„Ish bin ein Bearleener“

Und der Schwarze Peter geht an – Walter Ulbricht (Teil 1)

Von Harald Wessel

„Ish bin ein Bearleener!“ Immer wieder gern zitiert wird der Satz, den John F. Kennedy (1917 bis 1963) am 26. Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus in die Menge rief. Doch wie kam der Polit-Spruch zustande? Und welchen Sinn hatte der Slogan?

Folgt man dem Dolmetscher Robert Lochner (1918 bis 2003), dann hatte Kennedy ihn im Treppenhaus gebeten, die Wendung „I am a Berliner!“ in deutscher Sprache auf einen Zettel zu schreiben. Im Büro des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt (1913 bis 1992), so Lochner kurz vor seinem Tod, habe der Präsident das Papier genommen und den Satz zwei mal zur Probe gesprochen, „sehr konzentriert“ und „lächelnd“.1

Kennedy, Brandt und Adenauer am 26. Juni 1963 in Westberlin, drei Tage vor der Rede mit Satz: „Ish bin ein Bearleener!“ Foto: Colin Smith, CC BY-SA 2.0, via wikimedia commons

Doch etwas komplizierter muß es schon gewesen sein; denn bald nach Kennedys Ankunft in Berlin-Tegel war ein Mann zu seiner Entourage gestoßen, der kein offizielles Amt innehatte, aber Einfluß genug besaß, dem Präsidenten „Hinweise“ zu geben: Jay Lovestone ( 1897 bis 1990), eine Graue Eminenz der US-amerikanischen Doktrin des Antisowjetismus im Kalten Krieg der Nachkriegszeit. Einst hatte Lovestone an der Spitze der Kommunistischen Partei der USA gestanden, bis er sich 1928 in Moskau mit Stalin (1879 bis 1953) anlegte und „die Seiten wechselte“. Besonders stolz war der frühe „Wendehals“ darauf, daß es ihm (als CIA-nahem Gewerkschaftsfunktionär) zwischen 1945 und 1949 gelungen war, die deutsche Gewerkschaftsbewegung zu spalten und die Gewerkschafts-Führung in den drei Westzonen auf einen strikt antikommunistischen Kurs festzulegen.2

Lovestone war es denn auch, der Kennedy am Vormittag des 26. Juni 1963 zum Kongreß der IG Bau, Steine, Erden lotste, der gerade in Westberlin stattfand. In seiner zehnminütigen Begrüßungsrede versicherte der 35. US-Präsident: „Wherever there are men still enslaved , I am not free” (Wo immer Menschen noch versklavt sind, bin ich nicht frei).3 Obgleich solch eine “Identifikation” mit den „Verdammten dieser Erde“ aus dem Munde des Abkömmlings einer Bostoner Millionärsdynastie ziemlich ungewöhnlich klingen mußte, brachen die Delegierten in Jubel aus.

Nachmittags im Büro von Willy Brandt, belehrte Lovestone den Präsidenten, er müsse „I too am a Berliner“ (Auch ich bin ein Berliner) sagen. Doch Kennedy brachte das deutsche „auch“ phonetisch nicht zustande. So blieb es beim „Ich bin ein Berliner“. Lovestone glaubte ferner zu wissen, unter einem „Berliner“ verstehe man einen „jelly donut“ (Pfannkuchen mit Zuckerglasur). Und der Präsident wolle doch wohl sagen „I am one of you“ (Ich bin einer von Euch) und nicht „We are all jelly doughnuts“ (Wir alle sind glasierte Pfannkuchen).4

Während also ein Hauch von Backstuben-Semantik Willy Brandts Büro durchwehte, blieb der eigentliche „Pferdefuß“ des Politspruches unbeachtet. Welcher „Pferdefuß“?

Der Innsbrucker Zeitgeschichtler Rolf Steininger, der 2002 die bislang aufschlußreichste Studie zum Bau der „Berliner Mauer“ am 13. August 1961 vorlegte, beschreibt den „Pferdefuß“: „Zwei Jahre später, im Juni 1963, war der amerikanische Präsident John F. Kennedy in West-Berlin, wo er seine Rede vor dem Schöneberger Rathaus mit dem inzwischen allseits bekannten Satz ´Ich bin ein Berliner’ beendete und Hunderttausende ihm begeistert zujubelten. Kennedy hätte lieber sagen sollen: ´Ich bin ein West-Berliner.’ Das hätte die Sache und seine Berlinpolitik wohl eher getroffen und deutlich gemacht, daß in jedem Fall weniger Jubel angebracht gewesen wäre.“ 5

Genau, auf das Datum kommt es an. Vor dem 13. August 1961 wäre Kennedys Slogan nur ein nettes Kompliment für die Bewohner von Spree-Athen gewesen. Vor dem 13. August 1961 hätte „Ich bin ein Berliner“ als augenzwinkernde Schmeichelei an die Adresse der Einwohner jener Stadt durchgehen können, die Bertolt Brecht nach Kriegsende treffend „den Trümmer-Haufen bei Potsdam“ genannt hatte. Vor dem 13. August 1961 wäre der US-Präsident per Vier-Mächte-Status noch irgendwie legitimiert gewesen, sich als ein Garant für ganz Berlin zu fühlen.

Doch seit dem 13. August 1961 war Berlin durchgängig zweigeteilt. Seit dem 13. August 1961 gab es „den Berliner“ nicht mehr. Er war definitiv entweder West- oder Ostberliner. Kennedy beschwor also 1963 ein Phantom. Und sein schöner, inzwischen zum Geflügelten Wort avancierter Spruch geriet realiter zum politisch wertlosen Lippenbekenntnis, zu einer Redefigur eingängiger Heuchelei und zu einer Hörprobe charismatischer Demagogie. Denn – was die Jubelwestberliner vor dem Schöneberger Rathaus nicht wissen konnten, was aber einige Herren auf der Rednertribüne (Kennedy, Brandt, Adenauer und Lovestone) gewußt haben müssen und was inzwischen in den Geschichtsbüchern belegt ist – US-Präsident John F. Kennedy höchst daselbst hatte die Absperrmaßnahmen des 13. August 1961 vor (!) diesem Datum billigend in Kauf genommen.

Beispielhaft hartnäckig und mit einigem Erfolg rang Rolf Steininger in den USA um die Freigabe von Geheimakten zur Berlin-Krise. Obwohl er sich dabei auf den so genannten Freedom of Information Act von 1979 stützen konnte, waren die Ergebnisse teils kafkaesk. Ein wichtiges Memorandum beispielsweise bekam er zwar, aber „bis auf das Deckblatt waren sämtliche Seiten geschwärzt“.6 Besonders „bei den Wortprotokollen der Gespräche Kennedy-Chruschtschow in Wien“ hatte der Innsbrucker Forscher langwierige Schwierigkeiten. Das lag wohl an der Brisanz dieses Gipfeltreffens vom 3./4. Juni 1961. Die beiden militärisch mächtigsten Männer der Welt eskalierten ihren Streit um Berlin bis zu hemmungslosen Atomkriegsdrohungen. Es waren, wie wir heute wissen, die gefährlichsten Tage im über vier Jahrzehnte währenden Kalten Krieg der beiden „Super-Mächte“.

Das Horrorszenario: Um die Abwanderung von DDR-Bürgern via Westberlin zu stoppen und den „Pfahl im Fleisch der DDR“ (Kampfsynonym für die Frontstadt Berlin West) zu entfernen, schließt die UdSSR mit der DDR einen separaten Friedensvertrag ab und überträgt ihr die Kontrolle über die zivilen Zufahrtswege nach Westberlin zu Lande, zu Wasser und in der Luft (!). Die Westmächte erkennen diese Kontrolle nicht an und gehen mit militärischen Mitteln gegen sie vor. Der Dritte Weltkrieg beginnt und weitet sich rasch zum atomaren Schlagabtausch aus. Mehrere hundert Millionen Menschen sterben „für die Freiheit Westberlins“.

Dem Himmel sei Dank, daß die Vernunft dann doch noch siegte. Rolf Steininger hat beinahe minutiös rekonstruiert, wie Moskau und Washington trotz der „Unnachgiebigkeit“ in Wien zu einer politischen Übereinkunft kamen, ohne daß Kennedy und Nikita Chruschtschow (1894 bis 1971) „ihr Gesicht verloren“. Per Geheimdiplomatie und/oder „Geheimdienst-Diplomatie“ wurde (teils hinter dem Rücken der jeweiligen Verbündeten) gegen Ende Juli 1961 ein Deal ausgehandelt, der auf eine kontrollierbar abgeriegelte Grenzlinie mitten durch Berlin hinauslief.7 Das war für die DDR, für die Berliner in Ost und West, für die künftigen deutsch-deutschen Beziehungen, für den Friedensvertrag mit Deutschland sowie vor allem für Partei- und Staatschef Walter Ulbricht (1893 bis 1973) persönlich die denkbar schlechteste Lösungsvariante. Aber damit hatten Moskau und Washington die seit 1958 schwelende Berlin-Krise endlich „vom Tisch“.

Auch beim anderen Geflügelten Wort zum Mauerbau kommt es auf das Datum an. Walter Ulbrichts Erklärung „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ fehlt zwar im gern als Wissensspeicher verwendeten „Archiv der Gegenwart“.8 Doch sie hat es immerhin in die vergnügliche „Weltgeschichte der Lüge“ geschafft, wo sie zwischen Barschels „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“ und Clintons „I did not have sexual relations with that women“ (Ich hatte keine sexuellen Beziehungen zu dieser Frau) steht – allerdings ohne Datumsangabe, so daß der Leser kaum überprüfen kann, ob Ulbricht tatsächlich schamlos log.9

Ein Kommentator des FAZ-Feuilletons, der in der „Weltgeschichte der Lüge“ geblättert haben muß, fand Ulbrichts Satz „lügentechnisch“ besonders gelungen und fragte: „Was hätte Walter Ulbricht an jenem 15. Juni 1961 auch anderes sagen sollen: ´In acht Wochen steht das Ding, also nichts wie weg, ihr Republikflüchtlinge?’ Dieser Fall hatte nie etwas Rätselhaftes an sich, es war einfach eine glatte Lüge.“10 Gewiß, lieber Kommentator „edo“, wer seine Geschichtskenntnisse aus dem Entertainment schöpft, stößt selten auf historiografische Rätsel. Eher geben seine forschen Unterstellungen dem geschichtskundigen Leser Rätsel auf.

Allen Unterlagen zufolge konnte Ulbricht am 15. Juni 1961 das Datum des Mauerbaus schon deshalb nicht kennen, weil überhaupt noch nicht klar war, auf welche Lösungsvariante die geheimen Verhandlungen zwischen Moskau und Washington hinauslaufen würden. Ulbricht sagte den Satz auf einer Internationalen Pressekonferenz in der DDR-Hauptstadt am 15. Juni 1961 sächselnd in die Mikrophone und Kameras. Das war elf Tage nach dem Wiener Desaster und mindestens einen Monat vor dem Deal zwischen Chruschtschow und Kennedy.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Walter Ulbricht auf der Pressekonferenz am 15. Juni 1961. Auf dem Foto v.l.n.r.: Hermann Axen, Chefredakteur von „Neues Deutschland“, Gerhard Kegel, Außenpolitiker und DDR-Diplomat, Walter Ulbricht, Kurt Blecha, Leiter des DDR-Presseamtes Foto: ADN-Zentralbild/Kollektiv, Bundesarchiv, Bild 183-83911-0002 / CC-BY-SA 3.0

Am 15. Juni 1961 machte die Ulbricht-Erklärung vor allem als Mahnung an Moskau Sinn, den Friedensvertrag mit der DDR trotz des Wiener Mißerfolgs nicht wieder auf die lange Bank zu schieben und die Abwanderung von Fachkräften aus der DDR nicht zu vergessen. Dem gewieften Sachsen war sogar zuzutrauen, daß er die Fluchtwelle, die auf jedem Höhepunkt der Berlin-Krise prompt anschwoll, nun nicht abebben lassen wollte, weil sie sein einziges Druckmittel war, die „teuren Genossen“ in Moskau zu schnellem, entschlossenem Handeln zu drängen.

„Ich habe noch nie im Leben einen solchen Idioten gesehen“, soll L. P. Berija (1899 bis 1953) im Frühjahr 1953 über Ulbricht gesagt haben. Im Kreml-Machtkampf nach Stalins Tod (am 5. März 1953) jonglierte der Geheimdienstchef freihändig mit den Existenzbedingungen der DDR. Im Juni/Juli 1953 fielen ihm die Keulen auf die Nase. Er wurde entmachtet, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und zu Weihnachten 1953 hingerichtet. Auf der Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Anfang Juli 1953 in Moskau hatte man seine „Todsünden“ angeprangert: vor allem das Spiel mit der Existenz der DDR, deren Uran-Lieferungen für die UdSSR lebenswichtig seien.11 Auch 1961 war die sowjetische Atomrüstung auf die Wismut AG in der DDR angewiesen.

Erst am 31. Juli 1961 (sechs Wochen nach Ulbrichts Erklärung!) erfuhr Kennedy aus dem Bericht von John McCloy über dessen Geheimgespräche mit Chruschtschow auf der Krim, in welcher Klemme der Kremchef steckte. Kennedy zu Walt Rostow: „Chruschtschow ist dabei, Ostdeutschland zu verlieren. Das kann er nicht zulassen… Er muß etwas tun, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen – vielleicht eine Mauer bauen. Und wir werden das nicht verhindern können. Ich kann das Bündnis zusammenhalten, um West-Berlin zu verteidigen, aber nicht, um den Zugang nach Ost-Berlin offenzuhalten.“12

Vielleicht hat Ulbricht Mitte Juni 1961 geahnt und befürchtet, daß die Sache am Ende auf eine Abriegelung quer durch Berlin hinauslaufen könnte. Dann wäre der Satz „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ auch ein (schließlich untauglicher) Versuch gewesen, Chruschtschow öffentlich weiterhin auf die Lösung per Friedensvertrag festzulegen. Der Beschluß der Chefs der Ostblockstaaten, Ost- und Westberlin kontrollierbar voneinander abzuriegeln (zunächst mit Stacheldraht und dann mit einer Mauer aus Ziegelsplittsteinen), wurde erst auf deren Tagung vom 3. bis 5. August 1961 in Moskau definitiv gefaßt. Da glaubte Ulbricht immer noch, die Abriegelung sei nur der erste Schritt zum Friedensvertrag. Erst allmählich mag ihm aufgegangen sein, daß man ihm und „seiner“ DDR den Schwarzen Peter zugeschoben hatte. Für bemerkenswert hält Rolf Steininger eine scheinbare Nebensache: „Der chinesische Delegierte saß während der gesamten Konferenz da und sagte kein Wort.“ 13

Zurück von seinem Westberlin-Besuch im Sommer 1963 soll Kennedy gegenüber dem Historiker Arthur Schlesinger die Ansicht geäußert haben, Massen von Menschen seien zu irrational, und auf Deutsche treffe das wohl besonders zu. Zuvor aber, auf dem Flug von Westberlin über Dublin in die USA, war der 35. US-Präsident noch mächtig angetan vom Jubel vor dem Schöneberger Rathaus. Zu Ted Sorensen sagte er: „So einen Tag erleben wir nie wieder, solange wir leben.“ Recht hatte er. Schon am 22. November 1963 wurde er in Dallas/Texas hinterrücks erschossen. Und wer es war, ist bis heute nicht klar.

1 Vgl. Berliner Zeitung vom 21. Juni 2003, Seite 3

2 Siehe Ted Morgan: A Covert Life/Jay Lovestone/Communist, Anti-Communist, and Spymaster. New York 1999, Seite 172

3 Ebenda, Seite 334

4 Ebenda

5 Rolf Steininger: Der Mauerbau/Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958 – 1963. München 2002, Seite 10

6 Siehe ebenda, Seite 13

7 Vgl. ebenda, Seiten 232 ff.

8 Vgl. Archiv der Gegenwart/Deutschland/1949 bis 1999. Band 3/Oktober 1957 – Mai 1962. Sankt Augustin 2000, Seiten 2824 bis 2832

9 „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“/Die Weltgeschichte der Lüge. Ein Text von Traudl Bünger und Roger Willemsen. Frankfurt/Main 2007, Seite 135

10 edo.: Keinstens. Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland vom 28. Mai 2008, Seite 33

11 Siehe: Der Fall Berija/Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU/Juli 1953/ Stenographischer Bericht. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Viktor Knoll und Lothar Kölm, Berlin 1993, Seiten 256 ff.

12 Zitiert bei Steininger, a.a.O., Seite 233

13 Ebenda, Seite 239

Harald Wessel (1930 bis 2021) war einer der wichtigsten politischen Journalisten der DDR, Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“. Der Text stammt aus dem Jahr 2008