Als die Blätter fielen

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Zwischen Alexanderplatz und Ölberg

Von Holger Becker

Es war in der Zeit, als die Blätter fielen, genauer: so gegen halb Drei am Nachmittag des 18. Oktober 1989. An die 20 Leute standen wie gebannt in einem Raum des Berliner Museums für Deutsche Geschichte. Denn vollkommen überraschend tönte aus unsichtbaren Lautsprechern im alten Zeughaus am Boulevard Unter den Linden eine Radiostimme: „Zum Generalsekretär des Zentralkomitees der SED hat die 9. Tagung des ZK am Mittwochnachmittag Egon Krenz gewählt … Zuvor hatte das ZK der Bitte Erich Honeckers entsprochen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von seinen Funktionen zu entbinden.“

Im April 1990 stellt Robert Maxwell (links) in Strasbourg sein neues Zeitungsprojekt „The European“ vor. Rechts der Präsident des Europaparlaments Henry Plumb
Foto: Europäisches Parlament

Die Gruppe, die an diesem Tag das zentrale Geschichtsmuseum der DDR besuchte, bestand überwiegend aus Männern zwischen Dreißig und Vierzig, darunter einige Journalisten, die von ihren Redaktionen zum sogenannten Einjahreslehrgang an die SED-Parteihochschule „Karl Marx“ entsandt worden waren. Deren Zeugnis fehlte ihnen noch in der Raupensammlung, quasi als Voraussetzung zur Verwendung für höhere Aufgaben. Ausgerechnet in der Sonderausstellung über 40 Jahre DDR, eröffnet am 22. September ohne den erkrankten Honecker, hörten sie die Nachricht. Der Weltgeist machte Witze.

Einer aus der Gruppe fehlte schon bald bei den Seminaren im Haus Am Köllnischen Park, wo die Parteihochschule residierte. Dann erschien er plötzlich noch einmal, um alle für den Abend einzuladen. Sekt, Sekt, Sekt. In einem Lokal im Prenzlauer Berg brach ein Tisch fast zusammen unter der Last der vollen Gläser und Flaschen. Er sei gerade von Günter Schabowski, der sich nun im SED-Politbüro um die Medien kümmerte, zum Chefredakteur der „Berliner Zeitung“ ernannt worden, verkündete der Wiederaufgetauchte. Alle gratulierten. Wenige Tage danach fiel die Mauer. Sie wurde auf sehr spezielle, die sowjetischen wie US-amerikanischen, britischen und französischen Inhaber alliierter Rechte überrumpelnde Art eingedrückt – mit einem Lapsus zum Geltungsbeginn der vom SED-Zentralkomitee gerade gebilligten neuen Reiseregelung: „… meiner Meinung nach sofort, unverzüglich.“ Es war der gelernte Journalist Schabowski, der im Herbst 1989 die vorerst entscheidende Weiche umlegte – unabsichtlich oder gewollt, man sollte sich da nicht so sicher sein bei diesem talentierten Schauspieler. Und auch nicht bei der weltgeschichtlichen Einordnung des Ganzen. Es gibt ja auch China, das in längeren Zeiträumen denkt als andere Teile des Planeten.

Die „Berliner Zeitung“, von der gerade die Rede war, erschien im größten Verlag für Zeitungen und Zeitschriften, den die kleine DDR hatte, dem Berliner Verlag. Jeder DDR-Bürger kannte die Titel der Blätter, die in dem Haus gegenüber dem Alexanderplatz gleich neben dem Pressecafé gemacht wurden, Millionen bezogen sie als Abonnenten oder kauften sie am Kiosk, so die Druckerzeugnisse überhaupt zu haben waren, weil das Papier für die Nachfrage nicht reichte: nach der „Wochenpost“, der „Neuen Berliner Illustrierten“, der Frauenzeitschrift „Für Dich“, dem Fernsehmagazin „FF dabei“, der außenpolitischen Zeitschrift „horizont“ und noch einigen mehr. Einen Zwang, sie zu konsumieren, gab es nicht. So vernagelt sich die Medienpolitik der SED-Führung unter Erich Honecker in den entscheidenden Fragen gestaltete und damit eine große Unzufriedenheit (auch in den Redaktionen) anheizte, die Wißbegierde und das Unterhaltungsbedürfnis einer recht gebildet gewordenen Nation hatten die Macher der DDR-Medien durchaus auf dem Schirm und gaben ihm auch Futter. Nicht zuletzt mit den Zeitungen und Zeitschriften des Berliner Verlages.

Die Mehrzahl der Titel aus diesem Haus verschwand nun sehr zügig vom Markt. Wie so viele Zeitschriften aus der DDR, während allerdings die gewendeten und gewandelten SED-Bezirkszeitungen unter Westverlage aufgeteilt wurden und mit ihren Verbreitungsgebieten bis heute die Verwaltungsgeographie der DDR nachbilden, nicht wenige in inzwischen kümmerlicher Existenz, weil die heutige Unterschätzung von Leserintelligenz (bei allerdings saftigen Abopreisen) früheren Verfehlungen in nichts nachsteht.

Wie die DDR-Medienlandschaft seit dem Herbst 1989 auf Westniveau gebracht worden ist, zeichnete die Wissenschaftlerin Mandy Tröger sehr detailreich in ihrer Dissertation nach, die jetzt unter dem Titel „Pressefrühling und Profit“ als Buch erschienen ist. Darin steht vieles, das bisher nur die Beteiligten wußten und einiges, das dem Gedächtnis der anderen inzwischen entfallen ist. So erfahren wir zum Beispiel: Gerd Schulte-Hillen, Chef des Verlages Gruner + Jahr (schon damals im Mehrheitsbesitz von Bertelsmann), wandte sich schon drei Wochen nach dem Mauerfall an den neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, um ein Joint Venture für den Pressevertrieb vorzuschlagen. Das an seiner Sprache erkennbar auf einer Vorlage aus der DDR beruhende Hamburger Konzept vom 29. November 1989 zielte auf die Gründung eines Monopols für den Einzelhandelsverkauf von Presseprodukten in der DDR, während die Abonnementszustellung beim DDR-Postzeitungsvertrieb verbleiben sollte. Gruner + Jahr wollte auf diesem Wege die Remittenden seiner Zeitschriften – das Flaggschiff war der „Stern“, Fachblatt für die Veröffentlichung gefälschter Tagebücher –, also die im Westen an den Kiosken nicht verkauften Exemplare im Osten absetzen.

Daraus wurde nichts. Dennoch: Der Pressevertrieb fungierte als wirksamer Hebel, um den DDR-Markt zu knacken. Letzteren teilten schließlich die Großverlage Gruner + Jahr, Axel Cäsar Springer, Burda und Bauer unter sich auf, nachdem ihnen klar geworden war: Die DDR wird nicht mehr lange bestehen. Am 10. Februar 1990 nämlich gab KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow dem BRD-Kanzler Helmut Kohl grünes Licht in Richtung Übernahme des kleineren deutschen Staates, nachdem der längst auf ganzer Linie gescheiterte Moskauer Möchtegernreformer seine Vorstellungen hatte aufgeben müssen, eine auf Sowjetuniontreue neuen Typus gepolte DDR als Faustpfand behalten zu können. Die „Großen Vier“ begannen – ohne sich um die formal noch vorhandene Souveränität der DDR zu scheren – schon Anfang März 1990 damit, Netze mit insgesamt rund 3.000 Verkaufsstellen zu knüpfen, über die sie ihre bunte Ware dem neugierigen Ostpublikum zu nicht selten unter den Produktionskosten liegenden Dumpingpreisen feilboten. Das fegte einen Großteil der Konkurrenz vom Spielfeld, angestammte DDR-Blätter wie Wendeneugründungen.

Eine Sonderstellung nahm indes der Berliner Verlag ein. Anders als die SED-Bezirkszeitungen außerhalb der Hauptstadt, wurde er nicht sogleich in „die Unabhängigkeit entlassen“, wie sowas damals hieß. Die auf Sonderparteitagsveranstaltungen im Dezember 1989 installierte neue Führung der sich nun PDS nennenden Partei – sie hatte mit Moskauer Rückenwind die Krenz-Schabowski-Gruppe gestürzt – behielt erst einmal die Hand auf dem Haus im Zentrum der Hauptstadt. Um dann am 17. Mai 1990 mit der Nachricht zu überraschen, beim Berliner Verlag steige der britische Großverleger Robert Maxwell ein.

In der DDR war Maxwell, geboren 1923 unter dem Namen Ján Ludvík Hyman Binyamin Hoch als Kind armer jüdischer Eltern in dem karpato-ukrainischen Dorf Slatinské Doly, kein Unbekannter. 1985 hatte sein Wissenschaftsverlag Pergamon Press Erich Honeckers biographische Darstellung „Aus meinem Leben“ herausgebracht, 1989 dann noch eine Enzyklopädie unter dem Titel „Information GDR“, die der Verleger Honecker in Berlin zwei Wochen vor dessen Sturz u. a. mit der Bemerkung übergab, die DDR werde noch in 40 Jahren und darüber hinaus bestehen.

Warum nun Maxwell beim Berliner Verlag? Die Beziehungen des Ex-Labourabgeordneten zu Honecker dürfte für die um Abgrenzung zum anciene regime bemühte PDS-Führung kaum der Grund gewesen sein für den Coup mit dem Briten. Wohl eher die viel ältere Moskauconnection des Verlegers, als dessen DDR-Beauftragter der Diplomat Horst Brie agierte, Vater der Brüder André und Michael Brie, die nun als PDS-Ideologen eine Rolle zu spielen begonnen hatten. Seit 1956 machte Maxwell, der zehn Sprachen beherrschte und im britischen Geheimdienst MI5 als Offizier gedient hatte, Geschäfte mit der UdSSR, wobei ihn gleich drei sowjetische Geheimdienstler betreuten: Felix Swiridow vom Militärgeheimdienst GRU sowie Stanislaw Gorokin und Jewgenij Solowjow vom KGB. Es begann mit Lizenzen für Texte sowjetischer Wissenschaftler und hörte bei Geschäften zur Umgehung westlichen Technologieembargos nicht auf. So bemühte sich der Milliardär in sowjetischem Auftrag, mit Israels führendem High-Tech-Unternehmen Eisenberg Ltd. eine Kooperation beim Bau eines Großraumflugzeugs zu vermitteln, und das, obwohl zwischen beiden Ländern keine diplomatischen Beziehungen bestanden. Gorbatschow schließlich wies dem polyglotten Mogul als Gesprächspartner Ende der 80er Jahre den KGB-Chef Wladimir Krjutschkow zu.

Die Räder, die Maxwell für den Kreml drehte, wurden immer größer, am größten Anfang der 1990er Jahre. Da brauchte die Sowjetführung dringend Devisen im zweistelligen Milliardenbereich, damit westliche Banken nicht die Kreditlinien sperrten. Maxwell ging in die Spur, um Geld zu besorgen. Denn es gab auch Außenstände, die aus Krediten resultierten, welche die UdSSR ins Ausland vergeben hatte, nach Äthiopien zum Beispiel. Diese Schulden sollte Maxwell an Dritte verkaufen, und zwar nach dem Modell: Moskau bekommt 70 Prozent der ursprünglich geschuldeten Summe, 15 Prozent gehen an den Vermittler, die restlichen 15 Prozent teilen sich Schuldner und Käufer. Es ging um insgesamt 15 Milliarden Dollar, von denen Maxwell 2,25 Milliarden hätte einstreichen können. In diesem Geschäft, das er mit Finanzen seines bereits hoch verschuldeten Medienimperiums vermischte – er griff in die Pensionskasse seiner Unternehmen und entwendete aus ihr umgerechnet 1 Milliarde D-Mark –, dürfte er sich verheddert haben.

Am 5. November 1991 fand die spanische Seenotrettung Maxwells Leiche vor den Kanarischen Inseln. Dort war er mit seiner Yacht unterwegs gewesen, der „Lady Ghislaine“, benannt nach seiner Lieblingstochter – jener Frau, die vor kurzem noch einmal Schlagzeilen machte, als in den USA der Investmentbanker Jeffrey Epstein starb. Mit ihm, dem Freund so vieler Prominenter von Donald Trump bis zum Britenprinzen Andrew, soll sie reihenweise minderjährige Mädchen zum Sex vermittelt haben.

Unfall, Suizid, Mord? Die Ursache des Todes von Robert Maxwell wurde nie geklärt. Er bekam ein Staatsbegräbnis auf dem Ölberg in Jerusalem, zu dem Israels Staatspräsident Chaim Herzog und Premierminister Jitzchak Shamir erschienen. Das Grab hatte er, dessen Eltern und meisten Geschwister in den Nazi-Vernichtungslagern ermordet worden waren, sich schon 1986 für 5.000 Dollar gekauft.

Die Sache mit dem Berliner Verlag rangierte 1991 längst unter „ferner liefen“. Bereits im Juni 1990 hatte sich Maxwell mit Gerd Schulte-Hillen im Hamburger Airport-Hotel geeinigt, mit Gruner + Jahr halbe-halbe zu machen. Nach Maxwells Tod übernahmen die Hamburger alles ganz. Und sind längst weg. Die „Berliner Zeitung“ nebst der schon 1990 zum „Berliner Kurier“ umbenannten „BZ am Abend“ ist – nach mehreren Besitzerwechseln – noch am Leben.

Medientips:
– Mandy Tröger: Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten Herbert-von-Halem-Verlag. Köln 2019, 360 Seiten, Broschur, gedruckt: 25 Euro, Epub oder PDF: 21,99 Euro

– Im Internet abrufbar ist die TV-Dokumentation „Das Milliardengeschäft des Robert Maxwell“ von Christina Wilkening und Sylvia Kauffeldt von 1994, die anderorts kaum zugängliche Aussagen von Zeitzeugen enthält

Oktober 2019