Westberliner Schattenmann
Ulrich Biel – aus dem Leben eines besonderen Strippenziehers und Fossils des Kalten Krieges
Von Holger Becker

Wer zu recht die Kolonisierung Ostdeutschlands in den letzten drei Jahrzehnten beklagt, die dazu geführt hat, daß seine Ureinwohner in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Justiz und höherer Verwaltung wenig zu sagen haben, sollte eine zweite Verliererregion nicht übersehen: das alte Westberlin. Zwar haben die Zehlendorfer Witwen und die Spandauer Studienräte sowie deren Erben um ihre Villen und Häuschen nie bangen müssen, zwar haben in der „selbständigen politischen Einheit“ (Walter Ulbricht) geborene Deutsche diskriminierungsfrei, also ohne „Regelanfrage“ auf „Stasitätigkeit“, politische Ämter anstreben dürfen – in alledem gleichen sie den Westdeutschen –, aber in der öffentlichen Mentalitätspflege steht das alte Westberlin deutlich hintenan.
Einige Jahre lang gab es im Fernsehen noch spezielle Sendungen, die Filme aus der „Abendschau“ als früherer Westberliner TV-Nachrichtensendung boten (recht interessant übrigens, weil sie dokumentierten, wie ausführlich und kritisch die Lokalberichterstattung seinerzeit war). Doch das ließ nach, als der SFB (Sender Freies Berlin) seine Tätigkeit als selbständige öffentlich-rechtliche Einheit 2003 beendete und mit dem ORB (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) zum RBB (Radio Berlin-Brandenburg) verschmolz. Kurz danach starben auch noch Günter Pfitzmann und Harald Juhnke, zwei der wichtigsten Identitätsheroen der vormaligen „Frontstadt“. Eine erfolgreiche und überwiegend gute Dokumentarserie „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ behandelt inzwischen beide Stadthälften retrospektiv gleichrangig, während Pittiplatsch und das Sandmännchen als unverwüstliche Figuren des DDR-Fernsehens eine Art kultureller Hegemonie aufrichten konnten und in Darstellungen der Skyline Berlins der Fernsehturm Ost den Funkturm West mehr und mehr verdrängt.
Da kann es passieren, daß auch die Erinnerungen an bestimmte Politiker verblassen. Wer kennt noch den Namen Ulrich Biel? Ja, der Mann saß eine zeitlang für die CDU im Westberliner Abgeordnetenhaus, war sogar dessen Alterspräsident. Aber deswegen muß man sich ihn nicht merken. Seine wirkliche Bedeutung läßt sich ahnen, wenn man weiß, daß zur Einweihung seines Privathauses 1958 in Dahlem die US-Politstrategen Henry Kissinger (1923 bis 2023) und Zbigniew Brzezinski (1928 bis 2017) erschienen. Biel war wahrscheinlich in Westberlin der einflußreichste politische Strippenzieher in der Hochzeit des Kalten Krieges. Der Jurist Martin Otto widmet ihm eine sehr freundlich gesonnene biographische Darstellung, deren Faktenreichtum aber erkenntnisstiftend wirkt.
Eigentlich hieß sein Protagonist Bielschowsky und wurde 1907 als Sohn einer begüterten jüdischen Familie in Charlottenburg geboren. 1934 gelang es dem jungen Juristen, vor dem Rassenwahn der Nazis nach New York zu fliehen, wo er seinen Namen auf das für dortige Zungen freundlichere Biel abschliff. Als seine Mutter im Ghetto von Riga und seine Großmutter im KZ Theresienstadt umkamen, war er schon in die US-Army eingetreten und arbeitete dann für den militärischen Geheimdienst. In dessen Auftrag betrat er im April 1945 wieder deutschen Boden und sprach in Rhöndorf zwei Tage lang mit Konrad Adenauer (1876 bis 1967) über die Zukunft Deutschlands. In einem Memorandum empfahl Biel den fast 70jährigen ehemaligen Kölner Oberbürgermeister für politische Führungsaufgaben. Laut Martin Otto hatte das vor allem folgenden Grund: „Mit Adenauer, so das Kalkül, sollte es leichter möglich sein, zumindest einen Teil des besiegten Deutschlands vom Machtbereich der Sowjetunion fernzuhalten.“ Solch einen nennt man wohl einen „Vordenker“: Während der Krieg nicht vorbei und die Alliierten der Antihitler-Koalition die „Potsdamer Konferenz“ noch vor sich hatten, faßte der Geheimdienstmann schon die Teilung Deutschlands ins Auge – so wie vermutlich hochrangige Gleichgesinnte.
Biel, der mit der Personalempfehlung Adenauer voll ins Schwarze traf, war ein in der Wolle gefärbter Antikommunist. Als rechte Hand des späteren US-Stadtkommandanten Frank L. Howley (1903 bis 1993) zog er im Juni 1945 in den für die US-Amerikaner reservierten Sektor Berlins ein und begab sich sofort auf die Suche nach Leuten seiner Denkungsart. Laut Otto sah er das größte antikommunistische Potential – neben der katholischen Kirche – bei der SPD. Neben Kurt Schumacher (1895 bis 1952), dem sozialdemokratischen Anführer in den Westzonen, traf er sich ab November 1946 regelmäßig mit Ernst Reuter (1889 bis 1953), der zum Gewährsmann US-Amerikaner und Briten und schließlich Oberbürgermeister Westberlins werden sollte. Otto zitiert Biel: „Monatelang“ habe Reuter ihn jeden Morgen zum Frühstück aufgesucht, bei dem „alle wichtigen Fragen durchgeknautscht“ worden seien. Schon im März 1946, so geht aus dem Buch hervor, war Biel der wichtigste Mann im Hintergrund, um jene Abstimmung unter den Westberliner Sozialdemokraten zu organisieren, die eine eine Vereinigung mit der KPD in der Halbstadt verhinderte.

Es sei nicht zu hoch gegriffen, in Biel einen der „politischen Architekten“ Westberlins zu sehen, meint Otto. Da hat er wohl recht. Zu befürchten ist, daß Biels recht bedenkenlose Haltung zum Einsatz auch der fürchterlichsten militärischen Mittel wieder in vollem Umfang salonfähig und das politische Fossil zur Leitfigur wird. Die umfangreiche Blockade Westberlins 1948 – von der Sowjetführung nach einseitiger Einführung der D-Mark als Zahlungsmittel verhängt – hätte er nicht mit einer Luftbrücke beantworten wollen, sondern: „Wenn es allein nach mir gegangen wäre, hätten wir uns zu Beginn der Blockade den freien Zugang nach Berlin mit einem massiven Truppeneinsatz die Marienborn erzwungen.“ Was angesichts fehlender Möglichkeiten, die „Rote Armee“ mit konventionellen Mitteln in die Knie zu zwingen, den Einsatz von Atomwaffen bedeutet hätte, über die zu diesem Zeitpunkt nur die USA verfügten. Mehr Licht in Biels Aktivitäten würden Geheimdienstakten aus Ostberlin, Moskau und den USA bringen, meint Otto. Doch die seien „überwiegend nicht mehr auffindbar“, was sich ja eigentlich nur auf die Akten der DDR-Staatssicherheit beziehen kann.
2022