Ein Fluch liegt auf Neftjanyje Kamni
Insider-Erinnerung an Ulbrichts Besuch auf dem „Erdöl-Felsen“ im Kaspischen Meer am 20. September 1965
Von Harald Wessel
„Die kleinen Sünden“, sagt der Volksmund, „bestraft Gott gleich, die großen später“. Womöglich kann er sich damit zwei Jahrzehnte Zeit lassen – etwa in Neftjanyje Kamni („Erdöl-Felsen“), auf der größten „Bohr-Insel“ der Welt, rund vierzig Kilometer von Baku entfernt mitten im Kaspischen Meer gelegen. Nach dem zweiten Weltkrieg unter Mithilfe von 2300 deutschen Kriegsgefangenen in Stalinscher Hauruck-Manier angelegt, lebten in prosperierenden Zeiten auf Neftjanyje Kamni, einer Stadt auf Stahlstelzen, über 5000 Menschen, um Jahr für Jahr rund fünf Millionen Tonnen hochwertiges Erdöl aus dem Schelf zu fördern. Nun aber, so hat FOCUS-Reporter Volker Handloik kürzlich vor Ort festgestellt, ist Neftjanyje Kamni eine „Ölstadt vor dem Untergang“, ein riesiges „Korrosions-Imperium“.
Seit dem Zusammenbruch der UdSSR kommen überhaupt keine Ersatzteile mehr aus dem Ural nach Neftjanyje Kamni. Alles verrostet und verfällt. Die restliche Ölförderung dient dem seit 1987 wütenden Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Löhne werden kaum noch gezahlt. Neuzeitliche Apokalyptische Reiter sind über das etwa 200 Quadratkilometer große Areal von Bohrtürmen, Rohrleitungen, Straßen, Wohnhäusern und Werkstätten hereingebrochen: Solidaritätsverfa11, soziale Freiheitsberaubung, ethnischer Bürgerkrieg, technischer Exodus, Schwarzmarkt-Anarchie, Trunksucht und ein seit 1986 unerklärlich steigender Meeresspiegel, der das gigantische ehemalige Vorzeige-Objekt zu überfluten droht.
Eine solche konzentrierte Katastrophe hätte sich an jenem 20. September 1965, als eine von Walter Ulbricht geleitete „Partei-und Regierungsdelegation der DDR“ Neftjanyje Kamni besuchte, niemand auf dem „Erdöl-Felsen“ träumen lassen. Die Gäste aus dem „Bruderland“ wurden mit Blumen und Freundschaftsworten überschüttet. Die Blumen (vom Festland) und die Freude der Erdöl-Produzenten waren echt, die offiziellen Freundschaftsparolen hingegen selten so verlogen wie an diesem Tag.
Doch wer wußte damals schon, welcher „Bruderkrieg“ sich hinter den Kulissen abspielte? Auf Neftjanyje Kamni begann am 20. September 1965 gleichsam die heiße Phase der gegenreformatorischen Kampagne Leonid Breshnews zur Disziplinierung der DDR – eine „verdeckte“ Operation, die mit dem Selbstmord Erich Apels (am 3. Dezember 1965), dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED (15. bis 18. Dezember 1965) sowie dem Sturz Kurt Turbas (am 27. Januar 1966) und Hermann Axens (am 18. Februar 1966) ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
Vorausgegangen war am 10. September 1965 ein selbst in der bewegten Geschichte der Beziehungen zwischen Moskau und Ostberlin einmaliger (und bis heute weitgehend geheim gebliebener!) Vorgang: Der Kreml hatte den von der SED-Führung als offiziellen Korrespondenten des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ nach Moskau geschickten namhaften DDR-Journalisten Franz Krahl zur „Persona non grata“ erklärt und dessen sofortige Abberufung verlangt, die Axen schon am 11. September dem nach Berlin zitierten Krahl mitzuteilen hatte. Begründung der KPdSU-Führung: Krahl habe auf Moskauer Pressekonferenzen Fragen gestellt, die nicht vereinbart gewesen seien. Dieser journalistisch absurde Vorwurf war zugleich eine gegenreformatorische Kritik am zaghaft liberalen Medienverständnis, das dem Beschluß des SED-Politbüros „Zur weiteren Verbesserung der Zeitung „Neues Deutschland“ vom 27. Oktober 1964 zugrunde gelegen hatte. Da weder Franz Krahl noch das ND-Redaktionskollegium geneigt waren, die absurde Moskauer Demarche zu akzeptieren, schob die Kreml-ührung am 24 . September 1965 weitere Vorwürfe nach : Unter anderem genierte man sich nicht, geheimdienstliche Observation des Korrespondenten einer „Bruderpartei“ einzugestehen, indem Krahl vorgehalten wurde, er habe sich bei Empfängen westliche r Korrespondenten in Moskau „ungebührlich lange aufgehalten“. Da Krahl das ND jahrelang in London vertreten hatte, war sein gutes Verhältnis zu britischen und nordamerikanischen Journalisten nicht verwunderlich. Doch Moskau befürchtete offenbar, daß auf diesem Wege Interna der ungemein kontroversen Wirtschaftsverhandlungen publik werden könnten, die synchron zu Ulbrichts Visite auf Neftjanyje Kamni zwischen Ökonomen der DDR und der UdSSR in Moskau stattfanden.
Erich Apel, der im Zuge des DDR-Reform-Konzepts „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ die einseitige Wirtschaftsbindung der DDR an die UdSSR überwinden wollte, weigerte sich, einem langfristigen Handelsvertrag zuzustimmen, der erneut voluminöse Lieferungen von Produktionsan1agen aus der DDR zu Niedrigpreisen und von sowjetischem Erdöl zu überhöhten Preisen an die DDR vorsah. So sollte ein riesiges Chemiekombinat in Sumgait (wo 1987 die antiarmenischen Pogrome stattfanden) praktisch vom DDR-Chemieanlagenbau ausgestattet werden. Der für die DDR höchst unvorteilhafte Vertrag wurde erst am 3. Dezember 1965, wenige Stunden nach Apels Selbstmord, in Berlin unterschrieben.
Es war charakteristisch, daß Walter Ulbricht nach Erhalt der Moskauer Demarche den ND-Korrespondenten prompt opferte, obgleich darunter die Berichterstattung über den Staatsbesuch in der UdSSR zwangsläufig leiden mußte und die Krahl-Abberufung einer politischen Ohrfeige für den SED-Chef gleichkam. Ulbricht wagte es auch nicht, von Neftjanyje Kamni aus öffentlich in die Moskauer Wirtschaftsverhandlungen einzugreifen. Die Rede auf dem obligaten Freundschaftsmeeting mit den Erdölarbeitern hielt Erich Honecker, der sich bei Breshnew mit der Feststellung empfahl, das Wichtigste sei „ein Höchstmaß an Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Länder“. Ulbricht beschränkte sich auf ein Grußwort, in dem er immerhin die „Produktivkraft Wissenschaft“ als „das Entscheidende“ im Wettkampf der „beiden Weltsysteme“ bezeichnete. Doch von der DDR-Wirtschaftsreform war keine Rede.
Am Abend des 20. September 1965 gab es in Baku ein Bankett, auf dem für die DDR erstmalig Günter Mittag sprechen durfte. Gleichzeitig erhielt ND-Chef Axen (vermutlich von Honecker in Baku) die telefonische Weisung, den zweiten Jahrestag des am 21. September 1963 beschlossenen „Jugendkommuniqués – Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ im ND zu ignorieren (was Axen nur auf der Titelseite tat). Um allerdings die SED von ihren noch unter Chruschtschow eingeleiteten bescheidenen Reformbestrebungen nachhaltig abzubringen, mußte Breshnew buchstäblich stärkere Geschütze auffahren: beim „Manöver Oktobersturm“ 1965 – der größten militärischen Operation nach dem zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden.
Zum Tod Erich Apels schrieb Stephan Thomas am 15. Dezember 1965 in der Springer-Zeitung „Die Welt“, Moskau kenne nur den eigenen Vorteil; der Vorteil der Sowjetunion indes sei nicht der Vorteil der Deutschen, „selbst nicht der deutschen Kommunisten“. Und wörtlich: „Die unzähligen kleinen und großen Dr. Apels, sie werden ein notwendiger Faktor sein, wenn es darum geht, einmal die gesamtdeutsche Bilanz zu ziehen.“ Diese Bilanz steht 1994 noch aus. Und es scheint so, als würden für die politischen Sünden der Vergangenheit in erster Linie die falschen Leute bestraft…
Oktober 1994
Der Text wurde für die Zeitung „Neues Deutschland“ geschrieben, aber nicht gedruckt. Harald Wessel (1930 bis 2021) hatte bei der Zeitung, für die er als Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur gearbeitet hatte, seit 1990 faktisch Schreibverbot.