Bei Demmlers Erben

Ausflüge in die Kleine und die große Welt: Schwerin

Ach ja, Schwerin. Wer aus der Gegend stammt und schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat, erinnert sich der Ausflüge seiner Kindheit, als die Stadt an den sieben Seen noch Zentrum und Namensgeberin eines Bezirkes war. In unserem Falle gehörten die vergnüglichen Touren zum obligatorischen Programm der Ferienspiele, welche die Schule in jedem Juli für die Kinder des Dorfes veranstaltete. Zwei Wochen lang.

Mit einem 55er „Ikarus“-Bus, das waren die zeitlos schönen Gefährte mit dem langen Hinterteil, in denen es nach Diesel und Kunstleder roch, ging es in aller Frühe los. Meistens gab es nach der 60-Kilometer-Reise eine Kinder-Vorstellung im Mecklenburgischen Staatstheater, „Rotkäppchen und der Wolf“ zum Beispiel, auf der großen Bühne des imposanten Hauses mit seinen rotsamtigen Sesseln. Gruselig wurde es, wenn sich der Mann im Wolfskostüm, karussellfahrend auf der Drehscheibe im Boden, an einem schauerlich quietschenden Schleifstein die riesigen Reißzähne wetzte, während das mitrotierende Rotkäppchen ein Schläfchen im Waldesmoos hielt.

Georg Adolph Demmler, Lithographie von c. Schultz, Paris 1855

Anschließend ging es regelmäßig zum Pfaffenteich, jenem 12 Hektar großen Gewässer mitten in der Stadt, das in verflossenen Jahrhunderten ein Mühlenteich war und mit seiner luftigst spritzelnden Fontäne zur schönen Jahreszeit den Vergleich mit der Hamburger Binnenalster keineswegs zu scheuen braucht. Am Ufer des Teiches, an dem einst Schweriner Domherren ihre Gärten hatten, daher sein Name, lockte eine Fähre zum Törn von der einen Seite auf die andere. Es war ein großes Abenteuer, auch wenn die Fahrt nur wenige Minuten dauerte. 200 Meter mußten im schaukelnden Bötchen überwunden werden. Die Fähre, eigentlich ein umgebautes, ehemals offenes Gefährt aus dem Spreewald der 1920er Jahre, schaffte das in der Saison bei fast jedem Wind und Wetter.

Es gibt sie heute noch. Und sie bekam 1979 sogar einen Namen: Petermännchen. Den kleinen Herrn in Stulpenstiefeln, mit breitbekremptem Hut überm grimmigen Gesicht und einem angeblich guten Herzen kennt jeder in der Gegend. Es ist der sagenhafte Schweriner Schloßgeist, der in den Kellergewölben wohnt und ehrliche Leute belohnt, während er Unholde piesackt. Tatsächlich residierte im Souterrain des Schlosses damals das Polytechnische Museum. Mit Originalen und maßstäblichen Modellen führte es vor, wie Technik funktioniert – Schaufelradbagger beispielsweise oder Dieselmotoren. Ein Elysium für Jungen vom Lande, die alle Typen von Traktoren oder Mähdreschern im Schlaf hersagen konnten. Die vielen Mädchen, die oben in einem Trakt des Märchen-Schlosses wohnten, interessierten sie noch nicht. Das riesige Haus mit seinen Unmengen von Türmen und Erkern beherbergte eine Fachschule. Die bildete Kindergärtnerinnen für den gesamten Norden der DDR aus.

Es waren die Jahre, in denen die Stadt kräftig wuchs und junge Leute in Massen anzog. Im Süden Schwerins entstand ein Indutriegebiet, in dem Betriebe emporwuchsen, deren Namen bald jeder kannte: Plastmaschinenwerk und Lederwarenkombinat. Auch die Schule der Kindergärtnerinnen zog schließlich dorthin. Auf dem Großen Dreesch, einer Sandwüste, die einst zur Abrichtung von Soldaten gedient hatte, wuchs ab 1971 Plattenbau um Plattenbau. In ziemlich schöner Lage. Viele Bewohner sahen von ihren Balkonen auf den Schweriner See. Man brauchte nicht unbedingt ein Auto, um den seit 1956 bestehenden Zoo gleich nebenan zu besuchen, oder den Fernsehturm mit seinem Café in 100 Meter Höhe (falls man einen Platz bekam) oder den Badestrand in Schwerins Villen-Vorort Zippendorf. Weniger als 70.000 Einwohner hatte das ehemalige Residenz-Nest der Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin zum Ende des Krieges 1945 gehabt. Nun mauserte es sich zur Großstadt. 130.000 Menschen wohnten dort in den 1980er Jahren, die meisten von ihnen „auf dem Dreesch“, wie man sagt.

Die Kinder, die jungen Leute und auch die meisten Erwachsenen ahnten nichts davon, welche Weichen gerade für ihren Lebensweg gestellt wurden, als Anfang der 1970er Jahre Erich Honecker (1912 bis 1994) als neuer Chef von Partei und Staat im fernen Berlin seinen Vorgänger und zeitweiligen Ziehvater Walter Ulbricht (1893 bis 1973) wegbiß. „Ulbricht leider ist tot und Schluß mit der Staatskunst in Deutschland“, schrieb bald hellsichtig der Dichter Peter Hacks. Und von der Anstrengung, eine möglichst produktive Gesellschaft zu werden, drehte das Konzept dahin, die DDR-Leute ruhigzustellen mit Wohltaten auf Pump. Daß die Decke zu kurz war und kürzer wurde, ließ sich im Schweriner Stadtbild schon ausmachen. Während der „Große Dreesch“ wuchs, verrottete die bezaubernde Schelfstadt, ein historisches Quartier mit vielen Fachwerkhäusern.

Dennoch gab es in den Siebzigern noch das Gefühl von Aufbruch. Ein Riesenfeuerwerk veranstaltete das Schweriner Theater. Als Soldat, der morgens im Schloßpark seine Runden drehte, Frühsport nannte sich das, bekam der Berichterstatter in den Stunden selten gewährten Ausgangs davon dieses und jenes mit. Schauspieldirektor Christoph Schroth, 1974 aus Halle gekommen, sorgte für sensationelle Aufführungen, so „Franziska Linkerhand“ nach dem lebensprallen Roman von Brigitte Reimann (1933 bis 1973) , so Johann Wolfgang Goethes (1749 bis 1832) „Faust“ mit beiden Teilen in einem Ritt. Wie rauschende Feste waren die langen Abende unter dem Titel „Entdeckungen“, in denen sich das Haus ganz weit den Besuchern öffnete, gleichzeitig Aufführungen in mehreren Räumen stattfanden – vom großen Saal bis hin zur Probebühne. Das Publikum flanierte von einer Spielstätte zur anderen, aß und trank, diskutierte mit den Schauspielern. Selbst Leute aus Berlin, Dresden oder Leipzig fuhren in den Norden, um dieses Theater zu sehen. Schwerin gehörte so für einige Zeit zu den führenden Bühnen der deutschsprachigen Gegenden – so wie das schon mal in der Mitte des des 18. Jahrhunderts gewesen war, als dort Conrad Ekhof (1720 bis 1778) die erste deutsche Schauspielerakademie gründete.

Wer heute Schwerin besucht, kommt in eine geschrumpfte Stadt mit nur noch 95.000 Dazugehörigen. Der große Schwund geschah in den 1990er Jahren, nachdem das Land Mecklenburg-Vorpommern – eigentlich eine Nachkriegskonstruktion des Sowjetführers Jossif Wissarjonowitsch Stalin (1878 bis 1953) – neu gegründet worden war. Es war jene Zeit existentieller Orientierungslosigkeit, als die Jugend floh, zur Arbeit hin, und als Kolonialbeamte von westlich der Elbe in Deutsch-Nordost das Ruder übernahmen, als die Industriereviere per „Privatisierung“ zu staubigen Brachen wurden und den Genossenschaften der Umgegend das Vieh abhanden kam, während fiepende Spielautomaten in den Gasthäusern von Stadt und Land den Sound dazu lieferten. Atmosphärisch festgehalten ist dieses Stück Geschichte in den tragikomischen Fernseh-Krimis mit Kurt Böwe und Uwe Steimle als Polizisten-Duo.

Das Schwerin von heute weiß den Charme seiner alten Substanz herauszustellen. Die historischen Bauten – Schwerin hat viele davon, auch weil es im Zweiten Weltkrieg weitgehend von Kampfhandlungen und Bombenabwürfen verschont geblieben ist – präsentieren sich aufs schönste restauriert. Auch in der Schelfstadt, die in der DDR nur knapp dem Abriß entging. Geschäfte, Restaurants, Kneipen, Cafés, alles da, auch mehrere Einkaufszentren im Zentrum wie am Rand.

Der Spielplan des Staatstheaters kann sich – nach jahrelangen Querelen ums Geld für die Bühnen im Land – immer noch sehen lassen. Selbst Opern-Aufführungen gibt es, sogar welche abseits des programmatischen Mainstreams. Im April soll der „Schuhu und die fliegende Prinzessin“ von Udo Zimmermann nach der Märchennovelle von Peter Hacks die Premiere erleben. Von denen, die heute auf dem Großen Dreesch im renovierten Plattenbau wohnen, wird sich ein Teil den Theaterabend durchaus leisten können. Die billigsten Plätze kosten 6 Euro. Bei leider zu vielen anderen wird das Geld dafür nicht reichen. Die Zeiten, da der Theaterbesuch ab und an Pflicht war und gar nicht wenigen zum Bedürfnis wurde, sind ohnehin vorbei.

Leute, die sich um ihr Auskommen keine Gedanken machen müssen, hat Schwerin in großer Zahl. Die Stadt, gegründet 1160 als sächsischer Außenposten in slawischem Land, war schon immer ein Zentrum der Administrationen und Administratoren. Auch heute wimmelt es in der einstigen Fürstenresidenz von Beamten aus den Landesministerien, wo die Bediensteten der höheren Besoldungsstufen, sagen wir, tätig sind. Wenn einem größeren Teil ihrer Einwohner das Geld nicht so leicht ausgehen kann, gereicht das jeder Kommune zum Vorteil. Der Handel muß nicht darben. Man sieht kaum ein leeres Ladenlokal.

Wohlhabend zu sein, ist ja keine Schande. Es kommt nur darauf, was daraus folgt. Der merkwürdigste Schweriner in dieser Hinsicht hieß Georg Adolph Demmler (1804 bis 1886). Er, der eigentlich ein Berliner war, jedenfalls ein geborener, wuchs die ersten Jahre in seiner Geburtsstadt und dann in Güstrow als Sohn eines reichgewordenen (das ging damals schon) Schornsteinfegermeisters auf. Der Vater erkannte die Fähigkeiten und Neigungen seines Filius, der schon mit 14 Jahren den Neubau des elterlichen Hauses entwarf. Nach dem Gymnasium studierte Demmler bei Karl Friedrich Schinkel (1781 bis 1841) an der Berliner Bauakademie und nebenbei illegal an der Universität Unter den Linden. Dann erhielt eine Anstellung am Schweriner Hof.

Mit 19 Jahren begann er seinen Weg als Baumeister, der das Bild der Stadt Schwerin wie kein anderer prägen sollte. Rasch fiel das Talent des „Baugehilfen“ Demmler seinem Chef auf, dem Landesbaumeister Carl Heinrich Wünsch (1779 bis 1855). Pläne für ein „Kollegiengebäude“, das Wünsch entworfen hatte, durfte der Youngster als Bauleiter umsetzen. Am Alten Garten, gegenüber der Schloßinsel, entstand ab 1824 ein schöner klassizistischer Bau, in den die regierenden Beamten des Großherzogs einzogen. Der selber residierte 35 Kilometer südlich in Ludwigslust, dem Versailles des Nordens. Das Kollegiengebäude fungiert seitdem ununterbrochen als Unterkunft für die Machtzentren der mal weiter und mal enger gefaßten Region, derzeit als Staatskanzlei des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern.

Es folgten jede Menge Bauwerke, bei denen Demmler auch seine Berufung als Architekt ausleben konnte, so der Marstall, das Arsenal am Pfaffenteich, die Fassade des Altstädtischen Rathauses, ein – später abgebrannter – klassizistische Theaterbau, das Städtische Krankenhaus in der Werderstraße…

Und schließlich das Schloß. Sein jahrhundertealter Sitz auf sumpfigem Grund gefiel dem Großherzog Paul Friedrich (1800 bis 1842) nicht mehr, als er die Residenz und damit die gesamte Hofhaltung, inklusive ihres Repräsentationsbedarfs, 1837 von Ludwigslust nach Schwerin verlegte. Demmler, 1837 zum Hofbaumeister ernannt, sollte da was ändern. Als Schinkel-Schüler entwarf ein neues herrschaftliches Palais im klassizistischen Stil, zu errichten abseits des alten Schlosses auf der Ostseite des Alten Gartens. Der Bau begann. Doch Paul Friedrich I., der Demmler recht gewogen war, starb 1842, und dem Nachfolger Friedrich Franz II. (1823 bis 1883) stand anderes im Sinn. Er stoppte das Projekt, auf dessen Fundamenten später das Schweriner Museum entstand, und verlangte einen radikalen Umbau des alten Stammsitzes. Nach einigem hin und her, bei dem auch der Dresdner Gottfried Semper (1803–1879) als Konkurrent eine Rolle spielte, fand Demmler das Vorbild für seinen schließlich gnädig aufgenommen Entwurf in Frankreich: das Schloß Chambord an der Loire. Neorenaissance sollte es sein, so wie es die neueste Architektenmode gebot. Immerhin: Das Renaissance-Original Chambord hat Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) entworfen.

Demmler brauchte den Auftrag des Hofes, um sich als Architekt zu beweisen, aber dessen Geld brauchte er nicht, jedenfalls nicht für sich selbst. Er war per Erbschaft ein Mann mit Mitteln. Nicht jeder nutzt eine solche Lage, um zu tun, was er für richtig hält. Demmler tat es. Er wußte, wie es den Arbeitern auf seiner Schloßbaustelle ging. Er setzte für sie ein System der Gewinnbeteiligung durch und schuf eine Unterstützungskasse für alle, die bei der Arbeit zu Schaden kamen und deshalb ohne Einkünfte waren. Das hatte es in Mecklenburg noch nicht gegeben.

Den Schwerinern, die nicht zum Klüngel von Hof, Adel und Militär gehörten, war Demmler ihr liebster Mann. Im Revolutionsjahr 1848 ließ er sich für die Abgeordnetenversammlung des Landes aufstellen und wurde dann tatsächlich in Mecklenburgs erstes Landesparlament gewählt. Mit dem „Staatsgrundgesetz von Mecklenburg-Schwerin“ beschlossen die Volksvertreter 1849 einige erhebliche Fortschritte. Abgeschafft wurden das Bauernlegen, die Prügel- und die Todesstrafe sowie die Gerichtsherrschaft von Großgrundbesitzen auf ihren Gütern. Doch wie überall in Deutschland siegte die Reaktion. Mit Unterstützung Preußens setzte der Adel durch, Mecklenburgs erste bürgerlich inspirierte Verfassung zu kippen und die alte ständische Ordnung wieder einzusetzen. Nach Demmlers Worten, hatte damit „die Stimme des kleinsten, oft politisch unmündigen Ritter-Gutsbesitzers in den wichtigsten Angelegenheiten des Staates eine gleiche Entscheidung … wie die Vertreter einer Stadt wie Schwerin“.

Dagegen opponierte der Hofbaumeister mehrmals öffentlich – und durfte bald kein Hofbaumeister mehr sein. Seit dem Tod von Paul Friedrich I. war das besondere herrschaftliche Wohlwollen gegenüber dem „Leib- und Hofdemokraten“ Demmler verflogen. Nun schlugen die Schranzen zu. Er solle seine politische Meinung für sich behalten und alle „oppositionellen Handlungen“ unterlassen. Dem beugte er sich nicht. Die Auseinandersetzung spitzte sich zu. Demmler vermied seine Entlassung, indem er im Oktober 1850 selber kündigte. Schoflig verweigerte ihm der Hof eine Pension. Und am Schloß, das erst 1857 fertig wurde, durfte er nicht mehr mitbauen. Die Leitung übernahm nun Friedrich August Stüler (1800 bis 1865), der sich schon beim Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV (1795 bis 1861) als williger architektonischer Vollstrecker auch schlechten Geschmacks bewährt hatte (siehe Heft 11/12-2016).

Demmler ließ sich nicht beirren und machte „sein Ding“. Mit seinem Freund Fritz Reuter (1810 bis 1864), dem „Nationalpoeten“ Mecklenburgs, sammelte er 1866 Geld für die Verwundeten beider Seiten im Krieg zwischen Preußen und Österreich. Otto von Bismarcks (1815 bis 1898) Weg der Reichseinigung „mit Blut und Eisen“ lehnte er ab, so auch den Krieg gegen Frankreich 1870/71. Dagegen sympathisierte er mit der Pariser Kommune und schloß sich der Sozialdemokratie an. Für die saß er ab 1877 auf dem Platz Nr. 374 im Reichstag direkt neben August Bebel (1840 bis 1913).

Schwerin könnte einiges mehr für Demmlers Andenken tun. Der Demmler-Platz und der Demmler-Hof, ein Wohnungsquartier mit einer Demmler-Büste aus Terrakotta, über deren Schöpfer es nur Vermutungen gibt, liegen recht weit entfernt von Demmlers Bauten im Zentrum. Irgend ein Fleck zwischen Schloß und dem Wohnhaus des Architekten und Stadtplaners am Pfaffenteich müßte sich doch finden lassen für ein Denkmal, das täglich Tausende sehen. Falls es ein Jubiläum dafür braucht, das nächste passende Datum ist der 22. Dezember 2024. Stichwort: Geburtstag.

Januar 2022