Hechte, Marx und ein Kanzler

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Zwischen Quilitz und Neuhardenberg

Von Holger Becker

Sehenswert: die Blumenpracht im Schloßgarten von Neuhardenberg. Im Hintergrund die Schinkelkirche Foto: Holger Becker

Neuhardenberg, ein vielen Berliner Ausflüglern bekanntes ostbrandenburgisches Dorf am Rande des Oderbruchs, habe von 1949 bis 1990 „zwangsweise“ Marxwalde geheißen. So wußte es ein Autor des Berliner „Tagesspiegel“, als er das reichhaltige Programm gehobener kultureller Unterhaltung vorstellte, das sich im Jahr 2018 im Neuhardenberger Schinkelschloß zu Eintrittspreisen bot, die von den meisten Einheimischen kaum bezahlt werden können. Zwangsweise? Bei wem der Groschen kein Sturzbomber ist, der könnte ja nachschlagen oder seinem Computer befehlen: Google such! -hardenberg? -hardenberg? Ach ja, es war nicht der liebe Gott, der dem Ort diesen Namen vermachte. Der preußische Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg (1750 bis 1822) taufte 1815 kurzerhand das Dörfchen Quilitz in Neu-Hardenberg (mit Bindestrich) um. Der durfte das selbstverständlich. Der Ort gehörte ihm ja. Und „Neu-Hardenberg“ mußte es heißen, weil es ein altes Hardenberg schon gab, in Form einer verfallenen Burg und des Schlosses Hardenberg zwischen Göttingen und Northeim am westlichen Rande des Harzes. Karl August stammte daher.

Warum das 1348 erstmals in einer Urkunde erwähnte und dann ganz zwanglos umbenannte Quilitz entstand, hat bis heute niemand genau herausfinden können, nicht einmal Theodor Fontane, dessen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ immer noch als unverächtliche Quelle sachlicher Belehrung dienen. Wahrscheinlich gründeten deutsche Ostkolonisatoren das Dorf schon lange vor 1348 an einem alten slawischen Siedlungsplatz. Sicher ist: Quilitz, das zum größten Dorf im Kreis um den Bischofssitz Lebus aufstieg, beherbergte eine Zollstelle. Von Aal bis Zwillich mußten Händler dort einen Obolus auf ihre Waren entrichten. Wein wird in jedem Fall dazu gehört haben, da das Lebuser Land in den Zeiten vorindustriellen Warmklimas massenhaft Rebensaft lieferte. Und Fisch. Denn bevor Friedrich II. im 18. Jahrhundert das Oderbruch trockenlegen ließ, schwamm in der Oder, die damals noch nah am Dorf vorbeiströmte, sagenhaft viel davon. Im Jahr 1585, so ist überliefert, fingen die Quilitzer die Hechte nicht nur mit Keschern, sondern sogar mit der Hand.

Karl August Fürst von Hardenberg auf einem Gemälde des Portraitisten Daniel Caffé

Die Quilitzer Bauern ernährten über die Jahrhunderte hinweg gleich mehrere Adelsfamilien, die das Dorf unter sich aufgeteilt hatten. Die Dorfleute mußten Frondienste leisten, und zwar in mit der Zeit wachsender Menge. Als ihnen 1723 ein voller Tag mehr an Diensten für den Grundherrn aufgebrummt werden sollte, verweigerten sie das und kämpften drei Jahre lang für ihre Rechte. Doch Preußens Herrscher, es war der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., schickte 1725 Militär, was den Widerstand der Quilitzer brach. Antijunkerliche Renitenz steckte bei ihnen wohl in den Genen. Schon 1654 hatten Bauern vor dem Kammergericht gegen einen Gutsbesitzer geklagt, der sich Land unter den Nagel reißen und die Dienstpflichten vermehren wollte.

Es gab also allerhand zu erzählen aus der Geschichte der lokalen Klassenkämpfe, als Hardenberg 1814 das Regiment in dem Ort übernahm, dem er 1815 seinen Namen verpaßte. Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. hatte dem gerade in den Fürstenstand Erhobenen die seit 1811 der Krone gehörende Herrschaft Quilitz geschenkt – der Verdienste des Beschenkten halber. Seit 1810 – also auch in der Zeit der sogenannten Befreiungskriege – diente Hardenberg dem König als Staatskanzler, wenn man will: Premierminister, was er auch bis zum seinem Tode 1822 bleiben sollte, nachdem er von 1804 bis 1806 bereits als Außenminister und 1807 einige Monate als leitender Minister amtiert hatte. 

Karl Marx (rechts) mit seinen Töchtern Laura, Eleanor und Jenny (von links nach rechts) und seinem Freund Freiedrich Engels im Mai 1864 in London Aus: Harald Wessel: Tussy oder fünfundzwanzig Briefe über das sehr bewegte Leben von Eleanor Marx-Eveling, Leipzig 1974

Was der Hardenberg für einer war? Da gehen die Meinungen auseinander – je nach Standort, Interessenlage und eventuell politischem Auftrag des in diesen Gegenstand vertieften Betrachters (Historiker inklusive). Der Dichter Peter Hacks, dessen Ansicht der unsrigen naheliegt, sah in ihm einen deutschen Bonapartisten, und das, obwohl Hardenberg zweimal auf Druck Napoleon Bonapartes sein preußisches Staatsamt verlor. Denn der Miterfinder und aufgrund des ungeheuren junkerlichen Widerstands nur mäßig erfolgreiche Exekutor der „preußischen Reformen“, die nach der vernichtenden Niederlage Preußens gegen Napoleons Truppen 1806 bei Jena und Auerstedt unabweisbar notwendig geworden waren, dachte eigentlich französisch. Hardenberg strebte einen starken zentralisierten Staat mit straffer Verwaltung an, was sich durchaus die Herrschaftspraxis Bonapartes, des Erben der französischen Revolution von 1789, zum Vorbild nahm, unter dem jeder etwas werden konnte, weil vor allem Leistung zählte.

Hardenberg war anders, nämlich moderner gestrickt als der vom preußischen Mythos immer bevorzugte andere Reformer namens Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757 bis 1838). Der hielt Hardenberg nicht nur wegen dessen Frauengeschichten für einen „Windbeutel“, sondern weil er grundsätzlich andere Auffassung über die ideale Staatsverfassung vertrat, auf die alte Ständeordnung mit ihrer Unterscheidung von Geistlichkeit, Adel, Bürgern und Bauern zurückgriff. Als Hardenberg 1822 starb, rief Stein ihm nach: „Ist er nun wirklich, ernstlich und zum letzten Male tot, so gratuliere ich zuerst der preußischen Monarchie zu diesem glücklichen Ereignis.“

Bei historischer Draufsicht von ganz weit oben könnte die Frage auftauchen: Hätte es nicht ein anderer Ort als ausgerechnet Neu-Hardenberg sein dürfen, der – als erster in Deutschland – den Namen von Karl Marx (1818 bis 1883) tragen sollte? Eine Antwort darauf zu suchen, ist müßig. Als die Sache 1948 zur Diskussion stand, ging es erst einmal gar nicht um ein Hin-zu-Marx, sondern um ein Weg-vom-Junker. Den aktuellen Hardenberg-Grafen hatte die Bodenreform als einen der größten Grundbesitzer der Gegend enteignet. Aus seinen 7000 Hektar Land wurden 37 Neubauern und 67 landarme Bauern versorgt. Sollte Carl-Hans von Hardenberg (1891 bis 1951) verschont werden, weil er zum Kreis der Stauffenberg-Verschwörer gegen Hitler gehört hatte, von den Nazis im KZ Sachsenhausen inhaftiert worden war? 

DDR-Briefmarke von 1981

Wer einfach ja sagt, müßte erklären, wie er den Leuten damals im gnadenlos weltkriegsüberrollten Ostbrandenburg hätte klarmachen wollen, was ihnen denn der erfolglose Großgrundbesitzer- und Offizierswiderstand nützte. Zudem erinnerten sie sich an das Jahr 1931, als Hardenberg – mit der Hilfe von Polizisten und Landgendarmen – erfolgreich einen Landarbeiterstreik abwürgte. 31 Landarbeiterfamilien kamen dabei um Wohnung und Brot. Den kommunistischen Organisator des Streiks, kein Drehbuchautor würde sich diesen Plot trauen, traf Hardenberg im KZ Sachsenhausen wieder. Der KPD-Mann Fritz Perlitz (1908 bis 1972) rettete dem Adligen das Leben, instruierte ihn, wie man sich in Verhören verhält. 

Zur Zeit der Umbenennung Neu-Hardenbergs in Marxwalde, amtierte Perlitz als SED-Kreissekretär in Seelow. Den formellen Beschluß zur Namensänderung mit Vollzug am 1. Mai 1949 faßte die Neu-Hardenberger Gemeindevertretung, in der die CDU über die Mehrheit verfügte. 454 Stimmen hatte sie bei der Kommunalwahl im Oktober 1946 erhalten, 338 die SED. Von deren Ortsgruppe soll der Marxwalde-Vorschlag stammen. Aber auch andere Namen waren im Spiel: Kastanienwalde, Linddorf, Ahornwalde. 

Die Zeit, als das Dorf den Namen des noch zur Zeit des alten Hardenberg geborenen, von den preußischen Behörden offen und geheimdienstlich verfolgten Philosophen, Politökonomen, Politikers, Schriftstellers, Journalisten (haben wir noch was vergessen?), ach ja, Zigarrenrauchers Karl Marx – zweifellos einer der größten Söhne Deutschlands – trug, ist Geschichte. Die Hardenbergs erhielten 1996 das in den 1980er Jahren von der DDR mit hohem Aufwand rekonstruierte Schloß zurück. Ein Jahr später verkauften sie die sehenswerte Anlage mit ihrem weitläufigen Park an den Sparkassen- und Giroverband, der dort nun auch das Schloßhotel betreibt. Sigmund Jähn, der erste Deutsche im Kosmos, der als NVA-Jagd-flieger von 1960 bis 1978 in Marxwalde wohnte, ist seit 2007 Ehrenbürger des Ortes, während das Geschwader seiner einstigen Kollegen 1990 aufgelöst wurde. So wie die Staffel der DDR-Regierungsflieger, die ebenso von Marxwalde aus operierten. Einige ihrer Flugzeuge flogen dann, zum Teil mit ihren alten Piloten, als demokratisch legitimierte „Bonzenschleudern“ zwischen Bonn und Berlin.

Ganz vergessen ist der zwischenzeitliche Namenspatron in Neuhardenberg heute nicht. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx veranstaltete der Heimatverein im Schloß ein Geschichtsforum mit Sonderpostamt und Sonderstempel. Und eine Marx-Skulptur haben sie auch in Neu-Hardenberg, allerdings schon seit 1988. Sie stammt, schon das lohnt den Besuch, von Fritz Cremer (1906 bis 1993). 

April 2018