Höhenflug mit Hoffnungsträger

Aus Harald Wessels Memoiren „Doppelt befreit“: Rennsteigbote, Neues Deutschland und der linke Boulevard – ein Plausch über DDR-Medien mit Werner Lamberz in Thüringen

Der 22. September 1976 war ein schöner Herbsttag mit wolkenlosem Himmel bis hin zu den Höhen des Thüringer Waldes, durch den ich zwischen 1944 und 1948 zahlreiche Fuß- und Radwanderungen unternommen hatte. Erstmalig sah ich nun die Unstrut, auch Sömmerda, Weimar, Erfurt von oben – und Buchenwald, das Areal des ehemaligen Lagers und die im Herbst 1958 eingeweihte „Nationale Mahn- und Gedenkstätte“, für deren Aufbau die DDR- Bevölkerung (mehrheitlich!) rund 20 Millionen Mark gespendet und mehr als 20.000 NAW-Stunden (NAW = Nationales Aufbauwerk) freiwillig (jedenfalls ohne Entlohnung) gearbeitet hatte.

Lamberz und ich saßen allein in der Passagierkabine des Fliegers, einer zweimotorigen Maschine der „Regierungsstaffel“. Das Flugzeug sowjetischer Bauart war wegen des Lärms der Turbinen gewiß nicht fürs Abhören geeignet. Also erzählte ich Lamberz die Geschichte vom „Heil Hitler!“-Milchmann Wilhelm Morek. * Lamberz schaute auf die Landschaft unter uns und hörte offenbar interessiert zu. Er hatte Sinn für Widersprüche. Das lag wohl an seiner Herkunft und an seinem Werdegang.

Werner Lamberz (rechts) bei der Premiere des Films „Jakob der Lügner“ am 17. April 1974 im Berliner Kino „Kosmos“. Links neben neben ihm Regisseur Frank Beyer, Hauptdarsteller Vlastimil Brodky und dessen Ehefrau Jana Brejchova Foto: ADN-Zentralbild/ Hans-Joachim Spremberg Bundesarchiv, Bild 183-P0417-0017/ CC BY-SA 3.0 DE

Werner Lamberz war 1929 in Mayen (Eifel) als Sohn eines kommunistischen Arbeiters geboren worden. Peter Lamberz, sein Vater, wurde von den Nazis verfolgt und inhaftiert. Womöglich war er in Esterwegen und Dachau, jedenfalls aber auch dort unten im Nazi-KZ Buchenwald. 1941 steckte man ihn in eine Straf- und Bewährungseinheit der Wehrmacht an der Ostfront. Er lief über und wirkte im sowjetisch gelenkten Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) mit. Als einer der NKFD-Frontbeauftragten versuchte er beim Vormarsch der Roten Armee in Ostpreußen, deutsche Soldaten von weiterem militärischen Widerstand abzubringen.

Ebenfalls im Jahre 1941 schickten die Nazis seinen Sohn Werner auf die NAPOLA (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) in der Ordensburg Sonthofen. Es war für den „Kommunisten-Sprößling“ die einzige Möglichkeit, an eine Oberschul-Bildung zu gelangen. 1944 setzte er sich in den Ferien von der NAPOLA ab. Genossen seines Vaters versteckten ihn bei Mayen in einer Gärtnerei. Die sinnlose Zerstörung seiner Vaterstadt beim Angriff nordamerikanischer Bomber am 2. Januar 1945 mußte Werner Lamberz noch aus der Nähe miterleben. Dann trafen sich Vater und Sohn wieder – in Luckenwalde, wo Werner Lamberz seine steile Karriere als FDJ- und SED-Funktionär begann. Vater Peter Lamberz hingegen kam über die Kreisebene nicht hinaus. Angeblich neigte er zu „linkem Sektierertum“.

Dialog beim Landeanflug auf Erfurt 1976: „Werner, ich glaube nicht, daß wir über die Schweigelager der Freunde ewig schweigen können.“ – „Habe Geduld, Harald, einen langen Atem hat die Geschichte. Eines schönen Tages werden wir offen darüber reden können.“ – Leider hat Werner Lamberz diesen schönen Tag nicht mehr erlebt. Am 6. März 1978 kam er beim Hubschrauber-Absturz in Libyen ums Leben. Die genauen Umstände und Ursachen seines Todes konnten nie schlüssig aufgeklärt werden. Doch die Grabplatte dieses Hoffnungsträgers der DDR in Berlin-Friedrichsfelde habe ich zwischen 1978 und 2012 nie ohne Blumen gesehn.

Bleiben wir noch beim lebendigen Lamberz. Früh in der Sauna des „Panorama-Hotels“ und dann während eines Waldspazierganges – bis der Wagen mit Leibwächtern uns zur Fahrt nach Suhl abholte – redeten wir über Medien. Ich zeigte den Göbel-Brief, beklagte den endlosen Todeskampf des Forum (der noch bis zum Frühjahr 1983 andauern sollte!) und präsentierte das Projekt des „Rennsteig-Boten“ wie einen spontanen Einfall. Lamberz lachte. Und: „Du wirst noch in Berlin gebraucht. Morgen vielleicht mehr als gestern und heute.“

In westlichen Medien wurde Lamberz damals gerne als „Honecker-Nachfolger“ gehandelt. Das war natürlich spekulativ und für den Betroffenen ärgerlich, weil damit die ohnehin in Teilen der SED-Führung gegen Lamberz bestehenden Aversionen angefeuert wurden. Dank der Gnade der späteren Geburt war der charismatische junge Mann nicht verstrickt in das Gewusel jener dreierlei Funktionärsgruppen (von ehemaligen Moskauer Emigranten, Westemigranten und KZ- oder Zuchthaus-Überlebenden), die lange Zeit in der SED-Führung vorherrschten. Allerdings fehlte dem raschen Aufsteiger deshalb auch eine entsprechende Hausmacht.

In Moskau schien Lamberz (seit seinem Studium an der dortigen Komsomol-Hochschule 1952/53) intelligentere Freunde und Förderer zu haben als Honecker. Rückblickend steht für mich fest: Die Wahrscheinlichkeit, daß Werner Lamberz seinen Ziehvater Erich Honecker als Parteichef ersetzen würde, war nie größer als zwischen dem Sommer 1976 und dem Spätherbst 1977.

Wäre Lamberz – reine Spekulation! – damals wirklich an Honeckers Stelle getreten, hätte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zuerst die Wirtschafts- und Medienpolitik im schnellen Schritt geändert. Real hatte es in der Geschichte der DDR-Medien nur zweimal spürbar positive Veränderungen gegeben: 1953/54 im Zuge des „Neuen Kurses“ nach der Staatskrise vom 17. Juni 1953 sowie 1963/1964 als Grundelemente der von Walter Ulbricht versuchten einschneidenden und komplexen Reformen – wobei nur systemimmanente (!) Veränderungen logischerweise als Reformen gelten können.

In der Zeit des „Neuen Kurses“ 1953 traten erstmalig neben die drögen Blätter belehrender politischer Indoktrination („gedrucktes Parteilehrjahr“) einige in Form und Inhalt attraktive Printmedien in deutscher Normalsprache mit Unterhaltung, Humor und mehr Information: die Familienzeitung Wochenpost, das farbig illustrierte Satire-Blatt Eulenspiegel, die Monatsschrift Das Magazin (lange Zeit die einzige Drucksache im ganzen Sowjetimperium mit regelmäßigen Aktaufnahmen!) und (ab 1956) die grafisch vorzügliche Modezeitschrift Sybille. Das Projekt einer anspruchsvollen, international attraktiven „Intelligenz-Zeitung“ Die Republik – mit verschiedenen gedruckten Probenummern vom Frühjahr 1954 – blieb auf der Strecke. Einer der Gründe dafür wird die chronische Papierknappheit gewesen sein.

Das tragende Personal der Medien-Reform von 1953/54 kam aus der Westemigration und entstammte der „Weimarer Generation“, die – wie zum Beispiel Albert Norden, Hilde und Gerhart Eisler – mit der ungemein erfolgreichen Arbeit des KPD-Medienmoguls Willi Münzenberg noch persönlich verbunden gewesen war. Bei den Reformversuchen 1963 bis 1965 spielte diese Generation bereits eine geringere Rolle. Jetzt dominierten Fachkräfte, die in der DDR (erstmalig ohne wesentliche Bildungsprivilegien!) studiert hatten und die das bundesdeutsche Medienangebot (Westfernsehen in fast jedem DDR-Wohnzimmer) als medienpolitische Herausforderung empfanden. Mit dem 1963 zur „Zeitung für geistige Probleme der Jugend“ veränderten Forum wurde diese Herausforderung angenommen.

Auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR gibt es noch keine gediegene Studie zum Thema „Glanz und Elend im DDR-Blätterwald“. Der publizistische Entrüstungsaufwand ist beträchtlich, der Forschungsaufwand hingegen bleibt vergleichsweise spärlich. Das strukturelle Grunddilemma der DDR-Printmedien kommt nirgends zu Sprache. Die DDR-Presse war von Anfang an eine Lizenzpresse. Die Lizenzen vergab (wie auch im Westen) zunächst die Besatzungsmacht und später das Presseamt der DDR-Regierung. Lizenzen erhielten in erster Linie Parteien, politische Massenorganisationen und Ministerien. Formell gab es keine Zensur, zumindest keine Vorzensur. Doch die Lizenzträger (als Herausgeber) kontrollierten „ihre“ Blätter vorwiegend nach Gesichtspunkten der eigenen „Hausmacht“, also eher politbürokratisch als journalistisch professionell.

Das Forum beispielsweise figurierte seit 1950 als ein „Organ des Zentralrates der FDJ“. Fast ein Jahrzehnt lang hatte sich der Forum-Chefredakteur Kurt Turba unprofessionellen „Ratschlägen“ und nervenden Anweisungen der FDJ-Zentrale fügen sollen. Mehrere Versuche (besonders 1956), diese teils ziemlich bescheuerte Bevormundung abzuschütteln, waren gescheitert – bis SED-Chef Walter Ulbricht höchst persönlich ab Ende 1962 Turba den Rücken frei hielt und die „Herausgeber“ kuschten. Eine absurde Konstellation ohne Zweifel! Doch dem immanent kritischen „Forum-Kreis“ bescherte diese Konstellation etwa zwei Jahre lang jenen Freiraum oder Spielraum, der zur Herstellung eines in Inhalt und Form akzeptablen Printmediums unerläßlich ist.

Gut ein Jahr lang hatte ich 1957/58 (noch als Doktor-Aspirant an der Ostberliner Humboldt-Universität) solche publizistischen Freiräume schätzen gelernt – bei der Mitarbeit an der monatlichen gesamtberliner Studentenzeitschrift tua res, die von der „Troika“ Hermann Kant (Jahrgang 1926), Klaus Korn (Jahrgang 1931) und Harald Wessel in einer Dachstube in der Berliner Friedrichstraße redigiert wurde. Hermann, der „Chef“ des Dreigespanns, hatte zweifellos nicht die Rückendeckung von Ulbricht persönlich. Klaus und ich nahmen an, Hermann habe von der SED-Bezirksleitung freie Hand und das nötige Papierkontingent für unser Blatt erhalten. Jedenfalls wurden wir von niemandem redaktionell bevormundet.

Zu Aufstieg und Fall des Forum gibt es inzwischen ein paar Studien. Sie leiden darunter, daß weder die typografische Modernität noch der geistige Avantgardismus im Detail untersucht werden. Man kann aber über das Forum nicht schreiben, ohne zumindest die Hefte der Jahrgänge 1963 bis 1965 wirklich gelesen zu haben. Nur dann versteht man die damalige Ausstrahlung des Forum auf andere deutschsprachige Medien.

Immerhin wurde 1964 beim ersten und letzten Versuch eines Zeitungsaustausches zwischen BRD und DDR das Ostberliner Forum als Äquivalent zur Hamburger Wochenzeitung Die Zeit angesehen. Der Austausch (freies Angebot beider Blätter in Ost und West!) scheiterte am Einspruch des Presseamtes der damaligen Bonner Bundesregierung und nicht etwa an „kalten Füßen“ von SED-Chef Ulbricht, der den Austausch als ein wichtiges Element seiner „schleichenden Entstalinisierung“ (Theo Sommer) und seines Strebens nach weitgehender Selbstbestimmung in deutsch-deutschen Fragen favorisierte.

Der Erfolg des Forum ermunterte einige andere Journalisten und Funktionäre zum Projekt eines DDR-Nachrichtenmagazins nach dem Vorbild des Hamburger Wochenjournals Der Spiegel. Der Ostspiegel sollte den Namen Profil tragen, rund 80 Seiten im Format 32 x 24,5 cm umfassen sowie außer Text auch Fotos und teils farbige Grafiken bieten. Als Initiator des Projektes trat die Abteilung Agitation des ZK der SED in Erscheinung. Das deutete auf Albert Norden hin. Es kann aber auch sein, daß die Profil-Initiative von ganz anderer Seite ausging. Jedenfalls erstellten mindestens 19 Redakteure von DDR-Blättern und einige Fachleute der Leipziger Fakultät für Journalistik eine Profil-Probenummer, die im Herbst 1964 dem SED-Politbüro vorgelegt werden sollte, was aber nicht geschehen ist. Da ich am Konzept nicht beteiligt war und auch die Probe-Nummer nie zu Gesicht bekam, kann ich zum Scheitern von Profil keine Erklärung bieten.

Ganz anders war die Konstellation im Falle der „Blauen Periode“ der zentralen SED-Zeitung Neues Deutschland. Blau als zweite Druckfarbe war schon 1963 hin und wieder im ND verwendet worden, „um die Obrigkeit an diese schöne Farbe zu gewöhnen“, wie Eberhard Heinrich (Jahrgang 1926), damals Redaktionssekretär des ND, mehr oder weniger laut zu sagen pflegte. Im Frühsommer 1964 aber, wenn ich mich recht erinnere, kam Ermutigung von Oben: ND-Chefredakteur Hermann Axen brachte aus einer Sitzung des SED-Politbüros die Anweisung mit, nun eine Beschlußvorlage „Plan zur weiteren Verbesserung der Zeitung Neues Deutschland“ auszuarbeiten und der Parteiführung vorzulegen. Die Veränderung des ND war also „Chefsache“. Und die Tendenz der „weiteren Verbesserung“ war mit einem einzigen Wort unauffällig vorgegeben: „Zeitung“ hieß es da und nicht „Zentralorgan“ (des ZK der SED)!

Zur Ausarbeitung des Planes rief Eberhard Heinrich eine kleine Gruppe von engagierten ND-Redakteuren zusammen und brachte deren Arbeitsziel auf die Formel: „Umwandlung des Organs in eine gern gelesene Volks- und Massenzeitung!“ ND-Chefredakteur Hermann Axen ließ uns gewähren. Das Projekt-Team konnte sich auf einen einzigartigen Fundus von Leser-Meinungen und Leser-Kritiken stützen: Im Frühjahr 1964 hatte Neues Deutschland eine Meinungsumfrage unter seinen Abonnenten veranstaltet, an der sich rund 16.000 Personen beteiligten! Das war eine Novität in der DDR, die in Umfang und freimütiger Offenheit leider nie wiederholt werden konnte.

Die Umfrage ergab zahlreiche unmißverständliche Änderungswünsche von Lesern , auf die wir uns berufen und denen die retardierenden Kräfte nur schwer ausweichen konnten. Leider steht mir ein Exemplar des Originalkonvoluts der Umfrage nicht mehr zur Verfügung. Mag sein, daß es Honeckers Leuten sogar gelungen ist, das Dokument auch anderswo einfach verschwinden zu lassen. Ende März 1966 (also drei Monate nach dem berüchtigten 11. Plenum) verteilte nämlich das Leipziger Institut für Theorie und Praxis der Pressearbeit als „Internes Material“ einen 140seitigen Manuskriptdruck mit dem Titel „ND-Umfrage 1/1966“. Es war eine geschönte Fassung der Umfrage vom Frühjahr 1964.

Erinnerungsfehler ausgeschlossen? Ja; denn bei meinen Akten liegt das „Protokoll der Beschlüsse der Außerordentlichen Kollegiumssitzung (des ND) am 22. August 1964“ mit der Tagesordnung „Plan der weiteren Verbesserung der Zeitung Neues Deutschland“. Unter Punkt 3 heißt es dort wörtlich: „Die Leserumfrage wird als Anlage (zur Politbüro-Vorlage; H.W.) konzentriert beigelegt. Die Hauptergebnisse werden durch Genossen Reuter bis zum 15. September auf 3 – 5 Seiten formuliert. Gleichzeitig werden auf etwa 10 Seiten die wichtigsten Leserstimmen – solche, die charakteristisch sind und die übereinstimmen mit den Forderungen, die wir stellen, zusammengefasst.“ Keine Frage also, dass die erste Umfrage unter ND-Lesern nicht erst 1966, sondern schon vor dem 22. August 1964 stattgefunden haben muss und daß ihre Ergebnisse dem SED-Politbüro „konzentriert“ unterbreitet wurden.

Welche Soziologen uns bei der wirklich ersten ND-Umfrage maßgeblich geholfen haben, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Hervorheben muß ich aber die beneidenswerte Geduld und Hartnäckigkeit, die besonders „Wittko“ – Gerd Wittkowski (1925 bis 2011), Schwager von Wolfgang Harich (1923 bis 1995) – zwischen 1968 und etwa 1977 an den Tag legte, um in immer neuen Anläufen die eine oder andere Leserumfrage ins Werk zu setzen. Die Ergebnisse landeten meist im Panzerschrank des Chefredakteurs. Doch immerhin sahen wir beispielsweise, daß der Anteil von Lesern mit Hoch- und Fachschulabschluß immer mehr wuchs und daß sich die Mehrheit der Leser „mehr außenpolitische Informationen“ wünschte.

Unser Plan zur Veränderung des ND selbst umfaßte schließlich 44 Seiten, die mit mehreren Anlagen (nicht nur Leserumfrage, sondern auch Personalbestand usw.) im Oktober 1964 beim SED-Politbüro als Beschlußvorlage eingereicht wurden. Die Vorlage kam als Punkt 6 auf die Tagesordnung der turnusgemäßen Politbüro-Sitzung am Dienstag, den 27. Oktober 1964. Zu diesem Tagesordnungspunkt wurden auch die Mitglieder des ND-Kollegiums eingeladen, dem ich seit Sommer 1963 angehörte. Erst- und letztmalig erlebte ich mithin als Augen- und Ohrenzeuge die oberste Führungsriege der DDR beim Regieren.

Es gibt Tage, die sich ziemlich genau und ganz anschaulich ins Gedächtnis eingegraben haben. Dazu gehören der 27. Oktober 1964 ebenso wie der 4. Juli 1943. Beide Tage hatten eine ähnliche „Gefühlsfärbung“. Die innerliche Erregung ergab sich an beiden Tagen aus dem Bewusstsein, daß etwas Entscheidendes passierte – aber auch aus der eigentümlichen Spannung zwischen Hoffnung und Skepsis. Am 4. Juli 1943 waren wir in Ufhoven der unmittelbaren existentiellen Bedrohung unter Bombenteppichen entrückt, ahnten aber, daß der Krieg uns nachkommen würde. Am 27. Oktober 1964 fuhr ich mit Eberhard Heinrich geradezu übermütig zum „Großen Haus“, dem Sitz der SED-Führung – doch eine „innere Stimme“, besser: ein „unbestimmt gefühlter Zweifel“ bremste die kühnsten Träume. Die Ernüchterung allerdings kam völlig unerwartet aus einer rational nie bedachten „Ecke“.

Wie lange wir im Vorraum des „Sitzungssaales des Politbüros“ auf den sechsten Punkt der Tagesordnung warteten, weiß ich nicht mehr. Es kann eine halbe oder eine ganze Stunde gewesen sein. Dann – noch vor Punkt 5 der Tagesordnung – eilte ein Mitarbeiter aus dem „Büro Ulbricht“ in den Sitzungssaal, und wenige Minuten später kam Walter Ulbricht höchst daselbst aus dem Saal, mit sehr ernstem Gesicht. Er würdigte die Wartenden keines Blickes und ging raschen Schrittes davon. Der Mann aus seinem Büro flüsterte Eberhard Heinrich drei Worte zu: „Nikita wurde gestürzt.“

Diese Hiobsbotschaft vom 27. Oktober 1964 war und blieb für mich das klassische Modell eines mysteriösen Rückschlags. Nie habe ich mir erklären können, warum der reformfreudige Kremlchef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894 bis 1971) im fernen Moskau ausgerechnet an dem Tag seine Macht verlor, an dem in Berlin unser Zeitungsprojekt besiegelt werden sollte. Rätselhaft, wie gehabt! Eine raffinierte Verschwörung mit perfektem Timing? Diesmal undenkbar! Purer Zufall? Vermutlich! Jeder erlebt das mal: Aus heiterem Himmel treffen Abläufe zeitlich zusammen, die in ihrer Gleichzeitigkeit von desaströser Wirkung sind. Muß solche Synchronizität unbegreifbar bleiben?

Jedenfalls hatte Honecker die Leitung der Politbürositzung übernommen, nachdem Ulbricht zu „wichtigeren Dingen“ abgegangen war und der Tagesordnungspunkt 6 endlich aufgerufen wurde. Und E.H. lobte unsere Vorlage, um sofort „beherzt“ – nein: penetrant! – an ihr herumzumäkeln. Nach seinem Monolog blieb für Diskussion keine Zeit. Noch nicht einmal die andern Mitglieder des Politbüros kamen gebührend zu Wort, geschweige denn wir vom ND und andere eingeladene Gäste.

Der „Plan zur weiteren Verbesserung der Zeitung Neues Deutschland“ wurde zwar einstimmig, aber unter Vorbehalt der von Honecker geforderten Änderungen beschlossen. Anders gesagt: Unser Projekt der Verwandlung des „Organs“ in eine Zeitung wurde nur in verwässerter Form abgesegnet. Und von da an glaubte Honecker (trotz seiner formellen Unzuständigkeit für Medienpolitik!) befugt zu sein, „den Genossen im Zentralorgan der Partei“ freundliche Rüffel und „wertvolle kritische Hinweise“ geben zu dürfen.

Freundliche Rüffel? Ja, damit begann es. Doch schon Anfang 1966, im Gefolge des „11. Plenums“ vom Dezember 1965, mußten erst Eberhard Heinrich und dann Hermann Axen die ND-Redaktion in der Mauerstraße verlassen. Ich versuchte mich in die Wissenschaft zu verdrücken. Der neue Chefredakteur Rudi Singer (1915 bis 1980) allerdings ließ das nicht zu, worüber noch zu berichten sein wird. Eberhard traf der Rausschmiß besonders hart. Er sollte als Fernsehkorrespondent (!) nach Moskau (!) abgeschoben werden. Doch Werner Lamberz fing ihn auf. Klar, daß Lamberz die wechselvolle Geschichte des ND aus den Erzählungen seines „persönlichen Mitarbeiters“ Eberhard Heinrich gut kannte. Eberhard bildete auch eine Art Vertrauensbrücke zwischen Lamberz und mir.

Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Lamberz ausgerechnet am 27. Oktober 1964 erstmalig die Hand gegeben. Der elegant wirkende, hoch gewachsene junge Mann, zu der Zeit vor allem in der FDJ und in internationalen Jugendorganisationen bekannt, war kurz zuvor in den Parteiapparat gerufen worden, um das Ressort Auslandspropaganda zu übernehmen. Zum Tagesordnungspunkt 5 („4. Journalistenkonferenz des ZK der SED“) hatte man auch Lamberz als Gast eingeladen. Er muß also mit uns vom ND im Vorraum des Sitzungssaales gewartet und die dramatische Nachricht aus Moskau mitbekommen haben.

Zwölf Jahre später, am 23. September 1976 in Oberhof, verschwendeten wir kaum Worte auf das real existierende ND, dessen nunmehriger Chefredakteur Joachim Herrmann (1928 bis 1992) seine Weisungen von Honecker direkt entgegennahm – an Lamberz vorbei und leider ohne jede Widerrede. Solange „Achim“ Chef blieb, konnte man das ND „vergessen“.

Natürlich habe ich kein Protokoll des Oberhofer Gedankenaustausches mit Werner Lamberz, auch kein Gedächtnisprotokoll, nur Stichworte, die damals in der Suhler Kongreßhalle notiert und im Berliner Bücherkeller abgeheftet wurden. Ich besaß einen japanischen Taschenrekorder für offizielle Interviews, in einer Sauna kaum verwendbar, wohl aber bei Waldspaziergängen. Doch auf die durchaus „hinterfotzige“ Idee, unsere Gespräche heimlich mit einem Kassettenrecorder aufzunehmen, wäre ich und bin ich nie gekommen.

Werner Lamberz, Fan von Manfred Krug, war auf einen Vertrauensbruch nicht gefaßt. Krug hier mit seiner Kollegin Ursula Karusseit am 3. Oktober im Gebäude des DDR-Staatsrates in Berlin. Sie nehmen den Nationalpreis I. Klasse für den TV-Mehrteiler „Wege übers Land“ entgegen. Ihre Gesprächspartner sind hier SED-Chef Walter Ulbricht (rechts) und Ministerpräsident Willi Stoph
Foto: ADN-Zentralbild Joachim Spremberg, Bundesarchiv, Bild 183-G1003-0040-001 / CC-BY-SA 3.0

Auch Lamberz scheint solchen Vertrauensbruch für undenkbar gehalten zu haben – sonst wäre er kaum ein paar Wochen später ins Ostberliner Haus von Manfred Krug (Jahrgang 1937) gegangen, um dort mit einer Gruppe namhafter DDR-Künstler freimütig, offen und vertrauensvoll über die Ausbürgerung von Wolf Biermann (Jahrgang 1936) zu sprechen. Daß Krug – entgegen der Abmachung, vom Gespräch „nichts festzuhalten“ – die ganze Debatte (zu welchem Zweck auch immer!) heimlich mit einem Tonbandgerät „aus dem Westen“ aufgenommen hat, mußte Lamberz zum Glück nicht mehr erfahren. Es hätte ihn schockiert; denn er war ein Fan von „Manne Krug“ und im Sommer 1977 tief traurig, daß er ihn von seinem Wunsch, in den Westen auszureisen, nicht abbringen konnte.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich habe das Kölner Biermann-Konzert vom 13. November 1976 im Fernsehen verfolgt und über dessen politische Einseitigkeit den Kopf geschüttelt. Litt der Liedermacher unter Egomanie? War er wirklich so naiv, wie er sich gab? Oder war er gar fremdgesteuert? Alles keine Gründe, ihn zu ernstzunehmen. Amüsiert hat mich die Vorstellung, wie die TV-Übertragung eines Gewerkschaftskonzertes (!) aus Köln einige Leute in Wandlitz auf die Palme treiben würde. Daß die Honecker-Truppe allerdings auf den höchsten Wedeln der Palme einen ebenso einsamen wie hysterischen Beschluß zur Ausbürgerung des Sängers fassen könnte, habe ich – bis die Meldung kam – nicht für möglich gehalten. Mit dieser Nachricht erst wurden Biermann und sein Kölner Liederabend zu einem für die DDR peinlichen Politikum.

Ich war damals der Meinung, die Hermann Kant in seiner (von Lamberz unterstützten!) Stellungnahme für Neues Deutschland (ND-Ausgabe vom 20./21. November 1976) so schön süffisant ausgedrückt hatte: „Ich will nicht verhehlen, dies rasch zu sagen, daß ich Herrn Biermann ganz gut ausgehalten habe und auch weiterhin ausgehalten hätte; mich brauchte man nicht vor ihm zu schützen.“

Auch bin ich der Ansicht, daß Manfred Krug mit seiner Drucksache „Abgehauen/Ein Mitschnitt und Ein Tagebuch“ (Econ Verlag, Düsseldorf 1996) der Historiografie sehr wohl einen Gefallen getan hat. Nur sich selbst hat „Liebling Kreuzberg“ mit der Veröffentlichung keinen Gefallen getan. Die Entstehung dieser zeitgeschichtlichen Quelle ist und bleibt mit einem Vertrauensbruch behaftet, den wir in anderen Fällen klar verurteilen. „So was tut man nicht“, hätte meine Mutter den im illegalen Mitschnitt steckenden Vertrauensbruch schlicht, aber moralisch eindeutig kommentiert. Für eine US-Ausgabe des Krug-Buches „Abgehauen“ kann ich mir übrigens einen den dortigen Verhältnissen gemäßen treffenderen Titel denken: The Confidence Man.

Als Gedächtnisstützen zum Rennsteig-„Schwatz“ vom 23. September 1976 habe ich auf vergilbtem Papier einige Stichworte entziffert: „FS + Beltz für Rennsteigboten“; „Welt am Abend, BZA, linker Boulevard“; „Fear of Flying New Yorker Ausgabe?“. Was verbarg sich hinter diesen Notizen?

FS steht für Fernschreiber, das damals wichtigste Textübermittlungsgerät auch für Zeitungen. Der Fernschreiber funktionierte (analog zum Fernsprecher) als Kommunikationstechnik über Kabel – statt der Telefon-Hörer waren gleichsam Schreibmaschinen per Draht miteinander verbunden. Man saß vor einem Schreibgerät, das in einen Holzkasten von der Größe eines Schreibtisches eingebaut war und hatte eine normale Schreibmaschinen-Tastatur vor sich. Neben der Tastatur befand sich ein Wählscheibe, wie man sie von alten Telefonen kennt.

Hätte ich in einer (hypothetischen!) Oberhofer Redaktionsstube einen Fernschreiber zur Verfügung gehabt, dann wäre es – noch ohne Computer und Internet! – relativ leicht gewesen, die Texte für den (hypothetischen!) Rennsteig-Boten zum Beispiel an das Langensalzaer Druckhaus Thomas Müntzer (vormals Julius Beltz) zu übermitteln: Ich hätte den FS der Druckerei angewählt, den Text in die Tastatur getippt und die Impulse der Anschläge wären per Fernsprechleitung dem gewählten Fernschreiber übermittelt und dort auf Endlospapier automatisch „angeschlagen“ worden – zeitgleich, ohne den Verzug der Briefpost. Man konnte den Text sogar vorher auf Lochstreifen schreiben – dann ratterte er im Nu über die verbundenen Fernschreiber. Und natürlich hätte man auf einem FS auch die „Botschaften“ der DDR-Nachrichtenagentur ADN empfangen können.

Doch – wie gesagt – fand Der Rennsteig Bote keine praktische Gegenliebe. Und also blieben FS und die Druckerei in Bad Langensalza (nahe der Wohnung meiner Mutter in der Clara-Zetkin-Straße) bloße Theorie. Ernsthafter war unser Diskurs über die Frage: Gibt es einen linken Boulevard? Genauer: Kann es linke Boulevard-Zeitungen geben? Oder ist „Yellow Press“ zu ordinär und zu manipulativ für „Die gebildete Nation“ – wie die DDR-Bevölkerung von Optimisten gerne genannt wurde?

„Die gebildete Nation“ war eine gestelzte Formel, die Axen mit Ulbricht und Norden als Titel für die regelmäßige Wochenend-Beilage des ND ausgedacht hatte. Diese Formel, die aus politisch normativen Gründen schönfärberisch pauschalisierte, wurde wie eine „Heilige Kuh“ gehütet und auch von kritischen Köpfen nicht öffentlich hinterfragt; denn die hehre Formel funktionierte ganz nebenbei als eine Art von Schutzschild für die vornehmlich in der Wochenend-Beilage behandelten wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Themen.

Ein modernisierter Blätterwald indes hätte mit den nach wie vor recht unterschiedlichen Bildungsstandards und dem differenzierten Interessenspektrum der Menschen in der DDR realistisch rechnen müssen. Das hatte Willi Münzenberg in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts exzellent vorgemacht. Doch da Stalin den KPD-Medien-Meister zur „trotzkistischen“ Unperson erklären ließ, blieben Willi Münzenbergs innovative Beiträge zur modernen Mediengeschichte in der DDR weitgehend tabuisiert. Sie wurden bei der Journalisten-Ausbildung kaum beachtet.

Nur „die alten Hasen“ kannten beispielsweise noch das legendäre Münzenberg-Blatt Die Welt am Abend, das schließlich eine Auflage von fast 230.000 Exemplaren (1929!) erreichte und zu den ersten erfolgreichen deutschen Boulevard-Zeitungen gehörte. Die politische Konkurrenz auf dem Boulevard wurde zwar „bürgerliche Sensationspresse“ genannt. Doch an sensationeller Aufmachung übertraf die linke Welt am Abend die meisten damaligen rechtsgerichteten Boulevard-Blätter: mit komprimierten Nachrichten, suggestiven Schlagzeilen und anfeuernden Kommentaren. Einen wichtigen Unterschied gab es allerdings auch im Erscheinungsbild: Die nationalistischen Blätter hatten viel mehr Reklameflächen als Münzenbergs Zeitungen; die wiederum viel mehr Leserpost veröffentlichten.

Einer wirksamen Kombination von Text und Foto setzte der damalige Rotationsdruck enge technische Grenzen. Doch die legendäre Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (A-I-Z) aus dem Neuen Deutschen Verlag Willi Münzenbergs kann als die seinerzeit auch gestalterisch modernste Illustrierte der Welt angesehen werden. Der Tiefdruck erlaubte Schlagzeilen im „Pinselstrich“ und eine Bildwiedergabe in psychologisch optimalen Formaten. Die A-I-Z bot bereits 1925 alle Elemente einer modernen Bild-Zeitung. Sie erreichte bisweilen fünf/sechs Millionen Leser (und Betrachter). Mit der Organisation der „Arbeiter-Fotografen“ und ihrer Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf sicherte sich der Münzenberg-Konzern den nötigen Abbildungsnachschub – besonders aus benachteiligten sozialen Milieus.

Seit Mitte Juli 1949 gab es auch in der DDR eine Boulevard-Zeitung: die BZ am Abend (BZA). Sie war gleichsam als Stiefkind der Berliner Zeitung zur Welt gekommen. Das kleinformatigere Blatt wurde nachmittags gedruckt und in den Berliner öffentlichen Nahverkehrsmitteln „zum Feierabend“ verkauft. Es erreichte eine Auflage von 175 000 Exemplaren. Das typografische Gesicht der BZA entsprach etwa dem der Boulevard-Blätter der Weimarer Zeit. Und diese antiquierte Machart der BZA blieb weitgehend unverändert in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, obgleich die Fortschritte der Fotografie, der Bildübermittlung und des Offset-Druckes ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet hatten (wie man vor allem an der Hamburger Bild-Zeitung sehen konnte). Die BZA, so sagte ich zu Lamberz, sei eine mediale Mumie. Und der „Sekretär für Agitation“ widersprach nicht.

Werner Lamberz hatte einen Bildband mit frühen Flugblättern geschenkt bekommen – mit Reproduktionen auch aus der Zeit von Martin Luther (1483 bis 1546). Diese deutsch deftigen, überhaupt sprachmächtigen Handzettel mit Holzschnitt-Karikaturen genierten sich nicht, Scheiße auch „Scheiße“ zu nennen. Dem Volk wurde aufs Maul geschaut. Und seine Redeweise erschien unverfälscht als Drucksache. Diese Flugschriften folgten keiner importierten „Political Correctness“. Sie kannten kein bürokratisches „Parteichinesisch“ und kein anbiederndes „Denglisch“. Sie brachten ihr Anliegen in die psychologisch wirksamste Form, etwa 400 Jahre bevor die Tiefenpsychologie als Wissenschaft begründet wurde.

Lamberz sah die Analogie zwischen diesen herrlichen uralten Flugblättern (die man heute oft „Flyer“ nennt – eine beknackte Wortadaption!) und den modernsten Printmedien. Wir überlegten, ob die BZA radikal modernisiert werden solle oder ob als tägliche Alternative zu Neues Deutschland (mit den Protokoll-Botschaften und langen Reden) auch ein ND im Bild (zur raschen, konzentrierten, attraktiven und eindringlichen Information, aber auch zur vergnüglichen Unterhaltung) geschaffen werden könnte. Es war und blieb allerdings ein hypothetischer Diskurs – sieht man von einem Projekt-Papier ab, das ich damals aufschrieb, dann „zdA“ (zu den Akten) nahm und im Sommer 1989 vervielfältigt „unter die Leute“ brachte. Doch ein ND im Bild kam auch in der „Wende“ 1989/90 nicht zustande. Über die Effizienz gewisser Ersatzlösungen von Ost-Boulevard-Blättern schweigt des Sängers Höflichkeit.

„Fear of Flying“? Ja, wir „plauderten“ am Rennsteig auch über den 1974 in New York erschienenen erotischen Roman von Erica Jong (Jahrgang 1942). Die unvergeßliche Katja Stern (1924 bis 2000), ND-Redakteurin seit den frühen fünfziger Jahren, besaß die gerade erschienene (west)deutsche Ausgabe: „Angst vorm Fliegen“. Mir hatte sie den „Erotik-Thriller“ ausgeliehen, und ich verstand den Pressewirbel nicht, der sich im Westen um „die Unzucht“ aus dem Kopf einer „weiblichen Autorin“ drehte. „Werner, es lohnt nicht“, sagte ich, „nach kurzer Zeit wird es langweilig“. – „Vielleicht müßte man das im Original lesen.“ – „Auf Amerikanisch könnte es schriller klingen.“ – „Zumal wir die englisch-amerikanischen Fachbegriffe kaum kennen…“

Monate später, genau am 7. Mai 1977, kaufte ich bei einem Zwischenstop in New York ein Taschenbuch-Exemplar von „Fear of Flying“, eigentlich als „Mitbringsel“ für Werner Lamberz. Doch ich kam nicht mehr dazu, es ihm in die Hand zu drücken. Angestrichen hatte ich das Poem „The 8:29 to Frankfurt“, in dem die Young sich über Warnschilder „Nicht hinauslehnen“ an deutschen Eisenbahnfenstern amüsiert: Jeder wisse doch selbst, wie gefährlich das Hinauslehnen sei. Eben!

Spät abends am 23. September 1976, nach einer Volvo-Fahrt zwischen Suhl und Erfurt, stiegen wir ins Flugzeug Richtung Schönefeld. Die Städte unter uns leuchteten friedlich in der Dunkelheit. Ich schickte einen stillen Gruß hinunter und hinüber nach Bad Langensalza, wo meine Mutter im Krankenhaus lag. In der Kabine gab es Kaffee aus einer Thermoskanne. Wir bedienten uns. Es war ein langer Tag.

* Wessel berichtet hier Lamberz über den NSDAP-Ortsgruppenleiter des Thrüinger Dorfs Ufhoven, in das es den Autor als Halbwüchsigen nach der Evakuierung aus dem bombardierten Wuppertal verschlagen hatte. Morek hatte einen Milchladen und hielt die Kunden in seinem Geschäft an, mit Heil Hitler“ zu grüßen. An einer anderen Stelle seiner Memoiren schreibt Wessel folgendes:

NSDAP-Ortsgruppenleiter Wilhelm Morek, der mit seinem Milchladen und ein paar Morgen Ackerland keineswegs an der Spitze der sozialökonomischen Hierarchie des Dorfes stand, verlor mit jeder militärischen Niederlage der Nazis an politischer Autorität. Er war intelligent genug, diesen Zusammenhang zu begreifen. Wie lange er geglaubt hat, der Autoritäts- und Einflußverlust der Nazis könne mit zunehmend brutalem Gestapo-Terror aufgehalten werden, ist schwer zu sagen.

Von den örtlichen Verhaftungen und anderen Repressionen vor allem 1944/45 muß Morek in seiner Parteifunktion gewußt haben. Den massenmörderischen Sinn der Parole „Endlösung der Judenfrage“ wird er gekannt haben. Jedenfalls wurde Morek gleich nach dem Einrücken der Amerikaner (am 5. April 1945) für wenige Tage festgesetzt, aber wieder freigelassen und kurz nach dem Einrücken der Roten Armee in Langensalza und Ufhoven (3. Juli 1945) von sowjetischer Geheimpolizei verhaftet, verhört und für etwa vier Jahre ins ehemalige Nazi-KZ Buchenwald gebracht, das nun als sowjetisches „Speziallager“/„Internierungslager“ diente.

Da mich das Schicksal des „Heil Hitler!“-Mannes von 1943 besonders interessiert hat, eile ich hier den Ereignissen voraus. Es muß im Sommer 1949 oder 1950 gewesen sein, nach Ende meines ersten oder zweiten Studienjahres in Jena. In Ufhoven half ich Frau Weber bei der Ernte. Auf dem Weg zu Mutters Wohnung traf ich am Dorfgraben nahe dem Erbsborn einen sehr schlanken, leicht gealterten Mann. Es war Wilhelm Morek.

Freundlich sagte ich: „Guten Tag, Herr Morek!“ – „Guten Tag, Herr Wessel!“ – „Gut, daß Sie wieder da sind und das überstanden haben.“ – „Es war nicht leicht, gar nicht leicht. Darüber darf ich nichts erzählen.“ Wir setzten uns auf die Bank beim Erbsbrunnen und Herr Morek vertraute mir doch einige Details seiner „Haft“ in Buchenwald an. Morek wußte natürlich, daß ich Biologie-Student in Jena und Mitglied der SED war. So etwas sprach sich im Dorf lückenlos herum.

Die „Speziallager“ der Besatzungsmacht in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden nicht vom Militär, sondern vom sowjetischen Geheimdienst betrieben, der von 1943 bis 1946 das Kürzel NKGB trug (nach dem russischen Vollnamen, der auf Deutsch „Volkskommissariat für Staatssicherheit“ bedeutete) und von 1946 bis 1951 das Kürzel MGB (für „Ministerium für Staatssicherheit“). Permanente Umbenennungen gehörten zum Wesen dieses „geheimen“, jedenfalls nicht öffentlich kontrollierten Repressionsapparates. Vor dem Krieg lief er unter TSCHEKA, GPU, OGPU und NKWD. Ab 1954 bürgerte sich das Kürzel KGB (für „Komitee für Staatssicherheit“) ein. Morek wurde also 1945 nicht in einem „GPU-Keller“ verhört, sondern von NKGB-Offizieren. Die Schweigeverpflichtung nahm ihm in Buchenwald nicht das „Volkskommissariat“, sondern das „Ministerium“ (für Staatssicherheit der UdSSR) ab.

Doch Namen sind Schall und Rauch. Wesentlich ist die Art des Umgangs mit Häftlingen. Die Strafgefangenen im sowjetischen „Speziallager“ waren ohne Rechte und wurden körperlich wie seelisch mißhandelt – also gefoltert. Vor allem hungerten sie weit stärker als die normale Bevölkerung in der SBZ. Morek beklagte sich nicht in unserem Gespräch. Er war sich seiner Schuld wohl bewußt. Doch im „Speziallager“ wurden nicht nur belastete Nazis („wirkliche ehemalige Faschisten“) gefangen gehalten, sondern auch vermeintliche (meist jugendliche) „Wehrwölfe“, zudem oppositionelle Sozialdemokraten (die sich 1946 der Vereinigung von KPD und SPD zur SED widersetzt hatten) und sogar „widerspenstige Kommunisten“, die pauschal als „Trotzkisten“ stigmatisiert wurden.

Der von Stalin und Berija geführte Geheimapparat übte Rache, nicht Gerechtigkeit. Er praktizierte Staatsterrorismus zum Zwecke allgemeiner Einschüchterung und Abschreckung. Der willkürlich vorbeugenden Repression fielen auch Unschuldige reihenweise zum Opfer. Stalin ließ die Deutschen seines Machtbereiches nicht viel anders behandeln als „seine Sowjetbürger“ während der „großen Säuberung“ der dreißiger Jahre in der UdSSR. Das war zweifellos eine Perversion überkommener sozialistischer/kommunistischer Ideale und Grundsätze. Und deshalb vor allem, so ist anzunehmen, erzählte Morek gerade mir, dem „jungen roten Idealisten“ von seinen Jahren in Buchenwald.

Moreks Informationen öffentlich zu verwenden, verbot sich angesichts des bestimmenden sowjetischen Einflusses in der DDR von selbst – auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU (im Februar 1956), auf dem Chruschtschow in einer „Geheimrede“ mit einigen Verbrechen Stalins und Berijas „abgerechnet“ hatte. Sogar Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in der Zeit nach dem „Mauerbau“ (am 13. August 1961) und der (Ende 1965 von Moskau gestoppten) Politik der Reformen in der DDR, blieben die „Speziallager“ der sowjetischen Geheimpolizei in den offiziellen Geschichtsdarstellungen der UdSSR und der DDR tabu.

Erst gut ein Vierteljahrhundert nach Moreks Offenbarungen am Ufhovener Erbsbrunnen konnte ich seine Buchenwald-Erlebnisse „an den Mann bringen“: an das SED-Politbüro-Mitglied Werner Lamberz (1929 bis 1978)

Harald Wessel (1930 bis 2021) war einer der wichtigsten politischen Journalisten der DDR, Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“. Er hat umfangreiche Memoiren unter dem Titel „Doppelt befreit“ hinterlassen. Sie besitzen einen hohen zeitgeschichtlichen Wert, sind aber Fragment geblieben. Der Text des hier veröffentlichten Auszuges war im Jahr 2012 fertiggestellt.