Schirm in Scheretmetjewo

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 1)

Eines schönen Tages zwischen dem 11. und 15. September 1965 rief Traudel Holzki, die Sekretärin von Hermann Axen, mich mit ernster Stimme „zum Chef“. Axen war zu dieser Zeit nicht nur Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“, sondern auch „Kandidat des Politbüros des ZK der SED“ und ein enger Vertrauter des SED-Chefs Walter Ulbricht. Wenn Axen rief, ging es „um größere Beträge“. „Setz dich, Harald, eine Hiobsbotschaft.“ Der kleine, rundliche ND-Chef zog mich zu einem der abgewetzten Sessel der altmodischen Sitzgruppe in seinem Arbeitszimmer im zweiten Stock der damaligen ND-Redaktion in der Berliner Mauerstraße. Axen wirkte aufgelöst.

Aus „Neues Deutschland“ vom 24. Mai 1964: links neben Marlene Dietrich der Moskauer ND-Korrespondent Franz Krahl

Seine Jacke hing über der Lehne eines Stuhles am Sitzungstisch. Die Ärmel des weißen Hemdes waren aufgekrempelt. Obschon ich seit 1959 unter Axens Leitung im ND arbeitete, konnte ich erstmalig die auf dem Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer betrachten. Als junger Kommunist jüdischer Abstammung hatte Axen Auschwitz überlebt. Seit September 1963 zog Axen mich bei „ernsten Problemen der hohen Politik“ hin und wieder ins Vertrauen. Damit „honorierte“ er offenbar meine Mitarbeit am „Kommuniqué des Politbüros ´Der Jugend Vertrauen und Verantwortung´“, das zwar in Teilen der SED-Führung und in „MfS-Kreisen“ umstritten war, unter der Bevölkerung aber wie eine „Botschaft der Hoffnung“ empfunden wurde und zu einer neuen Aufbruchstimmung geführt hatte.

In der Sowjetunion allerdings war das berühmte „Jugendkommuniqué“ vom September 1963 nie komplett veröffentlicht worden. Jetzt, zwei Jahre später, eröffnete der ND-Chefredakteur dem Leiter der Redaktionsabteilung Wissenschaft unter dem Siegel der Verschwiegenheit, es gebe „einen Riesenärger mit den Freunden“. Völlig überraschend hätten sich „die sowjetischen Genossen“ beim „Genossen Walter persönlich“ über den Moskauer ND-Korrespondenten Dr. Franz Krahl beschwert und dessen sofortige Abberufung verlangt. Was genau vorgefallen sei, müsse noch geklärt werden. Um aber den bevorstehenden Staatsbesuch Walter Ulbrichts in Moskau nicht zu belasten, sei Krahl „über Nacht aus Moskau abgezogen worden“.

Die Vorwürfe, mit denen die Breshnew-Bürokratie den ND-Korrespondenten zur „Persona non grata“ (unerwünschte Person) erklärte, waren ebenso absurd wie bezeichnend: Erstens habe Krahl „in einigen Fällen nicht gute oder unangebrachte Fragen gestellt“ – beispielsweise – auf der internationalen Pressekonferenz zur Internationalen Chemie-Ausstellung am 9. September 1965 in Moskau – bei einer Besichtigung einer Moskauer Textilfabrik (wo Krahl eine Arbeiterin gefragt habe, ob sie den Werkdirektor schon mal in der Fabrikhalle gesehen habe) – bei einer Reise ausländischer Journalisten „durch die baltischen Republiken der UdSSR“. Zweitens habe Krahl „die Tendenz, auf Cocktailpartys westlicher Korrespondenten in der sowjetischen Hauptstadt länger als die notwendigen 20 bis 30 Minuten zu bleiben“. Urheber dieser Vorwürfe war die „Presse-und Informationsabteilung“ des KGB-nahen Moskauer „Komitees für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland“.

Nikita Chruschtschow und Walter UlbrichtZentralbild am 15. Januar 1963 auf dem VI.Parteitag der SED in Berlin
Foto: ADN/Zentralbild, Helmut Schaar, Bundesarchiv, Bild 183-B0115-0010-082 / CC-BY-SA 3.0

Mit Punkt 2 räumten die Sowjets unverfroren ein, den Korrespondenten der „Bruderzeitung“ „Neues. Deutschland“ in Moskau systematisch bespitzelt zu haben. Deshalb wohl hatte Ulbricht dem ND-Chef geraten, die Moskauer Vorwürfe vor der Redaktion geheimzuhalten. Das aber ließ sich in den folgenden Wochen nicht durchhalten. In einer auf den 28. September 196S datierten „Stellungnahme für das Reaktionskollegium“ hielt Krahl die Moskauer Vorwürfe schriftlich fest. Axen ließ das sechsseitige Papier nach der Behandlung im Kollegium wieder einsammeln. Mein Exemplar wurde dabei „vergessen“ Ich hob es für die Nachwelt auf. Der Vorgang, dessen Tragweite im September 1965 weder Axen noch Wessel voraussehen konnten, erschien mir gleichwohl so ungeheuerlich, daß er privat archiviert zu werden verdiente.

Beim Vieraugengespräch in Axens Arbeitszimmer erfuhr ich die Moskauer Vorwürfe nur vage. Um meinen besorgten und bedrückten Chef etwas aufzuheitern, sagte ich: „Das ist vermutlich Rache für Marlene“. Axens Mine hellte sich etwas auf. Er begriff aber nicht, was ich meinte. Auch Chefredakteure lesen gewöhnlich nicht jeden Beitrag, der in ihrem Blatt steht. Den Bericht „Marlenes ´russische Seele´“ von „Dr. Franz Krahl, Moskau“ im ND vom 23. Mai 1964 hatte Axen entweder übersehen oder vergessen.

Am 19. Mai 1964 war Marlene Dietrich mit einer Caravelle auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo gelandet. Unter den in strömendem Regen am Heck der französischen Linienmaschine wartenden Journalisten auch der frischgebackene Moskauer ND-Korrespondent Krahl. Vom Rollfeld aus sehen die Reporter immer zuerst die Beine der aussteigenden Passagiere. Im Chor: „Das ist sie nicht, das ist sie nicht.“ Krahl: „Aber dann kam ein Bein, und das war unverkennbar: Marlene Dietrich.“ Die sowjetischen Offiziellen, die Marlene abholten, hatten keinen Regenschirm. Krahl, der Kavalier, sprang mit seinem Schirm ein. Da der Schirm ein Londoner Modell war (aus Krahls Zeit als ND-Korrespondent in Großbritannien), hielt der Kollege vom „Daily Express“ die Szene fest.

Das Foto ging um die Welt: „Marlene in Moskau unter einem ND-Schirm aus London“. Und so erfuhr auch alle Welt, wie es in Scheremetjewo mit Schirmen aussieht. Krahls spektakulärer Einstand in Moskau muß das „Komitee für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland“ gleich auf die Palme gebracht haben. Heute kann man über die Schirm-Affäre nur den Kopf schütteln. Damals aber war sie ein Indiz für gar nicht leichtzunehmende politische Widersprüche. Es ging ja in Wirklichkeit nicht um Krahls Spezialkenntnisse in weiblicher Anatomie, nicht um den Besitz eines Londoner Regenschirms, auch nicht um die zulässige Verweildauer auf westlichen Cocktailempfängen, sondern um die aus Moskauer Sicht bedenklich zunehmenden „Eigenmächtigkeiten der deutschen Genossen“.

„Stellungnahme“ des auf Moskauer Druck abgelösten ND-Korrespondenten. Franz Krahl ist der Vater des Musikers Toni Krahl von der Band „City“

Im Januar 1963, auf dem VI. Parteitag der SED, hatte Ulbricht (noch von Nikita Chruschtschow ermuntert) endlich und zaghaft mit einer Politik innerer Reformen in der DDR begonnen. Die Sache gewann eine eigene Dynamik, als neue, jüngere und kompetentere Leute sich der Reformansätze annahmen – beispielsweise Erich Apel der Wirtschaftsreform, Kurt Turba einer zeitgemäßen Jugend- und Bildungspolitik, Hans Bentzien einer dosierten Liberalisierung der Kulturpolitik und nicht zuletzt der Forum-Kreis einer offenen kritischen Erörterung der Zustände in der DDR.

Als Apel im Sinne des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) eine Änderung der (einseitig auf Moskau orientierten) Außenhandelsstruktur der DDR anstrebte, wurde man im Kreml hellhörig. Als Turba für den Mai 1964 ein „Deutschlandtreffen der Jugend“ statt eines „Nationalen Jugendfestivals der DDR“ bei Ulbricht durchsetzte, durften sowjetische Zeitungen den Begriff „Deutschlandtreffen nicht verwenden. Und der im Herbst 1964 (unmittelbar nach Chruschtschows Sturz!) gefaßte SED-Beschluß „Zur Verbesserung des Zentralorgans ´Neues Deutschland´“ stieß sogleich bei den besonders moskauhörigen SED-Spitzengenossen auf Ablehnung. Inspiriert aus Karlshorst war eine zunächst konspirativ „wühlende“, aber seit Breshnews Machtantritt zunehmend „mutiger“ wirkende „Kommission“ gebildet worden, die sich (unter Leitung Erich Honeckers!) als „Gegen-Kommission“ gegen die vom SED-Politbüro im September 1963 einstimmig (!) berufene „Jugendkommission“ verstand. Einige Leute waren nur damit beschäftigt, jede neue Ausgabe der Studentenzeitung „Forum“ nach „ideologischen Fehlern“ zu durchsuchen.

Wie sich in den Wochen und Monaten bis zum 11. Plenum (SED-ZK-Tagung von Dezember 1965) zeigen sollte, bildete der Fall Krahl den internen Auftakt zu einer neuerlichen Disziplinierung Ulbrichts und der SED, zu einer „schleichenden Intervention“ der sowjetischen Besatzungs- und Schutzmacht in ihrer „sozialistischen Kronkolonie“ DDR. Die Intervention zielte auf eine langfristige verstärkte wirtschaftliche Ausbeutung der DDR. Und zu diesem Zweck hatte die Intervention einen rigoros „gegenreformatorischen“ und restaurativen Charakter. Franz Krahl hatte seiner „Stellungnahme“ vom 28. September 1965 einen „Streng vertraulichen“ „Bericht über meine Frage auf der Pressekonferenz zur Moskauer Chemieausstellung am 9. September 1965“ beigelegt. Krahl hatte dort arglos wissen wollen, wieso die Zahl der an der Ausstellung teilnehmenden Länder zunächst mit 20 und nun plötzlich mit 21 angegeben wurde. Der Hintergrund: Um sowohl von der BRD- als auch von der DDR-Chemie zu profitieren, hatte der Kreml zunächst Bonn „zufriedengestellt“ und Westberlin nicht als „selbständige politische Einheit“ (Ulbrichts Marotte) gezählt, um sich dann die Zahl 21 von der DDR mit Zugeständnissen bei dem in Verhandlung stehenden neuen langfristigen Handelsvertrag DDR-UdSSR „bezahlen“ zu Iassen.

Ob so etwas mit anderen geteilten Ländern machbar gewesen wäre, sei dahingestellt. Jedenfalls stand Ulbrichts Staatsbesuch in der Sowjetunion ab 17. September 1965 unter keinem guten Stern. Nach Krahls abruptem Rausschmiß aus Moskau beschäftigte Axen die Frage, wer nun über die Ulbricht-Reise berichten sollte. Er gab die Frage im Vieraugengespräch an mich weiter. Ich redete mich mit „völlig ungenügenden Russischkenntnissen“ heraus. So entging mir ein Staatsbesuch besonderer Art, von dessen „Mysterien“ die deutschen Beteiligten noch lange wundersame Dinge berichteten. Auf einer Bohrinsel bei Baku hat Ulbricht noch einmal (im Sinne Erich Aphels) für wissenschaftlich-technische Intensivierung der Wirtschaft plädiert, während Erich Honecker sich in Baku mit Lobsprüchen über die „unzerbrechliche Freundschaft mit der Sowjetunion“ empfahl.

Albert Norden (links), im SED-Politbüro zuständig für die DDR-Medien, und ND-Chefredakteur Hermann Axen am 15. Januar 1963 auf dem VI. SED-Parteitag Foto: ADN/Zentralbild, Horst Sturm, Bundesarchiv, Bild 183-B0115-0010-063 / CC-BY-SA 3.0

Das Bohrinsel-Timing war perfekt: Ulbricht war genau am 20. September 1965 weitgehend von Berlin abgeschnitten. Vor dem 15. September wollte Axen von mir wissen, was ND „zum 2. Jahrestag des Jugendkommuniqués“ bringen, werde. „Turba schreibt uns einen Leitartikel“, war die Antwort. Axen nickte. Doch am Nachmittag des 20. September ließ Axen mich telefonisch wissen, er habe aus Baku von Honecker die Weisung: „Zum Jahrestag des Jugendkommuniqués nichts auf Seite 1“. Turbas Leitartikel verschwand im Inneren des Blattes. Damit war für den SED-Parteiapparat ein unmißverständliches, „gegenreformatorisches“ Signal gesetzt.

Seine Wirkung sollten wir schon wenige Tage später beim Jugendtreffen In Gera beklemmend spüren. Die eigenartige (und statutenwidrige) Weisung Honeckers aus Baku muß die „Junge Welt“ nicht erreicht haben. „Junge Welt“ erschien am 21. September 1965 mit einem Aufsatz „Die Verantwortung der Jugend für Deutschland“ auf der ersten Seite und mit vier vollen Seiten über das „langfristig verbindliche“ Kommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“. Letztmalig war von den berühmten „Hausherren von morgen“ die Rede – ein Begriff, der im Januar/Februar 1966 per „Sprachregelung“ aus allen DDR-Medien verschwand. – Franz Krahl aber konnte auf Beschluß des Kollegiums (trotz der Moskauer Demarche) weiterhin in der ND-Redaktion arbeiten – als Fachmann für Weltwirtschaft…

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