Bismarck, Villen und ein Schlager

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Holzauktion im Grunewald

Von Holger Becker

Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion,/ Ist Holzauktion, ist Holzauktion…“ Wenn et janz balinisch werden soll in Berlin, erklingt zuweilen dieser alte Gassenhauer. Seinen Text schnitzte höchstwahrscheinlich 1890 der Musikalienhändler Otto Teich (1866 bis 1935), dessen Darmstädter Verlag es bis heute gibt, die Töne setzte ein Herr namens Franz Meißner, den Angaben nach 1892. Das Stück ist ein „Rheinländer“, ein polkaartiger Tanz im Zweivierteltakt. Und es wurde ein Hit über Deutschlands Grenzen hinaus. Die Norweger singen nach der Melodie der „Holzauktion“ ihr Vorweihnachtslied vom Kobold – dem Nisse –, der in der Scheune sitzt und seine Grütze mit dem Holzlöffel gegen die Ratten verteidigt. Und wer bei hohem Pegelstand zu vorgerückter Stunde das Lied von der Oma anstimmt, die im Hühnerstall Motorrad fährt, gibt dabei, was die Tonfolge angeht, einen Teil des unverwüstlichen Meißnerschen Werkes wieder.

Ansichtskarte aus dem Jahr 1900. Im Vordergrund der Koenigssee, der künstlich angelegt und nach dem Bankier Felix Koenigs (1846 bis 1900) benannt wurde, der zu den Finanziers bei der Anlage der Villenkolonie gehörte, für die 234 Hektar des Grunewalds abgeholzt wurden

Noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kannte jeder Berliner den Hintergrund des Partyschlagers: das Abholzen von größeren Teilen des Grunewaldes in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, was mit Holzverkäufen größten Ausmaßes verbunden war. 

Und das kam so: Als Otto von Bismarck 1871 als Kanzler des soeben mit Blut und Eisen gegründeten Deutschen Kaiserreichs aus Paris zurückkehrte, fand er seine Hauptstadt im Vergleich zur Metropole der Franzosen recht poplig. Bismarck wollte für Berlin eine Prachtstraße, die sich mit den Champs-Élysées messen konnte, also eine Flanier- und Einkaufsmeile der Aristokratie und des Großbürgertums, die aus innerstädtischen Gefilden hinaus ins Grüne führt. Dafür sah er den Kurfürstendamm vor, der bis dahin als einigermaßen befestigter Reitweg vom Tiergarten zum Grunewald führte, welcher, so Bismarck, damit „für Berlin das Bois de Boulogne“ werden sollte. Was aber nicht so leicht getan wie gesagt war. Das Projekt, Bismarck hatte eine Straßenbreite von 53 Metern durchgesetzt, mußte privat finanziert werden. Nach dem „Gründerkrach“ von 1873 blieb es erst einmal liegen. Dann gab es ein langes ergebnisloses Hin und Her mit englischen „Investoren“. Bis schließlich 1882 unter Führung der Deutschen Bank die „Kurfürstendamm-Gesellschaft“ entstand. Im Gegenzug für die Finanzierung des Projekts bedang sich die Aktiengesellschaft das Vorkaufsrecht für 234 Hektar des Grunewalds aus, was Bismarck gegenüber dem preußischen Fiskus durchboxte.

Auf diesen preiswert erworbenen 234 Hektar entstand die Villenkolonie Grunewald, die zum Eldorado der Berliner Hautevolee werden sollte. Dazu mußte der Wald weichen. Es war ein Bombengeschäft. Nein, nicht der Verkauf des Holzes, das wegen des großen Angebotes vergleichsweise billig war, sondern der Handel mit den Baugrundstücken, in dem die Deutsche Bank oft genug als Kreditgeber auftrat. Immerhin waren die Bodenpreise längs des Kurfürstendamms gegenüber den 1860er Jahren auf das 600fache gestiegen. Die Berliner Oberklasse griff dennoch gern zu. Bei den Grundstücken im Landkreis Teltow, zu dem der Grunewald bis zur Bildung Groß-Berlins 1920 gehörte, handelte es sich im Vergleich zu Berliner Preisen für die Kapitalisten, betuchten Künstler, Anwälte oder Architekten immer noch um Schnäppchen. „Sie konnten nicht nur relativ günstig traumhaft gelegene Grundstücke erwerben, sondern wegen der im Vergleich mit Berlin sehr viel günstigeren Steuersätze bei der Kommunalsteuer ihre neuen Villen fast aus der Steuerersparnis finanzieren.“ So der Lokalhistoriker Karl-Heinz Metzger. Die groben Arbeiten bei der Anlage der Siedlung erledigten zu Niedrigstlöhnen polnische Arbeiter, die unter unsäglichen Umständen im Wald gelebt haben sollen.

Doch die Rodungen für das „Millionärskaff“, wie der Schriftsteller Alfred Kerr als einer seiner Bewohner das Viertel nannte, waren nur ein Anfang. Die Bodenspekulation in Berlin und den Gemeinden rundum, zu denen Städte und Dörfer wie Charlottenburg, Spandau, Steglitz und Lichterfelde gehörten, dehnte sich epidemisch aus. Von Banken gegründete Terraingesellschaften, wie jene, die den Kudamm finanzierte, kauften Wald-, Wiesen- und Ackerflächen auf, ließen Straßen bauen und Bahnanschlüsse legen, errichteten Musterhäuser, um dann die meisten Grundstücke an Bauunternehmen zu verkaufen, die wiederum die Areale nach deren Bebauung weiterverkauften. Mehr als 3.400 Hektar Bauflächen nahe Berlins gelangten um das Jahr 1900 in den Besitz solcher Gesellschaften. 

Norwegisches Buch mit Weihnachtsliedern: Das Lied vom Nisse-Kobold, der mit seinem Löffel die Ratten vertreibt wird mit der Medoldie von der Holzauktion im Grundewald gesungen

An der bestehenden Wohnungsnot, welche in Berlin und seinen Vororten die proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten traf, änderte der Bauboom nichts. Es entstanden vor allem Mietskasernen, in denen die übergroße Masse der ärmeren Leute – Berlins Einwohnerschaft hatte sich von 1870 bis 1900 von rund 770.000 auf 1,9 Millionen vermehrt – zusammengepfercht leben mußte. Die Zahl der Obdachlosen nahm sprunghaft zu. Denn viele konnten sich die mit den explodierenden Grundstückspreisen in den Himmel wachsenden Mieten gar nicht mehr leisten. Auf dem Wohnungsmarkt galt – wie seit dem Beginn der 1990er Jahre zunehmend wieder – das Recht des Stärkeren. Irgendeine Form von „Sozialbindung“, wie man das später nannte, gab es nicht. Vermieter nutzten die Lage brutal aus. Bis zu 15 Leute lebten jeweils in den kleinen Wohnungen der Hinterhäuser mit ihren dunklen, aus Heinrich Zilles Zeichnungen bekannten Hinterhöfen, während große Wohnungen massenhaft leerstanden.

Als größter Landverkäufer und damit Großprofiteur der Bodenspekulation agierte in jenen Jahren der Staat Preußen. Ihm gehörten 22.000 Hektar Wald rund um Berlin, den er zu großen Teilen unter den Hammer bringen wollte. Allein von 1901 bis 1909 verkaufte der preußische Fiskus Waldareale im Wert von umgerechnet 210 Millionen Euro. Zum Beispiel an die selbständige Landgemeinde Oberschöneweide, die dann Industrietriebe einlud, sich auf den Flächen anzusiedeln.

Auch im Grunewald sollten wieder die Sägen singen. So erwarb zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein privates Konsortium 13,8 Hektar Wald, um die Kolonie Neu-Grunewald zu errichten. Mit der Auflösung der Domäne Dahlem gab der preußische Forstfiskus einen weiteren Teil des „Königlichen Waldes“ als Bauland frei. Auch dort entstanden überwiegend Villen. Das Wort von der „Waldverwüstung“, die der preußische Staat mit seiner Verkaufspolitik betrieb, machte die Runde. Und die Debatte ließ sich nicht mehr stoppen, nachdem das „Berliner Tageblatt“ als auflagenstärkste Zeitung im Kaiserreich und dessen Boulevard-Schwester „Berliner Volkszeitung“, beide erschienen im Rudolf-Mosse-Verlag, 1904 einen Aufruf veröffentlicht hatten, den in kurzer Zeit rund 30.000 Menschen unterschrieben. Der Kernsatz lautete: „Wir … erheben Protest gegen die Absicht des Fiskus, einen wesentlichen Teil des Grunewalds, den man mit Recht die Lunge Berlins genannt hat, der ‘Bebauung zu erschließen‘, d. h. zu vernichten.“ 

Bemerkenswert: Preußens Kahlschlagpolitik, die munter weiterging und nun für Parzellierungen an der Heerstraße ein Drittel des damals 4000 Hektar großen Grunewalds einbeziehen wollte, stieß auf Widerstand, der sich über den Grenzen der politischen Lager, Professionen und Konfessionen vereinte und sogar Geheime Regierungs- und Kommerzienräte sowie Militärs umfaßte. Es entstand eine Art „Koalition der Vernunft“, die sich namentlich ausprägte, als die „Berliner Volkszeitung“ 1910 einen weiteren Aufruf veröffentlichte, nun von „500 im öffentlichen Leben Berlins bekannten Persönlichkeiten“. Es seien „gerade die nächstgelegenen und darum für die Bevölkerung notwendigsten und wertvollsten Waldgebiete, welche in besonders hohem Grade der Zerstörung anheimfallen“, beklagten sie. „Immer weiter, immer kostspieliger wird auf diese Weise der Weg ins Freie. Es gibt heute schon in Berlin hunderttausende Erwachsener, die kaum noch einen Feiertag hinauskommen, es gibt hier zehntausende von Kindern, die fast nie mehr einen Wald oder ein Kornfeld erblicken und deren Lebenshorizont ihr enger Hof und die graue Straße ist.“ Zu den Unterzeichnern gehörten August Bebel, der Führer der deutschen Sozialdemokratie, Friedrich Naumann, der seinerzeit prominenteste Vertreter des politischen Liberalismus, der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, Carl Legien als Vorsitzender der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, der Mediziner Robert Koch, der Maler Max Liebermann, der Verleger Rudolf Mosse und auch der Vorsitzende des Bundes Deutscher Bodenreformer, Adolf Damaschke.

Ihr gar nicht so schlechtes Ende fand die Sache 1915. Denn da schlossen der Zweckverband Groß-Berlin, zu dem sich die Hauptstadt mit den umliegenden Stadt- und Landgemeinden zusammengefunden hatte, und die Königliche Regierung in Potsdam den sogenannten Dauerwaldvertrag. Der Zweckverband erwarb danach für 50 Millionen Goldmark rund 10.000 Hektar Wald, die zu den Förstereien Grunewald, Grünau, Köpenick, Tegel und Potsdam gehört hatten. Er übernahm damit die Verpflichtung, die Wälder weder zu bebauen noch weiterzuverkaufen. Sie sollten den Bürgern auf Dauer als Flächen für die Naherholung zur Verfügung stehen. Der Vertrag, in den Groß-Berlin 1920 als Rechtsnachfolger des Zweckverbands eintrat, lebt in verschiedenen Gesetzen und Verordnungen bis heute fort. Berlin ist seinetwegen heute die waldreichste Millionenstadt der Europäischen Union. Von den Metropolen des gesamten Europa dürfte nur Moskau über größere Waldflächen verfügen.

Große Städte brauchen das Grün als Lungen. Ein Blick ins Geschichtsbuch und zwei ins Leben zeigen: Wenn das Grün aus der Stadt verschwindet, ob in seiner Form als Wald, ob in der als Kleingarten, entsteht deshalb kein Wohnraum, den die Mehrzahl der Menschen bezahlen kann. Meistens ist genau das Gegenteil der Fall, zumindest solange, wie Wohnungen als zinstragende Kapitalanlage errichtet, be- und gehandelt werden.

Literatur:

• Hintergrundinformationen zum Berliner Dauerwaldvertrag vom 27. März 1915. Zusammengestellt von Angela von Lührte für den BUND Berlin. Berlin 2015

• Karl-Heinz Metzger: Die Villenkolonie Grunewald. www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/artikel.181129.php

• Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1972

• Falko Krause: Die Stadtbahn in Berlin. Planung, Bau, Auswirkungen.Diplomica Verlag, Hamburg 2014

Mai 2018