Platt, eintönig, doktrinär
Und der Schwarze Peter geht an – Walter Ulbricht (Teil 2)
Von Harald Wessel
„Tarantel“ nannte sich eine in Westberlin hergestellte und für die illegale Verbreitung vor allem in Ostberlin und der DDR gedachte satirische Zeitschrift, die in Karikatur und Text nur eine Hauptzielscheibe kannte: Walter Ulbricht. Fuhr man vor dem 13. August 1961 in Berlin mit der S-Bahn von Schönhauser Allee über Gesundbrunnen ins Zentrum, konnte man der „Tarantel“ kaum entgehen. Sie lag auf den Holzsitzen herum oder auf dem Boden – wie heute die Reklameeinlagen von Tageszeitungen. Nach dem Mauerbau wurde das Hetzblatt bei günstigem Westwind per Luftballon in den Osten geschickt – ein echter, gleichwohl nicht ungefährlicher „Flyer“.
Die politische Effizienz der Propaganda-„Tarantel“ war und ist umstritten. Die Kriegszeiten, in denen der Besitz von „Feindflugblättern“ streng bestraft wurde, lagen noch nicht weit zurück. Auch gab es damals an der Spree unzählige ähnliche Agitationsdrucksachen – von beiden Seiten natürlich. Bis zum 13. August 1961 war Berlin, vor allem der westliche Teil, ein Eldorado für Geheimdienste. Von der CIA bis zur Korsischen Mafia – alle geheimen Dienste und Organisationen der Welt unterhielten hier ihre Filialen. Parolen des Kalten Krieges hatten eine inflationäre Konjunktur. Normale Berliner schalteten da einfach ab. Streng genommen war die „Tarantel“ eine Drucksache von Fanatikern für Fanatiker.
Fast hätte ich denn auch das bunte Faltblatt, in dem Ulbricht immer nur „Spitzbart mit Fistelstimme“ genannt wurde, total vergessen. Doch dieser Tage stieß ich in der jüngsten Ausgabe der Nürnberger populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Geschichte“ auf einen Beitrag „Der Mauerbauer mit dem Spitzbart/Walter Ulbricht“. /1 Als ich die Fotos sah und den Text las, trat die „Tarantel“, dieser popelige Dinosaurier des Kalten Kriegs, schlagartig aus dem Langzeitgedächtnis hervor. „Mein Gott“, dachte ich, „wie kommt ein Mann wie Dr. Franz Metzger, der Chefredakteur von ‚Geschichte’, dazu, eine solche abgestandene Scheiße im Jahre des Herrn 2008 ohne Widerrede zu drucken?“
Vielleicht hat jemand dem lieben Dr. Metzger gesagt, der Zuwachs an Stimmen für die Linke sei politisch so besorgniserregend, daß auch sein (bei Geschichtslehrern beliebtes) Journal etwas dagegen tun müsse? Nun ja, aber die Leute wählen doch nicht deshalb links, weil sie den seit 35 Jahren toten SED-Chef Walter Ulbricht oder gar eine von Moskau abhängige DDR wiederhaben wollen. Sie wählen links, weil sie vom Absinken des Lebensstandards im seit fast zwei Jahrzehnten staatlich vereinigten Heimatland enttäuscht sind. Ein geflügeltes Wort im Osten lautet jetzt: „Wir wollen die BRD wiederhaben, der wir 1990 beigetreten sind.“ Als ob einseitige und generalisierende Aufsätze über Walter Ulbricht an solchem Frust etwas ändern könnten!
Das Jahr 2009 wird außer der Bundestagswahl eine Menge runder Gedenktage mit sich bringen: den 2000. Jahrestag der Schlacht im Teutoburger Wald, den 90. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie des Versailler Vertrages, den 80. Jahrestag der schlimmsten Weltwirtschaftskrise, den 70. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges, die 60. Jahrestage der Gründung der BRD, der DDR und der VR China sowie den 20. Jahrestag der „Wende“ in der DDR.
Was werden die hierzulande vorherrschenden Medien mit dieser Flut von Gedenktagen anfangen? Wird es jeweils einen zivilisierten Diskurs über die geschichtlichen Ereignisse und ihre Lehren geben? Eine öffentliche Debatte kundiger Köpfe mit eigenwilligen Ansichten? Einen Gedankenaustausch, von dem „Osthistoriker“ nicht eo ipso per „Evaluierung“ ausgeschlossen bleiben? Eine offene Diskussion, die jungen Menschen zu geschichtlichem Interesse, zu solidem Wissen und zu selbstständigem Denken verhilft? Schön wäre es.
Oder sollen vor allem geschichtlich Ahnungslose die Gedenkartikel schreiben? Soll überall dasselbe gesagt, gezeigt und gedruckt werden? Soll das Abschreiben von einseitigen Plattheiten Mode werden? Soll das Jahr 2009 zum „Jahr der Tarantel“ werden? Oder hat das „Jahr der Tarantel“ längst begonnen? Anders gefragt: Wollen bestimmte „Vordenker“ einem Mann wie Walter Ulbricht die Verantwortung für alle Schandtaten und Gebrechen dieser Welt zuschreiben? In den vergangenen Wochen und Monaten sah es so aus.
Daß Ulbricht Ende Mai 1968 die Sprengung der Leipziger Universitätskirche nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern aus irrationalen Motiven auch aktiv betrieben hat, ist richtig, wenngleich die Rolle des tumben Leipziger SED-Bezirkssekretärs Paul Fröhlich (1913 bis 1970) und seiner Hintermänner in Berlin und Moskau bis heute nicht hinreichend geklärt ist.
Die Behauptung hingegen, Walter Ulbricht sei im Spätsommer 1968 der ideologische Haupteinpeitscher des Einmarsches von Truppen des Warschauer Paktes in Prag gewesen und habe eine Beteiligung der NVA der DDR an der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings herbeigesehnt, um militärischen Ruhm zu ernten, ist abwegig und durch nichts belegt. In Wahrheit hat Ulbricht damals monatelang darauf gehofft und darauf hingewirkt, gerade in Prag Bundesgenossen für seine eigene (seit Ende 1964 von Breschnew mißbilligte!) Reformpolitik zu gewinnen – bis ihm am Ende nichts andres übrig blieb, als sich der Breschnew-Doktrin zu fügen. Und ausgerechnet Ulbricht militärische Ruhmsucht zu unterstellen, ist völlig absurd.
Natürlich: Für die Kohorten der Denkfaulen und schrecklichen Vereinfacher ist es praktisch, einen universalen Sündenbock zur Hand zu haben, dem man in allen möglichen und unmöglichen Sachen den Schwarzen Peter zuschieben kann. Erdbeben in Japan? Ulbricht ist schuld. Aids in Afrika? Ulbricht ist schuld. Zu wenig Wasser auf dem Mars? Ulbricht ist schuld. Wir übertreiben? Natürlich übertreiben wir, damit der Schwachsinn deutlich wird.
Kürzlich saß bei Anne Will ein Landesminister, dessen Name mir entfallen ist. Offenbar um von aktuellen Problemen abzulenken, behauptete er, die DDR sei 1989 finanziell bankrott gewesen. Selbst DDR-Planungschef Gerhard Schürer habe das eingestehen müssen. In der Tat hatte Schürer am 24. Oktober 1989 eine „Analyse“ der finanziellen Situation der DDR vorgelegt. Es war eine Gefälligkeitsanalyse eines besonders treuen „Freundes der Sowjetunion“. Daß die „sozialistischen Bruderländer“ Ende 1989 über sechs Milliarden Valutamark und die UdSSR allein über drei Milliarden Valutamark Schulden bei der DDR hatten, sollte nicht in die Schlagzeilen kommen.
Doch seit August 1999 liegt die von der Deutschen Bundesbank offiziell festgestellte abschließende „Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989“ vor. Seitdem weiß man, daß Schürers Zahlen falsch waren und daß von einem finanziellen „Staatsbankrott“ nicht die Rede sein konnte. /2
Man hätte erwarten können, daß der „Lapsus“ eines Amtsträgers vor Millionen-Publikum umgehend von der öffentlich-rechtlichen ARD berichtigt würde. Irrtum! Statt der Wahrheit die Ehre zu geben, setzte ein Mann namens Philip Plickert noch eins drauf: „Der verschleppte Staatsbankrott/Nach langer Mißwirtschaft war die DDR in den frühen achtziger Jahren Pleite“. /3 Also auch hier: Walter Ulbricht war schuld!
Plickert räumt zwar ein, „durch die Demontagen der Russen“ habe sich „die industrielle Kapazität“ der SBZ/DDR „deutlich verringert“, und vor allem „die Sowjets“ hätten die „sozialistische Umgestaltung“ nach dem Moskauer Modell vorangetrieben. Doch schuld am Zurückbleiben der DDR-Arbeitsproduktivität hinter der im Westen sei die Staatswirtschaft mit ihrer zentralen Planung gewesen sowie der Umstand, daß die Löhne nie auf das Niveau der Produktivität gesenkt worden seien!
Das Wort Reparationen kennt der Wirtschaftsfachmann Plickert offenbar nicht. Jedenfalls erwähnt er das seit 1992 unangefochten vorliegende Standardwerk des Zürcher Historikers Jörg Fisch über Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg mit keinem Wort. Fisch zufolge hat noch nie ein Land Reparationen und reparationsäquivalente Leistungen in einem solchen Maße aufbringen müssen, wie es die UdSSR der DDR (bis zu ihrem letzten Tag und für ganz Deutschland!) abverlangte. Infolgedessen sei der Lebensstandard im Osten Deutschlands „auf niedrigstem Niveau“ geblieben, und die „ausgelaugte Wirtschaft“ habe „von der Substanz“ gelebt./4
Plickert kennt offenbar auch die „Aufzeichnung des Gesprächs des Gen. J.W. Stalin mit den Führern des ZK der SED“ vom 1. und 7. April 1952 nicht, die seit 2006 in deutscher Sprache gedruckt vorliegt. /5 Diesem lange Zeit geheim gehaltenen Protokoll zufolge war es vor allem Ulbricht, der Stalins Rüstungsauflagen für die DDR zu minimieren versuchte. /6 Übersehen haben muß der Entdecker des „verschleppten Staatsbankrotts“ ferner die informative Arbeit von Rainer Karlsch über die Wismut. /7 Dort hätte er nachlesen können, wie Ulbrichts DDR am 7. Dezember 1962 endlich ein Regierungsabkommen mit Moskau erwirkte, in dem Kosten und Nutzen des Uran-Bergbaus etwas günstiger verteilt wurden. /8 Bis dahin trug die DDR so gut wie alle Kosten, während die UdSSR das ganze Uran bekam.
Hinsichtlich der Schulden der DDR im westlichen Ausland greift Plickert zielsicher das Jahr mit der höchsten Summe heraus: 1980 mit 23 Milliarden Valutamark. Und was ist mit der heutigen BRD-Staatsverschuldung? Auch ein „verschleppter Bankrott“? Die Sachsen LB allein ist 2007/8 auf zweifelhaften Kreditpapieren im Umfang von atemberaubenden 39 Milliarden Euro(!) sitzengeblieben, während der gesamte Landeshaushalt des Freistaates nur 16,6 Milliarden Euro beträgt. /9
„In den fünfziger Jahren flohen insgesamt fast 13 Prozent der DDR-Erwerbsbevölkerung in den Westen,“ schreibt Plickert. Das war vor einem halben Jahrhundert. Und wie viel Prozent der DDR-Erwerbsbevölkerung mußten seit 1990 aus den neuen Bundesländern in den Westen gehen, um Arbeit zu finden? Ein Zahlen-Vergleich wäre aufschlußreich.
Um mit zwei versöhnlichen Bemerkungen auf die Nürnberger Zeitschrift „Geschichte“ zurückzukommen: Immerhin empfiehlt sie ein Buch! Und sie zitiert Sebastian Haffner. Der Lesetipp verweist auf Mario Frank: Walter Ulbricht/Eine deutsche Biographie. Berlin 2001.
Zu dem 539 Seiten starken Wälzer aus der Feder des inzwischen abgewählten „Spiegel“-Geschäftsführers Frank gäbe es viel zu sagen. Doch wenigstens auf den Seiten 351 bis 368 erfährt der aufmerksame Leser etwas über den Reformer Ulbricht und über „Das Rote Wirtschaftswunder“ in der DDR zwischen 1962 bis 1965.
Da ich Ulbricht genau in dieser Zeit aus der Nähe kennenlernte, sei deutlich gesagt, um was es ihm damals ging: Nachdem man ihm am 13. August 1961 den Schwarzen Peter zugeschoben hatte, versuchte er ein zum Moskauer Modell alternatives Sozialismus-Konzept zu entwickeln und schrittweise in der DDR zu realisieren. Er las kybernetische Fachbücher und entwarf eine kühne Vision: „VEB mit IBM“. Im Unterschied zu Breschnew war dieser Ulbricht durchaus zukunftsfähig.
„Die meisten Leute“, schrieb Sebastian Haffner damals, „sind heute noch vollauf damit beschäftigt, sich zu wundern, daß gerade ein Ulbricht der erfolgreichste deutsche Politiker nach Bismarck und neben Adenauer werden konnte“. Genau so war es. Wer Ulbrichts beste Jahre doktrinär ignoriert, wird sich ewig über gewisse geschichtliche Widersprüche wundern müssen. Jedenfalls hat Walter Ulbricht es nicht verdient, daß man ihn in einem „Jahr der Tarantel“ pauschalisierend als Buhmann deutscher Geschichte vorführt.
Die gegenwärtig in den deutschen Medien vorherrschende und an manchen Hochschulen favorisierte Geschichtsrezeption kann in ihrer politologischen Plattheit und doktrinären Einseitigkeit auf junge Leute nur langweilig, eintönig und uninteressant wirken. Nichts anderes belegt auch die Studie „Soziales Paradies oder Stasi-Staat?“ des Dahlemer „Forschungsverbundes SED-Staat“, deren Ergebnisse kürzlich für Medienwirbel sorgten.
Eine Umfrage unter 5200 sechzehn und siebzehn Jahre alten Schülern habe erschreckende geschichtliche Unkenntnisse enthüllt. In der Bewertung der DDR-Vergangenheit klaffe ein Widerspruch zwischen jungen Leuten in Bayern und Brandenburg. An der „Verklärung“ der DDR in den Köpfen junger Brandenburger und Berliner seien vor allem die Erzählungen von Eltern und Großeltern schuld.
Letztere „wissenschaftliche Einsicht“ muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sind etwa die individuellen Lebenserfahrungen von Eltern und Großeltern bei der Vermittlung eines „richtigen“ Geschichtsbildes hinderlich? Soll man vielleicht den Nachwuchs von der älteren Generation separieren? Die Eltern und Großeltern unter Vormundschaft stellen? Oder ihnen den Mund verbieten? – Da tut sich ein ziemlich eigenwilliges Verständnis von Demokratie, Meinungsfreiheit und politischer Kultur auf, das gewissen Irrwegen deutscher Geschichte peinlich nahekommt.
1/ Siehe die Nürnberger Monatszeitschrift Geschichte/Menschen/Ereignisse/Epochen, Heft 8/2008,Seiten 58 bis 62
2/ Vgl. Heinrich von Grauberger: Als die Kopfrechner sich katastrophal verrechneten. In Junge Welt vom 29./30. Januar 2000, Seiten 10 und 11
3/ Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland vom 16. Juli 2008, Seite 12
4/ Vgl. Jörg Fisch: Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1992, Seite 107
5/ Siehe Jürgen Zarusky (Herausgeber): Stalin und die Deutschen/Neue Beiträge der Forschung. München 2006, Seiten 187 bis 206
6/ Vgl. ebenda, Seiten 196 ff.
7/ Rainer Karlsch: Uran für Moskau/Die Wismut – eine populäre Geschichte. Berlin 2007
8/ Vgl. ebenda, Seiten 144/145
9/ Vgl.: Casino provincial. In Der Spiegel, Heft 28/2008, Seiten 80 ff.
Harald Wessel (1930 bis 2021) war einer der wichtigsten politischen Journalisten der DDR, Wissenschaftsredakteur und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung „Neues Deutschland“. Der Text stammt aus dem Jahr 2009