Herrschaftliche Vorschubleister
Ausflüge in die kleine und die große Welt: Mein Großvater und die Hohenzollern
Am 4. Februar 1920 betrat Walter Groth (1896 bis 1989), ein mecklenburgischer Arbeiter, wieder deutschen Boden. Der französische Staat entließ ihn im badischen Rastatt aus der Gefangenschaft. In die war er am 26. September 1918 als Angehöriger einer deutschen Minenwerferkompanie geraten, und zwar in der Champagne, in der Nähe des Dörfchens Ripont. Er hatte in dieser Gegend unweit von Verdun wochenlang die mörderischen Kanonaden des „Stellungskrieges“ erlebt.
Vielleicht bedeutete die Gefangennahme eine Erlösung. Endlich weg aus dieser Hölle. Vielleicht rettete sie Walter Groths Leben. Zwar forderte die Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg (1847 bis 1934) und Erich Ludendorff (1865 bis 1937) drei Tage später, am 29. September 1918, die deutsche Reichsregierung auf, sofort Verhandlungen über einen Waffenstillstand einzuleiten. Doch zum Sterben wäre noch reichlich Zeit gewesen, bis am 11. November 1918 nach Unterzeichnung des Abkommens im Wald von Compiègne die Waffen wirklich schwiegen. Das 3. Thüringische Infanterieregiment Nr. 71, dem Walter Groth seit dem 15. März 1916 angehört hatte, blieb bis zu diesem Tag in Gefechte in Frankreich und Belgien verwickelt. Erst am 12. November rückte es ab in Richtung Eisenach.
Das Dorf Ripont, der Ort von Walter Groths Gefangennahme, war am 26. September 1918 eigentlich nicht mehr auffindbar. Es hatte mehrere Jahre in der Hauptkampflinie gelegen. Kaum ein Stein war auf dem anderen geblieben. Wie vier andere Dörfer in diesem „Zone rouge“ (rote Zone) genannten Todesstreifen wurde es nicht wieder aufgebaut. Als Träger der Erinnerung dient eine Stele mit der Aufschrift „Hier war Ripont“.
Frankreich, das mit dem Vorrücken der Deutschen auf sein Territorium zum Hauptschlachtfeld im Westen geworden war, beklagte 1,3 Millionen gefallene Soldaten und mindestens 600.000 Zivilisten, die infolge der Kriegseinwirkungen ihr Leben ließen. Die materiellen Kriegsschäden beliefen sich auf geschätzte 400 Milliarden Francs (umgerechnet etwa 350 Milliarden Euro heutigen Geldes). Zuerst einmal hielt man sich an die „Boches“, also Deutschen, derer man habhaft geworden war. So an den Musketier Groth. Wie vielen anderen sollte es ihm im Gefangenenlagern nicht gut ergehen. Er habe sein Leben „den Schwarzen“ zu verdanken, die ihm und seinen Kameraden Essen zusteckten, erzählte er später. Gemeint waren Soldaten aus Frankreichs schwarzafrikanischen Kolonien wie Senegal oder Madagaskar, die den deutschen Soldaten schon in den Schützengräben gegenübergestanden hatten und die nun die Lager bewachten. Die deutsche Propaganda hatte sie als blutrünstige Bestien geschildert.
Walter Groth, ältestes von elf Kindern der ärmsten Familie aus Sülstorf bei Schwerin, lernte in dieser Zeit viel für sein Leben. Als er sich im Frühjahr 1920 beim militärischen Bezirkskommando Schwerin meldete, gewährte ihm das auf seine Anträge hin mehrere Zahlungen – ausstehende Löhnung vom 1. April bis zur Entlassung aus dem Heer am 5. April 1920, Verpflegungs- und Entlassungsgeld, die Fahrtkosten von Rastatt nach Schwerin und eine einmalige „wirtschaftliche Beihilfe“. Zusammen machte das 474 Reichsmark. Nur war die Mark jetzt nur noch zehn Pfennig wert im Vergleich zu 1914, als der große Krieg begonnen hatte. Folgt man einer – allerdings mit Unsicherheiten behafteten – Umrechnungstabelle der Bundesbank, dann erhielt er 237 Euro – nach vier Jahren, in denen er erst stumpfsinnigen Drill, dann das Vegetieren in schlammigen Schützengräben unter ständiger Lebensgefahr und schließlich die miese Behandlung als Sündenbock für die Verheerungen eines Krieges durchmachte, für den er nichts konnte.
Das war beim Chef der Heeresgruppe schon anders, der Walter Groth mit dem Eisenacher Regiment angehörte. Es handelte es sich um den Kronprinzen Wilhelm (1882 bis 1951), also den ältesten Sohn von Kaiser Wilhelm I. (1859 bis 1941). Von dessen Kriegserlebnissen dürfte der Mecklenburger schon im Schützengraben gehört haben. Mit hoher Geschwindigkeit liefen dort die Erzählungen um von den Eskapaden des kronprinzlichen „Lebemanns“, der sich fernab der Front in beschlagnahmten Villen mit französischen und anderen Damen amüsiere. Dessen besondere Existenzweise als Etappenhengst, um in der Soldatensprache zu bleiben, kontrastierte in extremer Weise mit dem, was Befehlshaber dem gemeinen Mann zumuteten, dem Muschkoten, wie Walter Groth sich und seinesgleichen im Rückblick immer wieder bezeichnete. Die Söhne kleiner Leute galten den Herrschaften als Material in diesem Inferno industrialisierten Tötens. Was machte es, wenn diese Landsleute aus den „Unterschichten“, wie man heute sagt, von Granaten zerfetzt, von Maschinengewehrgarben niedergemäht, von Kampfgas erstickt, von Bajonetten durchbohrt oder von Panzerketten zerquetscht wurden? Drei von Walter Groths Brüdern kamen um in diesem Schlachthaus.
Bei den hohen Militärs griff damals ein Denken Raum, in dem es nicht mehr darauf ankam, die eigenen Verluste klein zu halten, sondern alles sich nur darauf ausrichtete, die Ressourcen des Gegners zu schwächen. Zum Synonym für dieses bedenkenlose Opfern junger Männer ist die Schlacht um Verdun geworden. Der Angriff auf die französische Festung ging auf einen Plan des Kronprinzen zurück. Fast über das ganze Jahr 1916 drehte sich dort die Blutmühle. Rund 800.000 Soldaten ließen nach Schätzungen in dieser Zeit an diesem Platz auf beiden Seiten ihr Leben. Die genaue Zahl weiß niemand.
Der französische Staat nahm Walter Groth für dessen unfreiwilligen Einsatz auf den Schlachtfeldern der Champagne individuell in Haftung. Er mußte bei schlechter Verpflegung hart arbeiten. Dem Kaiser und dem Kronprinzen, von denen Walter Groth später sagte, man hätte sie einsperren und nicht wieder herauslassen sollen, geschah nichts ernstliches. Der zwangsabgedankte Vater floh mit vollen Hosen nach Holland, der Sohn folgte recht bald. Wirkliche Angst vor der Revolution, die im November 1918 in Walter Groths Abwesenheit stattfand, hätten sie nicht haben müssen. Die neue Führung des Staates, zu der Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 bis 1925) und Reichswehrminister Gustv Noske (1868 bis 1946) , beide SPD, gehörten, sorgte dafür, daß keinem Angehörigen der vormals regierenden fürstlichen Häuser auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Während sie kein Problem damit hatte, bei den Märzkämpfen 1919 Berliner Arbeiterviertel bombardieren zu lassen. Um Gottes Willen, alles, aber nur keinen Bolschewismus!
Als Walter Groth im April 1920 seine 474 Reichsmark entgegennahm, hatte sich über den Hohenzollern bereits ein Füllhorn mit Gaben aus der Heimat geöffnet. Noch im November 1918 überwies die Reichsregierung an den Ex-Kaiser 652.000 Reichsmark „zur Führung eines angemessenen Unterhalts“. 1919 legte sie 25,2 Millionen nach und kaufte den Hohenzollern außerdem für 38 Millionen Mark zwei Stadtpaläste in der Wilhelmstraße ab. Legendär wurde der Güterzug mit 59 Waggons voller Möbel, Gemälde und edelmetallischen Preziosen, der als Umzugshilfe nach Holland dampfte und dem dann noch 140 Möbelwagen auf der Straße folgten.
Lange verhandelte der Staat, der das Vermögen der Hohenzollern nur beschlagnahmt, aber nicht enteignet hatte, mit dem vormaligen Herrschergeschlecht über die Frage, was dem denn als „Privateigentum“ zustehe und was sie nur in ihrer Eigenschaft als Landesherren besessen hätten. 1926 kam es zu einem Vergleich, bei dem die Hohenzollern beträchtliche Teile des von ihnen Beanspruchten erhielten, etwa 60 Prozent der Ländereien, die meisten der Schlösser und tausende Kunstwerke.
Man hätte anders gekonnt. Das bewies Österreich, in dem nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie mit Karl Renner (1870 bis 1950) ebenfalls ein eher rechter Sozialdemokrat an der Spitze stand. Mit nur einer Gegenstimme beschloß am 3. April 1919 in Wien die Konstituierende Nationalversammlung das sogenannte Habsburgergesetz. Es regelte die entschädigungslose Enteignung des Familienvermögens des Hauses Habsburg mit Ausnahme „freien persönlichen Privatvermögens“. Der letzte Kaiser, Karl I. (1887 bis 1922), wurde des Landes verwiesen und so auch alle seine Angehörigen, so sie nicht auf ihre Mitgliedschaft zum Hause Habsburg verzichteten und sich nicht als „getreue Staatsbürger der Republik“ bekannten. Der vom Staat aus der Enteignung gezogene Ertrag war laut Gesetz für „die durch den Weltkrieg in ihrer Gesundheit geschädigten oder ihres Ernährers beraubten Staatsbürger zu verwenden“.
Im Grunde lief das rigorose Verfahren der Österreicher 1919 auf dasselbe hinaus wie nach 1945 die entschädigungslose Enteignung des Vermögens der Hohenzollern östlich von Elbe und Werra unter sowjetischem Besatzungsrecht. Das Problem, denn zu dem war der Hohenzollern-Clan für Deutschland und die Welt spätestens im 20. Jahrhundert geworden, fand eine historisch und menschlich gerechte Lösung. Walter Groth konnte gut mit ihr leben. Und zwar in seinem Haus im mecklenburgischen Ludwigslust, das er 1932 mit den aus eigener Arbeit bei der Deutschen Post gewonnenen Ersparnissen gebaut hatte. Dieses Eigentum blieb unangefochten. Unruhig wurde er kurz vor seinem Tod am Heiligabend 1989: „Paßt auf“, sagte er, „das kommt alles wieder.“ Was mit „alles“ gemeint war, konnten sich die Jüngeren da noch nicht vorstellen. Inzwischen haben sie Erfahrungen mit Teilen davon.
2019 war in den Zeitungen von heimlichen Verhandlungen des Bundes und der Länder Berlin und Brandenburg mit dem „Hause Hohenzollern“ die Rede, das eine Entschädigung für enteignete Kunstgegenständen im Wert von zig Millionen Euro oder eine Rückgabe derselben fordere. Und zwar auf Grundlage des „Ausgleichsleistungsgesetzes“. Das war 1994 als Trostpreis für die ewig maulenden altjunkerlichen Cliquen beschlossen worden, gedacht für jene Fälle, in denen die eigentliche Enteignung nicht rückgängig gemacht werden kann, weil sie auf Besatzungsrecht fußt. Das Gesetz allerdings verweigert Entschädigungen, wenn die Enteigneten dem Nazi-System „erheblichen Vorschub“ geleistet haben.
Wir wollen mal hoffen, es wird sich als Fehler erweisen, daß dreiste Gier an diesem Punkt die Anstrengung akribischer Forschung herausfordert. Die hat insbesondere der Historiker Stephan Malinowski geleistet, der schon lange über das Verhältnis der einst als „Adel“ privilegierten Schicht zur Nazibewegung und zum Naziregime forscht. Neben einem „Gutachten zum Verhalten des ehemaligen Kronprinzen“, das im Auftrag der Brandenburger Landesregierung entstanden war, hat er das Buch „Die Hohenzollern und die Nazis“ vorgelegt.
Seine Untersuchung setzt an beim Revolutionsjahr 1918 und nimmt die Aktivitäten der engeren Hohenzollern-Familie in Gestalt des abgedankten Kaisers, seiner Söhne und Enkel sowie, in wichtigen Fällen, auch ihrer Frauen in den Blick. Er zeigt ungemein detailliert, wie die vormals königliche Sippe als Aktivposten der „Gegenrevolution“ (Malinowski) agierte, jener durchaus vielgestaltigen Bewegung von rechts, die den Sturz der Weimarer Republik anstrebte. Insbesondere der Ex-Kronprinz, der sich als Bewahrer des Hohenzollern-Erbes wie als Figur modernen Zuschnitts mit Faible für Sport, Autos und modische Eleganz stilisieren ließ, bewährte sich als Werbe- und Integrationsfigur jener schwarz-braunen Kreise. Für dieses antirepublikanische Engagement standen die Ressourcen zur Verfügung, welche die Republik ihnen so großzügig überlassen hatte. Und natürlich das in jahrhundertelanger Erfahrung gewonnene fürstliche Know how der Legendenbildung, das nun, gekoppelt mit modernen PR-Methoden, geschickt genutzt wurde, um die im In- wie im Ausland weiter massenhaft verbreitete Faszination für Adelsklimbim zu nutzen.
Schon früh zeigten sich in der Familie Affinitäten zu faschistischer Radikalität. Begeistert berichtete der Ex-Kronprinz 1928 seinem Vater in einem Brief von einem Besuch in Italien. Angetan hatte es ihm, der später mehrfach von Benito Mussolini (1883 bis 1945) empfangen werden sollte, die „geniale Brutalität“ des dortigen faschistischen Regimes, so die Praxis, Kommunistenführern die Schädel rasieren und auf die Kopfhaut mit Öl die Nationalflagge malen zu lassen. Seine Denkungsart zeigte er auch, indem er der 1931 vom Befehlshaber beim Mord an Rosa Luxemburg (1871 bis 1919) und Karl Liebknecht (1971 bis 1919), Waldemar Pabst (1880 bis 1970), mitgegründeten „Gesellschaft zum Studium des Faschismus“ beitrat. Zu den häufigen Gästen auf Schloß Cecilienhof in Potsdam gehörte der Naziführer Hermann Göring (1893 bis 1946), ein persönlicher Freund der Ex-Kronprinzessin Cecilie (1886 bis 1954). Auch Wilhelm II. empfing den Hitlergetreuen in Holland. Und ganz offen als Nazi-Aktivist trat der Hohenzollern-Sprößling August Wilhelm (1887 bis 1949) auf, der sich schon 1930 der NSDAP anschloß und 1932 der SA, in deren Uniform er sich ständig öffentlich zeigte. 1932 fungierte „Prinz Auwi“, der später beim Foltern politischer Gegner zugegen war, sogar als NSDAP-Spitzenkandidat bei den preußischen Landtagswahlen.
Die entscheidende Rolle, so lernen wir bei Malinowski, spielen „die Hohenzollern“ und insbesondere der Ex-Kronprinz in jener Zeit, da eine antirepublikanische Lösung ohne Beteiligung der Nazis oder gar gegen sie „weder zur Debatte noch zur Verfügung“ stand, als Vermittler zwischen den Gruppen des rechten Milieus, zu dem die Nazibewegung ebenso wie die Deutschnationalen, weite Teile der Reichswehr, Großgrundbesitzer, Bankiers, Industriemagnaten, Adelsverbände und andere Gruppierungen gehörten. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, stellte es das Ergebnis dieser Einigung dar. Er war ja nicht gewählt worden, sondern wurde vielmehr in den Sessel gehoben, nachdem die NSDAP bei der Reichstagswahl im November 1932 massiv Stimmen verloren hatte. Hitlers erstes Kabinett, in dem Deutschnationale und der Rechtskatholik Franz von Papen (1879 bis 1969) den Naziführer „einrahmen“ wollten, titulierte sich selbst „Regierung der nationalen Konzentration“.
An Einzelbeispielen fürs Vorschubleisten und willige Kollaboration fehlt es auch in den Folgejahren bis 1945 nicht, angefangen beim symbolträchtigen Mummenschanz des „Tages von Potsdam“ am 21. März 1933, über Auftritte des Ex-Kronprinzen mit freiwillig angelegter Hakenkreuzbinde bei Großaufmärschen des Stahlhelm, der paramilitärischen Organisation der Deutschnationalen, im Herbst 1933, bis hin zu schleimerischen Huldigungsschreiben des einstigen Thronprätendenten an Hitler. Zum Beispiel das vom Juni 1940, in dem er Adolf Hitlers (1889 bis 1945) „geniale Führung“ beim Sieg über Frankreich preist und nun „die endgültige Abrechnung mit dem perfiden Albion“ erhofft – unterschrieben mit „Sieg Heil!“ Für die „tollkühne Behauptung“, der Ex-Kronprinz habe einen aktive Rolle gespielt, die Kanzlerschaft Hitlers zu verhindern, gibt es keine empirische Grundlage, befindet Malinowski. Ebensowenig wie für eine Nähe zu Netzwerken des Widerstands gegen Hitler. Vielmehr hätten die Hohenzollern „dem Widerstand widerstanden“.
Um wieder auf Walter Groth zu kommen: Er war mein Großvater mütterlicherseits. Die Nazizeit hat er in Ludwigslust erlebt auf einem Posten als Aufseher des regionalen Netzes der Telefonleitungen. Als ich ihn fragte, warum er zur Kriegszeit der NSDAP beigetreten sei, sagte er: „Weißt Du, als Leitungsaufseher bei der Post war ich U.K., das heißt unabkömmlich. Ich durfte als wichtige Fachkraft nicht eingezogen werden. Irgendwann sagten sie mir, wenn Du nicht in der Partei bist, kannst Du nicht Leitungsaufseher bleiben. Da habe ich unterschrieben. Sowas wie in der Champagne 1918 wollte ich nicht noch einmal erleben.“ Auch von Walter Groths deutschen Altersgenossen des Jahrgangs 1896 kamen im Zweiten Weltkrieg über 9000 als Soldaten um.
Seit dieser Erklärung meines Großvaters, dessen am 17. Januar 1938 ausgestellter zweiter Wehrpaß erklärt, der 41 jährige Inhaber sei „kriegsverwendungsfähig“, weiß ich vorsichtig zu sein mit Vorwürfen, die sich nur auf die formelle Mitgliedschaft eines Menschen in der NSDAP gründen. Völlig suspekt sind mir die Thesen kollektiver Schuld. Sie blenden die Abstufungen individueller Verantwortung aus und entlasten die Großen auf Kosten der Kleinen. An dem hohen Maß individueller Verantwortung auch für das verbrecherische Nazi-Regime gibt es bei den Spitzen des Hohenzollern-Clans nichts zu deuteln, wie Malinowskis Studie belegt. Sie wird ihren Rang als Standardwerk für längere Zeit behaupten.
Für meinen Großvater ging die Sache so aus: Als US-Truppen 1945 kurzzeitig Ludwigslust besetzten, löste ihn die Besatzungsmacht wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft ab von seinem Posten als „Leitungsaufseher“. Bis zu seinem 65. Lebensjahr arbeitete er als Briefträger. Walter Groth war ein heiterer Mann, mit seinem Leben durchaus zufrieden. Hauptsache kein Krieg.
Stephan Malinowski: Die Hohenzollern und die Nazis. Geschichte einer Kollaboration. Propyläen Verlag, Berlin 2021, gebunden, 784 Seiten, 35 Euro