„Betrifft die Kritik…“

Ausflüge in die kleine und die große Welt : Kennedy-Mord, Reichstagsbrand und die „Verschwörungstheoretiker“-Legende

Von Holger Becker

Wer einen Mitbürger öffentlich ohne stichhaltige Belege als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet, so die Erfahrung, ist im Regelfall ein intrigant-karrieregeiler Anpaßler, stinkfauler Dummbatzen oder Konfident eines geheimen Dienstes. Er oder sie kann auch alle genannten Merkmale auf sich vereinen. Das eine paßt so gut zum anderen wie zum dritten. Und gerade die Kombination des Genannten führt in der Politik und im Journalismus nicht selten auf die „gähnenden Höhen“ des beruflichen Erfolgs.


Kurz vor dem Mord an John F. Kennedy am 22. November 1963 im texanischen Dallas. Die Zweifel am offiziellen Untersuchungsbericht, nach dem ein einzelner Schütze das Attentat ausgeführt haben sollte, konterte die CIA weltweit mit der Behauptung, es handele sich um eine „Verschwörungstheorie“ Foto: wikimedia commons/ Victor Hugo King

Wir wollen das Problem dieser Menschensorte in seinen vielfältigen Verästelungen hier nicht näher untersuchen. Wer sich das 1976 erschienene Buch „Gähnende Höhen“ von Alexander Sinowjew (1922 bis 2006) besorgt, wird genügend Fingerzeige finden. Der Moskauer Logiker, Schriftsteller und Maler beschrieb darin die Sowjetunion der Breschnew-Ära, wofür ihn sein Heimatland 1978 ausbürgerte. Bei einem Gespräch 1992 in seiner Münchner Wohnung – Sinowjew kehrte erst 1999 nach Rußland zurück – meinte er, die Politkaste im Westen habe durchaus Ähnlichkeit mit der Nomenklatura der Sowjetunion.

Wem einfach so das Etikett angeklebt wird, ein„Verschwörungstheoretiker“ zu sein, muß irgendwann aufpassen, nicht hinter der nächsten Ecke auf Leute zu stoßen, die ihn in eine Zwangsjacke stecken. Denn meistens wird ihm oder ihr eine Nähe zum Irrsinn unterstellt, zu Zeitgenossen etwa, die meinen, ihr Gehirn werde mittels irgendwelcher Strahlung von außen manipuliert, wogegen ein Hütchen aus Aluminium helfe, wie es der Verhaltensforscher, Schriftsteller und spätere erste UNESCO-Generalsekretär Julian Huxley (1887 bis 1975) im Jahr 1927 in einer Science-Fiction-Erzählung als angebliche Möglichkeit des Schutzes vor telepathischer Einwirkung erwähnt. Die da den „Aluhut“ aufgesetzt bekommen, aber sind oft Wissenschaftler, Journalisten oder Künstler, die ein paar Dinge aus der Welt, in der wir leben, genauer wissen möchten, die sich nicht mit offiziellen Beschreibungen zwielichtiger Vorgänge und Zusammenhänge abspeisen lassen wollen. Besteht die Gefahr, daß größere Teile der Bevölkerung ihre begründeten Zweifel teilen, ruft garantiert jemand schön laut „Verschwörungstheorie“, damit aus dem Mediendschungel und den Tiefen des Internet vieltausendfach widerhallt: Verschwörungstheorie, Verschwörungstheorie.

So geht es, um nur zwei zu nennen, dem ehemaligen Kultur- und Wissenschaftsredakteur der „taz“ Mathias Bröckers und dem Schweizer Historiker und Autor Daniele Ganser. Bröckers fand viele Leser mit seinen Internet-Texten und einem Buch, in denen er begründete Zweifel an der offiziellen Beschreibung der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA ausbreitete, die dem damaligen US-Präsidenten George Bush jr. den Anlaß boten, den weltweiten „Krieg gegen den Terror“ auszurufen. Dieser forderte dann in Afghanistan, im Irak, in Pakistan und an vielen anderen Stellen nach Angaben der internationalen Ärzteorganisation IPPNW bereits jetzt über eine Million Menschenleben. Daniele Ganser seinerseits legte ein Buch über jene NATO-Geheimarmeen vor, deren Existenz und mutmaßliche Verwicklung in verschiedene Terror-Verbrechen in den 1990er Jahren erstmals unter den Begriffen „Gladio“ und „Stay behind“ öffentlich wurde. Und er schrieb über „illegale Kriege“ der NATO, so auch den jüngsten in Syrien, der Menschen in großer Zahl in die Flucht nach Europa treibt. Weder öffentlich-rechtliche noch in Privateigentum stehende Medien setzen sich damit in der Sache merkbar auseinander. Aber bei keiner Nennung der Namen Bröckers und Ganser fehlt der Zusatz, sie handelten mit „Verschwörungstheorien“.

Die Etikettenkleber – siehe Satz eins dieses Textes – müssen armselige Kreaturen sein, denen aber auch gar nichts peinlich sein darf. Denn es ist ja längst kein Geheimnis mehr, wer warum und wie die Karriere besagten Begriffs als multiples Kampfmittel der psychologischen Kriegführung begründet hat. Kein Scherz war es, als die Abteilung PW/CS („Psychological Warfare/Clandestine Services“) der CIA am 1. April 1967 aus der Zentrale in Langley das Dokument 1035-960 an alle Außenstellen des US-Auslandsgeheimdienstes sandte. Sein Inhalt in Kurzfassung: Wer Zweifel an der offiziellen Version zum Mord an dem charismatischen US-Präsidenten John F. Kennedy öffentlich äußerte – nach dem Bericht der sogenannten Warren-Kommission sollte es die Tat eines einzelnen Mannes namens Lee Harvey Oswald gewesen sein –, war als Anhänger einer „Conspiracy Theory“ („Verschwörungstheorie“) zu brandmarken.

Wie die CIA-Strategen in dem Papier zugaben, reagierten sie damit auf das Meinungsbild zum offiziösen Warren-Report. Immerhin 46 Prozent der US-Amerikaner glaubten nicht an einen Einzeltäter Oswald, und im Ausland lag der Anteil der Zweifler wohl noch höher, nachdem der Bezirksstaatsanwalt von New Orleans Jim Garrison zum Kennedy-Mord Ermittlungen in Sachen „Verschwörung“ angestellt und auch Spuren zur CIA gefunden hatte (Verschwörung ist in den USA ein Straftatbestand. Ein Richter in Detroit verurteilte neulich den VW-Manager Oliver Schmidt zu sieben Jahren Gefängnis wegen „Verschwörung zum Betrug“). Das Dokument 1035-960 forderte unter der Zeile „Concerning Criticism of the Warren Report“ (Betrifft die Kritik am Warren-Bericht) die Agenturen der CIA, die in den nichtsozialistischen Weiten der Welt über ein dichtes Netz von Medienkontakten verfügte und nicht wenige Zeitungen und Sender verdeckt finanzierte, zum Kampf um die Köpfe in dieser Sache auf.

Um die Angriffe der Kritiker zu kontern, sollten die CIA-Agenten „Propagandatechniken“ nutzen. Besonders geeignet seien Buchbesprechungen und Feuilletonartikel. Wo immer es ging, wollte man den von alledem nichts ahnenden Kontrahenten Diskreditierendes unterstellen: mit ihrer Theorie schon „verheiratet“ gewesen zu sein, bevor sie überhaupt Beweise geliefert hätten, politische oder auch finanzielle Interessen zu verfolgen, hastig und ungenau zu arbeiten, „verknallt“ in die eigene Theorie zu sein.

Das Bild der Meinungen über den Kennedy-Mord konnten die Geheimdienstler nicht ändern. Es kam, wozu Oliver Stones Film „JFK“ von 1991 kräftig beigetragen haben dürfte, noch schlimmer. Heute glauben 60 bis 80 Prozent, je nach Umfrage, der US-Amerikaner nicht an die Einzeltäter-These. Und dennoch: Mit dem Dokument 1035-960 öffnete sich die Büchse der Pandora. Es baut eine Brücke zu anderen Anwendungsgebieten der empfohlenen Etikettiertechnik. So beauftragte es die CIA-Meinungsmanipulatoren, eine Parallele zu einem anderen der großen politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu ziehen: nämlich zum Reichstagsbrand von 1933. „Kompetente Historiker“ würden jetzt davon ausgehen, Marinus van der Lubbe habe das Feuer allein gelegt, ohne Mitwirkung der Nazis oder der Kommunisten. Namentlich nannten die CIA-Dispatcher als ersten unter den „kompetenten Historikern“ Fritz Tobias, den Mann, der mit einer Artikelserie im Magazin „Der Spiegel“ und einem nachfolgenden Buch Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die These vom alleinigen Reichstagsbrandstifter van der Lubbe in die Welt gesetzt hatte.

Ausschnitt aus dem CIA-Dokument 1035-960. Der Geheimdienst rät seinen Agenten, in Sachen Kennedy-Mord Parallelen zu der vom niedersächsischen Verfassungsschützer Fritz Tobias lancierten Einzeltäter-These für den Reichstagsbrand zu ziehen. Das Dokument wurde 1976 nach einer Anfrage der „New York Times“ freigegeben

Heute läßt sich – insbesondere nach den Forschungen von Hersch Fischler und Benjamin Carter Hett – beweisen: Fritz Tobias, Beamter des Verfassungsschutzes in Niedersachsen, betrieb seine Recherchen zum Reichstagsbrand nicht als „Hobby-Historiker“, als den er sich absichtsvoll titulieren ließ, sondern in „dienstlichem Auftrag“. Seine von Nazi-Kriminalisten bezogene Einzeltäter-Version erfüllte ein Bedürfnis „im politischen Abwehrkampf gegen die aus dem Osten herandrängende Propagandaflut“, wie er in einem Papier selbst festhielt. Über seine „Ergebnisse“ berichtete Tobias den höchsten Stellen Niedersachsens, so Hinrich Wilhelm Kopf von der SPD, der in Niedersachsen mal als Ministerpräsident und mal als Innenminister amtierte, in Polen aber wegen seines Wirkens als Enteignungskommissar der Nazis als Kriegsverbrecher geführt wurde. Kopf sorgte sogar dafür, daß Tobias den dienstlichen Freiraum bekam, seine „Spiegel“-Serie zum 25. Jahrestag des Reichstagsbrandes fertigzustellen.

Mit wissenschaftlicher Forschung hatte das alles wenig zu tun, wenn auch die Tobias-These die institutionelle wissenschaftliche Weihe erhielt. Eine kritische Untersuchung von Tobias’ Elaborat ließ das Institut für Zeitgeschichte rüde unterdrücken, nachdem der Geheimdienstler Tobias dessen Direktor Helmut Krausnick unter Druck gesetzt hatte, und zwar mit dessen früherer NSDAP-Mitgliedschaft. Der Verfassungsschützer aus Niedersachsen nämlich konnte auf Akten in dem von der US-Besatzungsmacht verwalteten Document Center in Westberlin zugreifen, die für Historiker unerreichbar waren. Den Segen gab der Alleintäter-These schließlich mit einem Aufsatz in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ ein Mann, der gerade seine Karriere als Historiker begann: Hans Mommsen, später einer der bekanntesten Vertreter seiner Zunft in Westdeutschland.

Die mit geheimdienstlichen Methoden verbreitete Version vom Einzeltäter van der Lubbe sollte in der Bundesrepublik fürderhin zum beherrschenden Erklärungsmuster für jene Brandlegung im Reichstag werden, die den Nazis dazu gedient hatte, stante pede die verfassungsmäßigen Rechte außer Kraft zu setzen und tausende Kommunisten, Sozialdemokraten und andere politische Gegner einzusperren, nicht wenige von ihnen zu ermorden. Die Einzeltäter-These fand Eingang in Schulbücher. Und der vor kurzem gewichene Bundestagspräsident Norbert Lammert erklärte sie zur verbindlichen Erzählung für die geschichtliche Selbstdarstellung des Parlaments.

Wer diesem Muster nicht folgte, bekam welchen Vorwurf? Na klar, ein „Verschwörungstheoretiker“ zu sein. So feierte 2008 „Der Spiegel“ ein Buch des Tobias-Jüngers Sven-Felix Kellerhoff zum Reichstagsbrand (Vorwort: Hanns Mommsen) mit den Worten: Es räume mit „Verschwörungstheorien“ auf. Das steht bis heute so im Raume, obwohl inzwischen der New Yorker Historiker Bejamin Carter Hett die Fake-News-Produktion des Auftragstäters Fritz Tobias haarklein auseinandergenommen hat. Über Hetts Buch „Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens“, das mit seiner Rekonstruktion einer politisch motivierten Geschichtsfälschung einen Wissenschafts- und Medienskandal ersten Ranges beschreibt, hat das Hamburger „Nachrichtenmagazin“ bis heute keine einzige Zeile veröffentlicht.

Januar 2018