Black Beauty im Schnee

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 15)

Ein schrecklich spießbürgerliches Phänomen: Das Schriftstellerehepaar X. und Y. Z. geht gemeinsam ins Gebäude der Berliner Gauck-Behörde, um seine Opferakten einzusehen. Müssen sie und er wirklich nicht befürchten, dort irgendwelchen Spuren außerehelicher Lustbarkeiten des Gatten und der Gattin zu begegnen? Will man gerade solchen Zeichen vergangenen fremden Vergnügens „tapfer ins Auge sehen“? Eine neue Form von Masochismus? Selbst in den Beichtstuhl geht man allein. Aber zum Pastor Gauck im Gattenverbund? Schade, daß Brigitte Reimann (1933 bis 1973) das nicht mehr erleben kann. Sie würde sich kugeln vor Lachen.

Brief Brigiite Reimanns an Kurt Turba nach dessen Ablösung 1966 Quelle: Archiv Wessel

Ein nicht weniger lächerliches Phänomen: Die altbundesdeutsch dominierten Unisono-Medien unseres wiedervereinigten Vaterlandes versuchen nun schon seit Jahren, ihren Konsumenten das Märchen aufzutischen, das Leben in der DDR sei prüde und lustlos gewesen. Erst mit den farbigen Katalogen eines bekannten nordwestdeutschen Versandhandelshauses für mentale und gegenständliche Sexualprothesen habe die graue Prüderie im Osten ihr Ende gefunden. Als ob sich die durchschnittliche Lustfrequenz einer Population von Menschen an den Umsatzzahlen für Reizwäsche ablesen ließe! Nie was von Rabelais gehört? Und von Villon? Brauchte Gargantua Kataloge? Ein Segen, daß Brigitte Reimann diese total anti-orgiastische Medien-Sülze nicht erleben muß. Womöglich bekäme sie Gewissensbisse.

In einem kulturgeschichtlichen Essay „Achtundsechziger werden immer gebraucht/Die Generationen der DDR und das neue Deutschland“ (FAZ-Beilage Bilder und Zeiten vom 25. November 1995) verglich Mark Siemons die Dreiundsechziger der DDR mit den Achtundsechzigern der BRD und meinte, die „Generations-Erfahrungen“ seien „in der DDR keine Erfahrung gesellschaftlicher Spontanität“ gewesen „wie im Westen, sondern der Ohnmacht“. Natürlich, das von Moskau initiierte und mit SED-Falken inszenierte 11. Plenum vom Dezember 1965 war für die Dreiundsechziger eine Jenseitserfahrung – auch deshalb, weil die offizielle altbundesdeutsche Politik die mit dem Aufbruch der DDR-Dreiundsechziger gegebene reale Chance zur Erweiterung der Spielräume deutsch-deutscher Selbstbestimmung weitestgehend verpaßte. Doch „keine Erfahrung gesellschaftlicher Spontanität“? Woher will Siemons das wissen? Hat er zum Beispiel Brigitte Reimann „befragt“? Ihr Werk und Ihr Leben?

Als ich Brigitte Reimann im April 1966 in Berlin traf, mit ihr „endlos“ flanierte und dabei leider letztmalig wirklich unter vier Augen (und „per vier Ohren“) mit ihr „quasselte“, da geschah das aus traurigem Anlaß: Kurt Turbas Amtsenthebung nach dem 11. Plenum. Die in Hoyerswerda lebende Schriftstellerin, seit Herbst 1963 „Mitglied der Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED“, wußte drei Monate nach dem „Fall“ immer noch nicht, daß der Leiter der Jugendkommission von Erich Honeckers ZK-Sekretariat für abgesetzt erklärt worden war. Die 1963 vom SED-Politbüro einstimmig berufenen Mitglieder der Turba-Kommission wurden über den Rausschmiß ihres Leiters nie offiziell informiert. Die DDR-Medien blieben auf Befehl stumm, sofern sie selbst überhaupt von Turbas Sturz erfuhren. Auch die BRD-Medien schwiegen – bis auf Augsteins Spiegel, der am 7. März 1966 – wie schon erwähnt – eine Meldung über Turbas Absetzung „zur Hand hatte“. Da Brigitte Reimann keinen Spiegel zu sehen bekam, da sie keinen Axen in der Nähe hatte, der sie („…aber behalt´ das bitte für Dich!“) informiert hätte, und da der zwar spontane, aber ungemein verläßliche DDR-“Buschfunk“ in den Monaten nach dem 11. Plenum voll mit den Repressionen gegen Kunst und Künstler befaßt war, befand sich die Autorin im April 1966 immer noch „im Status der Unschuld“, jedenfalls hinsichtlich ihrer Rolle als „nebenberufliche Jugendpolitikerin“ und als Inhaberin eines von Walter Ulbricht persönlich unterschriebenen Ausweises, der in der damaligen DDR in vielerlei Hinsicht nützlich war. Der kleine rote Ausweis war gerade für diese agile Personifikation von Spontaneität eine Art Vollkasko-Versicherung in allen Lebenslagen.

Brigitte-Reimann verehrte Kurt Turba ungemein. Vermutlich hat sie in all den Jahren aufeinanderfolgender Partnerschaften den „Typ Turba“ gesucht und nie gefunden. Entsprechend groß war der Schock, als sie meine Hiobsbotschaft hörte. Es brauchte eine Weile, ehe die Schriftstellerin begriff, daß mit Turbas Absetzung auch unsere Jugendkommission de facto und „auf kaltem Wege“ abgeschafft worden war. „Aber ich habe doch noch meinen Ausweis. Muß ich den jetzt abgeben? Und wo?“ – „Abgeben?“ fragte ich zurück, „obwohl wir gar nicht wissen, daß wir abgeschafft sind?“ – Ein Lächeln hellte die Züge herber Schönheit auf. Ein Funkeln in den dunklen Augen: „Also wir geben nicht ab?“ – „Nein, alle, mit denen ich gesprochen habe, werden nicht abgeben.“ – „Und wenn sie ihn abholen kommen?“ – „Dann verlangen wir eine von Ulbricht persönlich unterschriebene Vollmacht.“

Wie ich und vermutlich auch Brigitte Reimann den Jugendkommission-Ausweis nach gut einem Jahr doch noch los wurden, ist eine kafkaeske Geschichte für sich, die wir hier leider ausblenden müssen. Dreierlei vertraute ich der Schriftstellerin im April 1966 nicht an: Erstens die „Buschfunk“-Nachricht, man habe längst eine neue Jugendkommission unter Horst Sindermanns Leitung gebildet. Zweitens die Auskunft, daß Brigitte Reimann im Herbst 1963 als „Ersatzfrau“ für Christa Wolf Mitglied der Turba-Kommission wurde. Und drittens die Information, daß ich sie (die Reimann) Anfang Januar 1966 auf meiner Fahrt nach Augustusburg beinahe in Hoyerswerda besucht hätte.

Zum ersten: Damals wußte ich nicht, daß Honeckers ZK-Sekretariat am 9. Februar 1966 beschlossen hatte, zur „Ausarbeitung eines Beschlusses zur Jugendarbeit“ eine „Arbeitsgruppe“ „einzusetzen“ – „Leiter: Sindermann, Horst, Kandidat des Politbüros, 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle“ und ein Dutzend namentlich genannter Mitglieder, darunter vom ND Klaus Höpcke. Das geht aus den Akten hervor, die Kurt Turba 1991 einsehen konnte. Im Frühjahr 1966 hatte Höpcke mir anvertraut, daß er in einer jugendpolitischen Arbeitsgruppe Formulierungshilfe leisten solle. Ich fand das – unter den gegebenen Umständen – richtig; Sindermann war „das kleinere Übel“.

Zum zweiten: Als Ulbricht am 13. Juli und 7. August 1963 Turba die Ausarbeitung eines Jugendkommuniqués „mit völlig neuer Melodie“ auftrug und ihm die Bildung einer neuen Jugendkommission bei der SED-Führung anvertraute, riet er dem in die SED-Zentrale geholten „Forum“-Chefredakteur, sich für diese Aufgaben die talentvollsten und besten Leute, zu suchen, die die Probleme kennen, gleich in welchem Dienstrang sie sich befinden. Daß dazu Frauen gehörten, war selbstverständlich (die Erneuerer brauchten keine Quoten). Daß ein (möglichst jugendnaher) Vertreter der Literatenzunft in die Kommission gehörte, verstand sich ebenfalls von selbst. Die „Troika“ Turba, Heinz Nahke (neuer „Forum“-Chef ab Sommer 1963) und Wessel kam zuerst auf Christa Wolf, deren „Geteilter Himmel“ damals in der DDR großen Zuspruch fand.

Turba und ich fuhren nach Kleinmachnow, um Christa Wolf (Mitglied der SED und seit Januar 1963 „Kandidat des ZK der SED“) für die neue, unkonventionelle Jugendkommission zu gewinnen. Wir hatten keinen Erfolg. Als Turba das mit Ulbricht besprach, sagte der in seinem unnachahmlichen Sächsisch: „Was halten Sie von der Reimann? Die schreibt doch auch gute Sachen. Daß sie parteilos ist, muß ja kein Hinderungsgrund sein.“ Turba und ich fuhren nach Hoyerswerda. Ich war begeistert von diesem „kleinen Bündel geballter Energie“, von der unkonventionellen Lebensart „der Reimann“ und von ihrer erstaunlichen Offenheit. Was Turba und ich damals nicht wußten (was aber Ulbricht gewußt haben kann!), und was man erst nach der „Wende“ erfuhr – Brigitte Reimanns mutige Haltung gegenüber dem MfS -, zeigte post festum, daß gerade ihre Berufung in die „reformatorische“ Jugendkommission von 1963 goldrichtig war.

Dieweil manch anderer DDR-Literat den Verlockungen und/oder dem Druck „der Sicherheit“ so oder so nachgab, wehrte „die Reimann“ sich tapfer und erfolgreich, als das MfS sie 1958 zu geheimen „Diensten“ im Magdeburger Schriftstellerverband zu zwingen versuchte (Erpressungsmittel war die Haft ihres damaligen Mannes). „Die Reimann“ durchbrach die „Konspiration“, indem sie das Stasi-Ansinnen und dessen Ablehnung „ganz einfach“ im örtlichen Schriftstellerverband offenbarte. War es späte MfS-Rache, daß selbst Turba als Leiter der Jugendkommission Brigitte Reimanns sehnlichsten Wunsch, einmal ihren Bruder im Westen besuchen zu dürfen, nicht erfüllen konnte? Zum „Ausgleich“ nahm Turba sie mit auf die Sibirien-Reise einer Delegation von DDR-Jugendpolitikern. Dabei war sie doppelt entsetzt – über das karge Warenangebot und über Horst Schumanns Trinkspruch-Elogen auf die „großen Erfolge“ der „siegreichen Sowjetunion“. In Land und Leute aber verliebte sie sich, wie man ihrem Reisetagebuch „Das grüne Licht der Steppen“ (zuerst im „Forum“, 1965 als Buch) entnehmen kann.

Brigitte Reimann am 9. Dezember 1966 bei einer Lesung zum 20jährigen Bestehen des Verlages Neues Leben, neben ihr dessen Cheflektor Walter Lewerenz
Foto: ADN-Zentralbild, Klaus Franke, Bundesarchiv, Bild 183-E1209-0026-001 / CC-BY-SA 3.0

Zum dritten: Am 6. Januar 1966 hatte Honecker Turba zu einem Vieraugengespräch gebeten und ihm geraten, sich von der Kritik auf dem 11. Plenum nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen. Maßgebend in Sachen Jugendpolitik sei Ulbrichts Rede auf dem 11. Plenum und nicht das in „der Diskussion“ Gesagte. Verbal desavouierte Honecker also Hanna Wolf und Inge Lange. Turba danach zu mir am Telefon: „Harald, der Kelch ist noch einmal an uns vorübergegangen.“ -“Meinst du, daß ich unter diesen Umständen nach Augustusburg fahren kann?“ – „Ja, unbedingt, spann mal aus!“

Ich hatte einen Ferienscheck für Augustusburg (am Erzgebirge). Also setzte ich eines meiner Töchterchen in den angejahrten Wartburg (ohne Winterreifen, ohne Schneeketten, aber mit einem Sack Sand im Kofferraum) und fuhr auf der Dresdner Autobahn gen Süden. Als die Schilder Hoyerswerda anzeigten, war ich drauf und dran, einen Abstecher zu Brigitte Reimann zu unternehmen. Doch das Wetter war sehr schlecht. Und das schwierigste Stück Weg lag noch vor uns. Also kein Abstecher.

Wären wir im Januar 1966 nach Hoyerswerda abgebogen, dann hätte ich „die Reimann“ von Kurt Turba gegrüßt, ihr dessen Satz vom „vorübergegangenen Kelch“ übermittelt und sie zum Zeugen meiner unendlichen politischen Naivität werden lassen. Unsere Einfalt war sträflich. Unsere Zuversicht völlig unbegründet. Damals machten Zufälle mich noch nicht mißtrauisch. Der Zufall war mir seinerzeit eine von Hegel geheiligte philosophische Kategorie und kein Anlaß zum Wittern von möglichem Unheil. Und wer dachte damals schon an geheime Komplotte zur „Orwellisierung“ von DDR-Funktionsträgern, die dem Kreml unbequem geworden waren…

Da Skilaufen in Augustusburg nur begrenzt möglich war, fuhren wir (mein Töchterchen und ich) schon am nächsten Morgen höher hinauf ins Erzgebirge, zu einem ganz kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze. Dort gab es damals noch herrliche Fichtenwälder, tief verschneit, mit idealen Langlaufpisten. Und dort hatte eine Berlinerin einen Winterferienjob als „Serviererin“ gefunden, was ich doppelt nützlich fand, weil sie uns nicht nur ein „Bergquartier“ beschaffen konnte, sondern sie auch meine große Liebe in jenen Jahren war.

„Dark Lady“ pflegte mein Freund Otto Schoth die Saisonserviererin zu nennen – in bewundernder Anspielung auf die „Dunkle Dame“ der Shakespeareschen Sonette. Otto Schoth, nach dem Krieg aus Pommern umgesiedelt, hatte in der DDR studieren können und war ein selbstbewußter Wirtschaftswissenschaftler, zugleich ein begnadeter Journalist, der in der von mir geleiteten Wissenschaftsabteilung der Redaktion „Neues Deutschland“ seine geistige Heimat gefunden hatte. Ihn, den ausgesprochen kreativen Kopf, verlor die 1963 gegründete Wissenschaftsabteilung (1995 aufgelöst!) bald nach dem 11. Plenum. Schoth wurde in der ND-Redaktion „umgesetzt“. Dagegen war ich nun machtlos. Jahre später kam Otto Schoth bei einem nächtlichen Zusammenstoß mit einem unbeleuchteten sowjetischen Militärfahrzeug tragisch ums Leben. Da im ND kein Nachruf erscheinen durfte (!), schrieb ich einige Abschiedsworte, die in der „Weltbühne“ veröffentlicht wurden.

„Dark Lady“ – in ihren Nachmittagspausen tobten wir im Winterwald herum, daß man die „Dunkle Dame“ eher „Black Beauty im Schnee“ hätte nennen können. Für zwei, drei Tage vergaßen wir die Welt, von der ich ohnehin völlig abgeschnitten war. Und als ich in Augustusburg die letzten Ausgaben von „Neues Deutschland“ durchsah, kam das böse Erwachen: Laut ND vom 11. Januar 1966 war Eberhard Heinrich, „bisheriger stellvertretender Chefredakteur, von dieser Arbeit in unserer Redaktion entbunden worden“ – „im Zusammenhang mit der Übernahme einer anderen Parteifunktion“. Und laut ND vom 13. Januar 1966 hatte der DDR-Ministerrat „beschlossen“, „den Minister für Kultur, Hans Bentzien, von seiner Funktion zu entbinden“.

Während in der Heinrich-Meldung keinerlei Kritik durchschimmerte (was mich in argloser Stimmung hielt), hieß es in der Bentzien-Nachricht, „die Leitung des Ministeriums für Kultur“ sei „in letzter Zeit ihren Aufgaben nicht gewachsen“ gewesen und habe “Fehler zugelassen“. Zum neuen Minister für Kultur sei der bisherige Leiter des Aufbau-Verlages berufen worden – Klaus Gysi, Vater des damals gerade 18jährigen Gregor Gysi.

Nächste Folge: Ahnungslos zum Ararat