. So heißt die Kommune noch heute.

Der heutige dänische Hauptort der „Kartoffeldeutschen“ hört auf den Namen Frederiks, was sich nun aber nicht von Friedrich Engels ableitet, sondern von jenem Friedrich V. (dänisch: Fredrik 5.), der die „Kartoffeldeutschen“ in die Heide bei Viborg holte. Auf dem Friedhof von Frederiks gleich neben eben jener 1766 für die am Ort verbliebenen Kolonisten erbauten Kirche trägt ein großer Feldstein die Namen der in der Gegend verbliebenen Zuwandererfamilien: von Agricola und Betzer bis Winkler und Würtz. Die meisten der Namen finden sich auch auf jüngeren Grabsteinen wieder.

Die Internetseite des 1985 gegründeten Heimatvereins der „Kartoffeldeutschen“ (www.kartoffeltysker.dk) kommt auf Dänisch daher. Der Verein betreut ein kleines Museum im nahen Grønhøj, dem die Wirtsfamilie des historischen Gasthofes „Grønhøj Kro“ in einem eigenen Häuschen Quartier gegeben hat. Die Ausstellung erklärt ihre Schätze auch auf Deutsch.

„Nye danske kartofler“ („Neue dänische Kartoffeln“), wer das Schild am Straßenrand sieht, sollte zuschlagen. Die Knollen, offeriert auf Wägelchen, in Kisten oder Holzhäuschen am Wegesrand, sind frisch und gut. Man zahlt 10 bis 15 Dänenkronen in eine Kasse des Vertrauens und nimmt ein Beutelchen mit. Dänemark ist, was die landestypischen Speisen angeht, eine Kartoffelnation. Daß die südamerikanischen Knollen wahrscheinlich das Beste sind, was ihnen Deutsche gebracht haben, werden die Dänen mühelos zugeben, auch wenn sie ansonsten einige sehr schlechte Erfahrungen mit ihren südlichen Nachbarn machen mußten.

September 2018