GULAG-Export?

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 7)

Von Erich Honecker handschriftlich redigiert: angeblicher Beschluß des Sekretariats des Zentralkomitees der SED vom 11. Oktober 1965, der die Einweisung von „Gammlern“ in Arbeitslager vorsieht Abbildung: Archiv Wessel

Memoiren haben den Sinn, persönliche Vergangenheit „zurückzuholen“ – und zwar möglichst unbeeinflußt von späteren Erlebnissen, Erfahrungen und Einsichten. Tritt aber der Glücksfall ein, daß Jahrzehnte später Aktenstücke von hoher zeitgeschichtlicher Brisanz und persönlicher Relevanz bekanntgeworden sind, dann muß es dem Memoirenschreiber gestattet sein, diese späteren Aufschlüsse (als solche kenntlich gemacht!) in seine Erinnerungen einzuschieben. Das gilt für zwei Dokumente, die Kurt Turba nach der „Wende“ zugänglich wurden und die neues Licht auf den heißen Herbst 1965 werfen. Nennen wir sie „Honeckers Handschrift“ und „Forum-Kapitulationsurkunde“.

Als Erich Honecker zwischen dem 11. und 19. Oktober 1965 den rechts oben abgebildeten Text handschriftlich redigierte und erkennbar verschärfte, muß er von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Auf deutschem Boden Anno 1965 „Arbeitslager“ für „Gammler u.a.“ – wäre das in Honeckers Urheber-Handschrift damals an die Öffentlichkeit gelangt, dann hätte der Ulbricht-Kronprinz den Hut nehmen können, dann wäre er vermutlich in der Versenkung verschwunden – wie 1967 das KGB-Duo Schelepin/Semitschastny, nachdem der KGB-Versuch, die in den Westen geflüchtete Stalin-Tochter Swetlana Allilujewa per Entführung zurückzuholen, kläglich gescheitert war.

Doch im Herbst 1965 war das Gespann Schelepin/Semitschastny in Moskau noch auf dem Vormarsch. Es hatte Ende 1964 wesentlichen Anteil am Sturz Chruschtschows. In der sogenannten Tauwetter-Periode waren Hunderttausende Insassen des „Archipel GULAG“ freigekommen. Chruschtschow hatte Alexander Solschenizyns Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ zum Druck freigegeben. Nun betrieben die beiden Ehrgeizlinge und geheimen Stalin-Bewunderer so etwas wie eine „Renaissance der Lager“. Im September 1965 hatte Semitschastnys KGB die Literaten Juli Daniel und Andrej Sinawski verhaftet, um sie in einem spektakulären Gesinnungsprozeß zu fünf bzw. sieben Jahren „Arbeitslager“ zu verurteilen. Da konnte es dem KGB-Duo nur recht sein, wenn sich auch „die deutschen Genossen“ der „Arbeitslager“ bedienten.

GULAG-Export – wie so oft seit der Existenz der Sowjetunion, schlugen Ende 1965 monströse moskowitische Macht- und Richtungskämpfe in erster Linie auf die Apparate „der deutschen Genossen“ durch: auf den MfS-Apparat und auf Teile der SED-Führung.

Nun saßen aber im SED-Politbüro (im Unterschied zur obersten Führungsgruppe der KPdSU!) einige Genossen, die aus eigenem Erleben genau wußten, was ein Lager ist: Axen hatte die Lager Vernet, Auschwitz und Buchenwald als Internierter bzw. Häftling erlebt, Friedrich Ebert jun. war in Oranienburg und Börgermoor KZ-Häftling gewesen, Gerhard Grüneberg hatte Lager für Kriegsgefangene überstanden, Kurt Hager kannte das Nazi-KZ Heuberg sowie französische Internierungslager, Erich Mückenberger erlebte das KZ Sachsenburg, Alfred Neumann war in Guers und Vernet interniert, Albert Norden war ebenfalls mit französischen Internierungslagern vertraut, und Horst Sindermann hatte die KZ Sachsenhausen und Mauthausen überlebt.

Bei dieser personellen Konstellation wäre es dem Sicherheitsbeauftragten Honecker (trotz Moskauer Rückendeckung und Mielkes Assistenz) nicht leichtgefallen, einen Beschluß zur Einrichtung von „Arbeitslagern für auffällige Jugendliche der DDR“ im SED-Politbüro durchzubringen. Er nutzte daher seine federführende Position im „Sekretariat des ZK der SED“ (an dessen Sitzungen „Generalsekretär“ Ulbricht kaum noch teilnahm), um (unter Mißachtung des SED-Parteistatuts) vollendete Tatsachen zu schaffen. Statutenwidrig: Der vermeintliche „Sekretariatsbeschluß vom 11. Oktober 1965“ berührte die Substanz des Jugendkommuniqués (1963) und des DDR-Jugendgesetzes (1964); beide Dokumente waren vom SED-Politbüro beschlossen bzw. bestätigt worden. Nur das Politbüro hätte diese Beschlüsse zurücknehmen können.

Anfang November 1965 erzählte mir eine am 10. Oktober 1965 frisch gewählte Berliner Stadtbezirksverordnete, die „Gammler vom Bahnhof Lichtenberg“ seien vom MfS „eingesammelt“ und nach Rüdersdorf (Zementwerk) in ein „Arbeitslager“ gebracht worden. Etwas später wußte ein zwischen Gera, Leipzig und Berlin pendelnder Musikjournalist zu berichten: „Das MfS hat die am 31. Oktober auf dem Leipziger Leuschner-Platz festgenommenen Jugendlichen zur Zwangsarbeit in die Braunkohle geschickt.“ Gerüchte? Übertreibungen? Oder durchgesickerte Wahrheit?

Hermann Axen (links), Überlebender des Vernichtungslagers Auschwitz, hier 1967 mit dem italienischen KP-Funktionär Pietro Ingrao, bestritt, daß auf einer Sitzung des ZK-Sekretariats ein Beschluß gefaßt worden sei, Jugendliche in Arbeitslager einzuweisen
Foto: ADN-Zentralbild, Peter Heinz Junge, Bundesarchiv, Bild 183-F0418-0001-053 / CC-BY-SA 3.0

Ich fragte meinen Chef Hermann Axen, der so gut wie an allen Sitzungen des Politbüros und des Sekretariats des SED-Zentralkomitees teilnahm und sämtliche Beschlußentwürfe wie auch die gefaßten Beschlüsse zur Einsicht bekam, Anfang November 1965: „Gibt es einen Beschluß der Parteiführung, demzufolge sozial auffällige bzw. gestrauchelte Jugendliche in Arbeitslager gesteckt werden?“ Axen versicherte, ihm sei solch ein Beschluß nicht bekannt. Und ich habe bis heute (1995) keinen Grund zu der Annahme, daß Axen mir damals nicht die Wahrheit gesagt hat.

Erstaunt muß Axen allerdings am 14. Dezember 1965 gewesen sein, sofern er in die „Lesemappe“ geschaut hat, die den Teilnehmern am 11. Plenum (15. bis 18. Dezember 1965) „am Vorabend“ dieser ZK-Tagung zur persönlichen „Information“ dargeboten wurde. In der Mappe befand sich auch ein Papier mit den Überschriften „Betr.: Zu einigen Fragen der Jugendarbeit und dem Auftreten der Rowdygruppen (Beschluß des Sekretariats des ZK vom 11.10.1965)“. Unter Punkt 5 des Papiers wurde „der Minister des Innern, Genosse Dickel,“ „beauftragt“, „die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten“, um „die Mitglieder solcher Gruppen (Gammler u.a.)“ „in Arbeitslager“ einzuweisen.

Am 11. Plenum nahmen rund 380 Personen teil: 180 Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED sowie über 200 Gäste – darunter ausländische Diplomaten (!) und viele namhafte „Kulturschaffende“. Kurt Turba, der „Leiter der Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED“, wurde ausdrücklich nicht zur Tagung zugelassen. Zweifellos hätte Turba die Lesemappe genau durchgesehen und wäre damals schon darauf gekommen, daß der angebliche „Beschluß des Sekretariats des ZK vom 11. 10. 1965“ nicht statutengerecht gefaßt worden sein kann.

Veröffentlicht wurde der „Beschluß“ in dem von Günter Agde herausgegebenen Sammelband „Kahlschlag/Das 11. Plenum des ZK der SED 1965/Studien und Dokumente“ (Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1991, Seite 320). Agde fand den „Beschluß“ in einem Exemplar der „Lesemappe“ im Zentralen Parteiarchiv der SED. Zwar dankt Agde in der Vorbemerkung auch Turba für „Förderung“. Doch wurde Turba – nach Erich Apel das wichtigste politische Opfer des 11. Plenums – vom „Kahlschlag“-Herausgeber nie ernsthaft befragt. Und so ist der „Beschluß“ ohne textkritische Kommentierung in die zeitgeschichtliche Literatur eingegangen.

Christa Wolf, damals „Kandidat des ZK der SED“, schreibt in ihrem „Erinnerungsbericht“ („Kahlschlag“-Sammelband, Seiten 263 bis 272): „Einige der angegriffenen Filme wurden im ZK gezeigt, es gab diese Mappe mit Materialien. Es war wie psychologische Kriegsführung. Die ZK-Mitglieder wurden damit systematisch in Stimmung gebracht, und mit da drin zu sitzen – war unglaublich. Ich bin nicht in die Filmvorführungen gegangen, das hätte ich nicht ausgehalten“ . Hat die Schriftstellerin in „diese Mappe mit den Materialien“ geschaut? – Jedenfalls gab es ab 14. Dezember 1965 mindestens 180 (wenn nicht 380) potentielle „Geheimnisträger“, die „mit da drin“ saßen… Keiner stand auf und fragte: „Wo ist Turba? Hat die Jugendkommission dem ‚Beschluß‘ vom 11. 10. 1965 zugestimmt?“

Horst Schumann, damals FDJ-Chef, war Scharfmacher auf der „150-Minuten-Haß-Sitzung“ am 11. Oktober 1965, auf der Honecker den Reform-Jugendpolitiker Kurt Turba faktisch ausschalten ließ
Foto: ADN-Zentralbild, Horst Sturm, Bundesarchiv, Bild 183-76246-0013 / CC-BY-SA 3.0

Kurt Turba erinnert sich auch nach drei Jahrzehnten noch ziemlich genau an den 11. Oktober 1965, den Montag nach den „Volkswahlen“ vom 10. Oktober. An diesem Montag wurde er überraschend zu einer „Sitzung beim Genossen Honecker“ gerufen. Dort saßen schon Schumann und einige Sekretäre des FDJ-Zentralrates. Thema der Sitzung: „Zu einigen Fragen der Jugendarbeit“. Honecker gab Schumann das Wort. Der hielt eine (offensichtlich vorbereitete) rüde Rede gegen Turba und die Jugendkommission, gegen Forum, DT 64 und „gewisse Tendenzen im ND“, gegen „Entstellungen bei der Verwirklichung des Jugendkommuniqués“, die zu „Gammlertum“, „Verwestlichung“, „Pornografie“ und „steigender Jugendkriminalität“ geführt hätten. Honecker unterstützte Schumanns Tiraden und ließ Turba praktisch nicht zu Wort kommen. Turba: „Mit dieser seltsamen Sitzung war ich faktisch ausgeschaltet.“

Auf dieser seltsamen Sitzung (die man in Anlehnung an George Orwells „1984“ eine „150-Minuten-Haß-Sitzung“ nennen könnte) ist der „Beschluß des Sekretariats des ZK vom 11. 10. 1965“ jedenfalls nicht gefaßt worden. Wie auch?! Es war ja keine „Sitzung des Sekretariats des ZK“. Vergleicht man die Texte des „Beschlusses“ aus der „Lesemappe“ und auf dem (oben abgebildeten) Papier „Honeckers Handschrift“, so zeigt sich, daß die von Honeckers Hand redigierte Fassung in der „Lesemappe“ als „Sekretariatsbeschluß“ ausgegeben wird – allerdings fehlt in der „Lesemappen“-Fassung die Namensliste, die links oben auf dem undatierten „Honeckers Handschrift“-Blatt steht.

Allem Anschein nach ist die Namensliste keine Anwesenheitsliste, sondern eine Liste derjenigen Personen, die das „Beschlußprotokoll“ (ganz, teilweise oder gar nicht) erhalten sollten. Turba (durchgestrichen) bekam nichts. Ähnlich erging es wohl dem Leiter der ZK-Kultur-Abteilung Siegfried Wagner. Hans Bentzien bekam nur die Punkte 3 und 4; so mußte er annehmen, die in seinem Ministerium auftauchenden Anordnungen vom 20. Oktober 1965 (Tag der drei „Oktoberstürme“) würden auf einen statutengerechten „Beschluß des Sekretariats des ZK“ zurückgehen. Das muß auch DDR-Finanzminister Willy Rumpf gedacht haben, der Punkt 3 erhielt, um per Steuer-„Fahndung“ gegen Beat-Gruppen vorzugehen. Innenminister Friedrich Dickel sollte zuerst nur Punkt 5 erhalten, bekam aber dann – wie MfS-Chef Mielke – den ganzen „Beschluß“.

Bezeichnend ist, daß die „Sekretäre ZK“ (die angeblich den „Beschluß“ gefaßt hatten) an letzter Stelle der Liste stehen und (von Norden abgesehen) wahrscheinlich erst später auf die Liste kamen.

Wer das Papier „Honeckers Handschrift“ näher betrachtet, der sieht, daß die Umnumerierung (von Honeckers Hand) Platz für einen neuen Punkt 2 schafft, der aber noch fehlt. In der „Lesemappen“-Fassung lautet er: „2. Die Abteilung Agitation des ZK wird beauftragt, die Aussprache im Sekretariat des ZK zu Fragen der Durchführung der Jugendpolitik der Partei mit den verantwortlichen Genossen der Presse, des Rundfunks (einschließlich DT 64) und des Fernsehens vorzunehmen und zu sichern, daß dem Eindringen westlicher Dekadenz kein Vorschub geleistet und in überzeugender Weise entschieden entgegengewirkt wird.“ Dieses Deutsch, das gegen Satzende den Satzanfang bereits vergessen hat, kann einfach nicht im Beisein solcher ZK-Sekretäre wie Albert Norden und Kurt Hager zu Papier gebracht worden sein.

Gleichwohl hat Rudi Singer den neuen Punkt 2 befolgt und am 13. Oktober 1965 (um im „Beschluß“-Deutsch zu bleiben) „die Aussprache im Sekretariat“ „mit den verantwortlichen Genossen der Presse“ (z.B. im ND-Kollegium) „vorgenommen“. Bei dieser Gelegenheit schrieb er mir den „Forum“-Kommentar zu, der nicht von mir stammte. Da aber Axen und Norden mir rieten, Honecker in dieser Sache zu schreiben, weil er „im Sekretariat“ mich wegen des „Forum“-Kommentars angegriffen habe, muß es zu Punkt 2 des „Beschlusses“ so etwas wie eine „Aussprache im Sekretariat“ gegeben haben – am 13. Oktober 1965.

Das „Forum“ wiederum wurde nicht von Singer, sondern vom FDJ-Zentralrat „auf Linie“ gebracht. Davon handelt die nach der „Wende“ gefundene „Forum-Kapitulationsurkunde“ – ein vierseitiges Schreiben des „Forum“-Chefredakteurs (seit September 1965) Dr. Klaus Hilbig „An die Genossen der Parteigruppe Forum“. In diesem, Brief übermittelt Hilbig den Redakteuren der legendären Zeitung all das, was am 15. Oktober 1965 auf einer Tagung der FDJ-Bezirkssekretäre für Agitation vom zuständigen FDJ-Zentralratssekretär vorgetragen wurde – eine Kaskade hirnrissiger Sprüche, böswilliger Verleumdungen und nachweislicher Lügen.


Klaus Hilbig kannte ich vom Studium in Jena. Mit seiner charmanten Frau war ich seit unserer gemeinsamen Arbeit in einer Biologie-Studiengruppe befreundet. Daß er mir, einem der wichtigsten Autoren des „Forum“ jener Jahre, den Brief „an die Genossen der Parteigruppe Forum“ nicht zur Kenntnis gab, ist nur so zu erklären, daß es ihm ausdrücklich untersagt wurde. Formell war das „Forum“ „Organ des Zentralrats der FDJ“ und nicht „Journal der Jugendkommission“, deshalb konnte Schumann den lieben Klaus Hilbig anweisen: „Keine Kontakte mehr zu Turba und Wessel!“ Wieweit sich Hilbig auch nach dem 11. Plenum daran gehalten hat, werden wir noch sehen.

Just in dieser Zeit vor dem 11. Plenum kam auch Rudolf Bahro (als stellvertretender Chefredakteur) zum „Forum“. Ihn kannte ich seit etwa 1956 vom Philosophischen Institut der Berliner Humboldt-Universität (dessen Direktor damals mein Doktorvater Georg Klaus war). Die Enthüllungen des XX. Parteitages der KPdSU hatten den Philosophie-Studenten Bahro überdurchschnittlich stark mental beeinflußt. Bahros Verhalten 1965/66 im „Forum“ war mir seinerzeit unverständlich – und es ist rätselhaft geblieben, umso mehr, als Rudolf Bahro im Sommer 1995 vom Krankenbett aus dem „Spiegel“ (Heft 26/95, Seiten 46 bis 51) diverse Annäherungen an das MfS und an Mielkes Stellvertreter Markus Wolf offenbarte.

Indem Hilbigs Brief mit den rüden Angriffen Honeckers und Schumanns auf den „Forum“-Reformkurs geheimgehalten statt im „Forum“ öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, verwandelte er sich in eine Kapitulationsurkunde. Von da an war das Journal nur noch ein Schatten seiner selbst.

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