Beim Mecklenburger Tschechen
Ausflüge in die kleine und die große Welt: Mit Wallenstein in Dömitz
Von Holger Becker
Einer der größten Deutschen war ein Tscheche. Am 28. August 1627 zog er in das Städtchen Dömitz ein, das am unteren Lauf der Elbe und am südlichsten Punkte Mecklenburgs liegt.
Wir reden, Tusch, über Albrecht Václav Eusebius z Valdštejna, geboren 1583 in Hermanitz (heute Heřmanice nad Labem) am oberen Lauf der Elbe, Sohn einer Smiricky von Smiritz, mit Onkeln und Tanten, die auf Namen wie Slawata von Chlum oder von Riczan hörten. In Dömitz nahm er Logis auf der berühmten Festung, wo fast zwei Jahrhunderte später Mecklenburgs werdender Nationaldichter Fritz Reuter ein Unfreiwilligenjahr als Häftling verbrachte. Gerade hatte er, einer der reichsten böhmischen Edelleute, als Feldherr die Dänen aus der Gegend verjagt. Wenn die Leute über ihn redeten, nannten sie ihn Wallenstein.
Es war die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der Deutschland mit einer Gründlichkeit verwüstete, von der es sich jahrhundertelang nicht erholen sollte. Möglich geworden war dieses Elend, weil sich Deutschland in seiner staatlichen, politischen und konfessionellen Zersplitterung zum Hauptkampfplatz der zeitgenössischen europäischen Interessenkonflikte anbot. Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark, England und andere weltliche Mächte, zu denen in dieser Hinsicht auch der Papst gehörte, mischten mit. Angeblich ging’s um Religion, um Protestantismus oder Katholizismus, in Wahrheit gab’s wie immer Mord und Totschlag um Macht und Geld.
Die Einheit im Sinn
Wallenstein, der dem habsburgischen Kaiser Ferdinand II. ein gewaltiges und siegreiches Heer geschaffen hatte, dürfte auch im kleinen Dömitz an seinen großen Plänen geschmiedet haben. Er wollte für Deutschland dasselbe, was der für sein Land segensreiche Kardinal Richelieu in Frankreich anstrebte und erreichte: die nationale Einheit in Form einer weltlichen Monarchie, die ohne religiöse Eiferei die Interessen der Gesellschaftsklassen ordnen, ausgleichen und gegenüber dem Ausland vertreten sollte.
Doch die Verhältnisse in Deutschland waren nicht so. Die deutschen Fürsten, protestantische wie katholische, setzten die Absetzung Wallensteins durch, der ihnen zu mächtig und rücksichtslos gegenüber partikularem Fürsteninteresse war. Und als er dann wegen des Einfalls der Schweden unter Gustav-Adolf wieder an die Spitze des kaiserlichen Heeres gerufen werden mußte, fing er an, einen Zentralabsolutismus ohne den Kaiser zu denken. Ferdinand II. wollte nun seinen Kopf. Am 25. März 1634 im Stadthaus von Eger (heute Cheb) kamen die Mörder, zwei Iren namens Butler und Deveroux.
Immerhin: Bei Dömitz hatte Wallenstein erstmals mecklenburgischen Boden betreten. Für das von ihm 1625 auf eigene Kosten aus dem Boden gestampfte kaiserliche Heer von 40.000 Mann verlangte er 1628 Mecklenburg zum Pfand – und erhielt es auch. Er machte sich zum Landesherrn, indem er die regierenden Herzöge Johann Albrecht II. und Friedrich I. schlicht in die Ecke drängte. Wallenstein folgte dem Spruch: „Zween Hahnen taugen nicht auf einem Mist“ und ließ sich vom Kaiser zum Herzog küren. Nur runde zwei Jahre – bis zu seiner Absetzung auf dem Kurfürstentag in Regensburg 1630 – dauerte seine Herrschaft über Mecklenburg. Hätte sie länger gewährt, das Land wäre nicht die rückständigste Ecke geblieben, sondern zum modernsten Teil Deutschlands geworden.
Schnelle Taten, große Pläne
Mit Mecklenburgs Junkern sprach er eine Sprache, die dieses Gezücht verstand: Er ließ sie auf seine Güstrower Residenz kommen und sperrte sie solange ein, bis sie die Erbhuldigung unterschrieben (wobei er aber gar nicht anwesend war). Was vor und nach ihm kein Landesherr bis 1918 vermochte noch wollte: Er nahm den Junkern das Recht, zum eigenen Vorteil über die Steuerlasten zu bestimmen. Jede Gemeinde verpflichtete er, ein Armenhaus zu bauen und zu unterhalten. Wallenstein ließ neue Straßen anlegen und die vorhandenen schlechten Wege ausbessern, bekämpfte den Straßenraub und machte den Gerichten Beine, das Tempo der Rechtsprechung zu steigern. Von seiner Güstrower Residenz erreichte ein neues System der Pferdepost jeden Ort Mecklenburgs.
Auch den Plan eines Kanals vom Schweriner See zur Wismarschen Bucht wollte er, dem die Religion seiner Landeskinder so schnurz wie piepe war, in Angriff nehmen. So wäre eine Verbindung zwischen der Elbe und der Ostsee entstanden, die Mecklenburg ertüchtigt hätte, vom Lüneburger Salzhandel zu profitieren. Der Schweriner See nämlich ist über die Stör und die Elde mit der Elbe verbunden. Am einen Ende dieses Wasserbandes liegt Dömitz.
Doch Wallenstein sah nach dem Ende seines zweijährigen Gastspiels Mecklenburg und auch Dömitz nicht wieder. Für die Stadt wurden die Zeiten nicht besser. Denn die in fünfeckiger Form angelegte Flachlandfestung italienischer Art mit Bastionen und Kasematten bestimmte ihr Schicksal. Abwechselnd besetzten schwedische und kaiserliche Truppen das Fort, das noch bis zu den sogenannten Befreiungskriegen gegen die französische Herrschaft zwei Jahrhunderte später militärisch eine Rolle spielte. Allerdings hatten schon im 18. Jahrhundert einige Gebäude andere Aufgaben erhalten. Sie dienten als Zuchthaus und „Irrenanstalt“. Nach Dömitz geschickt zu werden, war in dieser Zeit durchaus eine Drohung, die Stadt der „Ruhklas“ (rauher Nikolaus, Kinderschreck – H.B.) Mecklenburgs, wie Fritz Reuter schrieb.
Wie gesagt, der Schriftsteller saß dort das letzte Ende seiner Festungshaft ab, unter recht bequemen Konditionen, mit Familienanschluß beim Kommandanten Christian Dietrich Carl von Bülow und dessen schönen Töchtern. Reuter, der auch malte, hat den Mann auf einem Pastell verewigt. Er sah so ähnlich aus wie Loriot.
Umschlagplatz an der Elbe
Dömitz begann sich nun allmählich zu einem wichtigen Umschlagplatz zu mausern. Schon immer hatte es hier Elbschiffer gegeben, aber nicht unbedingt einen bedeutenden Hafen. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Eisenbahn. Die erhielt zwischen 1870 und 1873 bei Dömitz eine imposante Brücke. Die dazugehörige Schienenstrecke verband zu Anfang Lüneburg mit Wittenberge. Dann kam eine Verbindung nach Ludwigslust dazu. Menschen und Güter konnten sich nun auf Schienen zwischen Stralsund und Göttingen bewegen. Außerdem mündete an dieser Stelle der Elde-Kanal in die Elbe, der Binnenschiffen die Fahrt nicht nur zum Schweriner See, sondern auch in Richtung Müritz ermöglicht. Dömitz konnte sich deshalb um 1900 damit brüsten, einen der wichtigsten Elbhäfen zwischen Hamburg und Magdeburg zu besitzen. Industrie siedelte sich an, zum Beispiel eine Dynamitfabrik.
Heute liegen im Dömitzer Hafen Spaßboote. Die Eisenbahnstrecke nach Ludwigslust wurde im Jahr 2000 mehdornisiert, die Schienen herausgerissen. Und von der Eisenbahnbrücke über die Elbe sind noch die Pfeiler an den Rändern übrig. Der Hauptteil flog am 20. April 1945 in die Luft. Den Sprengstoff hatten Deutsche angebracht, genauso wie an der Straßenbrücke ein paar Hundert Meter nördlich. Die unter Hitler erbaute Straßenbrücke gibt es wieder, die Eisenbahn-Brücke nicht. Ihre Reste auf niedersächsischer Seite ersteigerte vor ein paar Jahren ein Geldmensch aus Holland.
Ein Symbol – für was?
Selbstverständlich, jeder Ort hat Narben der Geschichte. Aber manchmal kann man woandershin schauen. In Dömitz unmöglich. Es geht den Besuchern von heute so wie den Kindern in den 1960er oder 1970er Jahren. Wenn man sich da zwei Kugeln Eis für insgesamt 20 Pfennige bei Bäcker Lange oder Bäcker Opalka gekauft hatte, verzehrte sich die Leckerei am besten auf dem Deich hinter den letzten Häusern mit Blick auf die Elbe. Aber immer war da dieser Brückenrest, auf den man blickte, immer diese Grenze, die lange Zeit die Besuche erschwerte, weil Dömitz im sogenannten Fünf-Kilometer-Streifen lag. Nur wer die Grenzer kannte, die gerade am Schlagbaum Dienst taten, kam von der DDR-Seite bei Neu Kaliß auch mal ohne Passierschein durch, so wie ein Trainer der Fußballer von „Einheit Dömitz“, der außerhalb wohnte. Und es war selbstverständlich bitter, seine Zehen nicht ins Elbwasser tauchen zu können. Dabei ist die Elbaue so herrlich, für Angler, Paddler, Liebespaare und andere Freunde der Natur. Die Passierscheinzeit immerhin endete 1973. Auf der Festung fanden sogar Rockkonzerte statt, neugierig beäugt aus britischen Hubschraubern, die über der Elbe standen.
Es gab und gibt pathetische Rufe, nach denen die Dömitzer Brücken-Ruine ein „Symbol der deutschen Teilung“ gewesen sei. Das muß gar nicht falsch sein. Aber was symbolisiert sie heute? Den Umstand etwa, daß es sich bei der „Energiewende“ nur um ein pathetisch-hohles Wort handelt? Ansonsten nämlich würde ernst damit gemacht, Transporte von der Straße auf die Schiene zu bringen. Dann gäb’s wieder eine Eisenbahnstrecke, die bei Dömitz über die Elbe führt statt einer neuen Autobahn von Stendal hoch nach Ludwigslust.
Wer nach Dömitz kommt, darf selbstverständlich einen Besuch auf der Festung nicht unterlassen. Die steht seit 1975 unter Denkmalschutz und beherbergt schon seit 1953 ein Museum, das sich unter liebevoller Aufsicht einer Familiendynastie von Heimathistorikern namens Scharnweber entwickelt. Ein Rundgang durch die kleine Stadt mit ihren Fachwerk- und Backsteinhäusern dauert nicht allzu lange. Deshalb bleibt genug Zeit, zum nahen Dörfchen Klein Schmölen zu fahren und die seltsame Wanderdüne zu erklettern. Wer sich dort durch den Sand nach oben wühlt, könnte meinen, sie oder er sei an der Ostsee. Doch der weite Blick schweift in die Auen der Flüsse Löcknitz und Elbe.
März 2014
PS 2023: Die Bundesrepublik Deutschland und deren Bundesland Mecklenburg-Vorpommern haben es geschafft, die Festung Dömitz in wichtigen Teilen verfallen zu lassen. Das „Kommandantenhaus“, das früher das Heimatmuseum und die Fritz-Reuter-Gedenkhalle beherbergte, ist wegen Einsturzgefahr gesperrt. Die Stadt Dömitz, mit diesem Erbe alleingelassen, kann die Kosten für die Sanierung nicht aufbringen.