In der Steppenrandzone

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Wie Gorleben berühmt wurde

Von Holger Becker

„Hinter der Elbe fängt die Steppe an.“ Der angebliche Spruch des bundesdeutschen Teilungskanzlers Konrad Adenauer (1876 bis 1967) ist legendär, aber historisch nicht wirklich belegt. In jedem Falle paßt er zur Person des einstigen Kölner Oberbürgermeisters, dem bis in sein hohes Alter nicht grundlos der Ruf nachschlich, ein Separatist zu sein. Immerhin hatte er, zum Beispiel, 1919 im Februar – nach der Novemberrevolution und dem Ende der Monarchie in Deutschland – die Staatsgründung einer „Rheinischen Republik“ anzuregen versucht. Die Begründung dafür, das heißt für die Lösung des Rheinlands vom preußischen Staat, war gar nicht uneben und dürfte gierigen Hohenzollernerben kaum gefallen. Preußen sei „der böse Geist Europas“, sagte er vor über 50 Oberbürgermeistern und Abgeordneten, es werde „von einer kriegslüsternen, gewissenlosen militärischen Kaste und dem Junkertum beherrscht“.

Auf einer Waldlichtung zwischen dem vormals für die Endlagerung von „Atommüll“ vorgesehenen „Erkundungsbergwerk“ und dem weiterhin betriebenen Zwischenlager für etliche „Castor-Behälter“ hat die Organisation „Greenpeace“ ihr ausgemustertes Schiff „Beluga“ als „Mahnmal“ aufgestellt. Die Informationstafel im Vordergrund zeigt den CDU-Politiker Ernst Albrecht. Es fehlt sein Parteifreund Walter Leisler Kiep Foto: Holger Becker

Wie auch immer. Adenauers angeblicher Steppen-Spruch drehte seine Runden immer wieder, weil er zur Gemüts-, Interessen- und Kenntnislage größerer Teile der altbundesrepublikanischen Gesellschaft recht gut paßte. Denn jenseits der Elbe herrschte nun ja „der Russe“ mit seinen „Satrapen“, den „Herren aus Pankoff“. Die Ortschaft Gorleben im Landkreis Lychow-Dannenberg mit ihren rund 600 Einwohnern, direkt am linken Ufer der Elbe in Höhe des Flußkilometers 492 gelegen, mußte nach diesem Verständnis als Steppenrandgebiet zählen. Sie sollte zum berühmtesten Dorf der ehemaligen Bundesrepublik werden.

Das hat sie in erster Linie zwei CDU-Granden zu verdanken: Ernst Albrecht (1930 bis 2014) und Walther Leisler Kiep (1926 bis 2016). In zweiter Linie wirkte mit der SPD-Politiker Helmut Schmidt (1918 bis 2015). Und vielleicht auch – auf dem Wege der Unterlassung – der SED-Generalsekretär Erich Honecker (1912 bis 1994). Während wir über jene, BRD-Kanzler der eine, DDR-Staatsratsvorsitzender der andere, Wissen voraussetzen, müssen wir über diese vorab ein paar Dinge mitteilen:

Albrecht also regierte von 1976 bis 1990 als Ministerpräsident das Bundesland Niedersachsen, in dem Gorleben liegt. In Erinnerung halten ihn bis heute u. a. das „Celler Loch“, eine angeblich der Terrorbekämpfung dienende staatsterroristische Sprengung an einer Gefängnismauer im Jahre 1978, und seine Tochter Ursula, die den Nachnamen von der Leyen angeheiratet, inzwischen den Vorsitz der EU-Kommission eingenommen und als Ex-Bundesverteidigungsministerin einen grandioses Tretminentableau aufklärungsbedürftiger Skandale hinterlassen hat (Allein zur 135-Millionen-Euro-Restaurierung des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ laufen derzeit 105 Ermittlungsverfahren von wegen Korruption, Betrug und Untreue, las man neulich in der „Neuen Zürcher Zeitung“.).

Kiep fiel zuletzt so richtig auf, als eine Anklage gegen ihn 1999 den CDU-Spendenskandal um Ex-Kanzler Helmut Kohl (1930 bis 2017) auslöste. Viele Jahre war er Bundesschatzmeister der CDU gewesen, hatte für seine Partei im Bundestag gesessen und ganz nebenbei auch noch den High-Society-Verein „Atlantikbrücke“ geleitet, dem nur ganz besondere Freunde der großen USA angehören dürfen. In Niedersachsen gastierte der mit einem geschätzt dreistelligen Millionenvermögen vermutlich reichste bundesrepublikanische Politiker aller Zeiten zwischen 1976 und 1980 als Wirtschafts- und Finanzminister in Albrechts Kabinett.

Letzteres geriet Mitte der 1970er Jahre unter Druck. Denn nach der großen Ölkrise von 1973 hatte die Bundesregierung unter Helmut Schmidt ein großes Programm für den Bau von Kernkraftwerken aufgelegt. Mehrere Dutzend Meiler sollten entstehen. Für die hochradioaktiven Abfälle mußte ein Endlager her. Salzstöcke galten als ideale Orte, um den sogenannten Atommüll für einige Hunderttausend Jahre einzukellern. Ein Verfahren zur Auswahl des geeigneten Standortes, der auch eine Wiederaufbereitungsanlage für Brennstäbe aufnehmen sollte, hatte zwar schon 1972 begonnen. Aber nun wurde die Sache dringlicher. Von den ursprünglich acht als geeignet erscheinenden Lokalitäten waren noch drei übriggeblieben, die alle in Niedersachsen lagen – im Emsland, bei Celle und bei Nienburg. Von Gorleben war keine Rede.

Bis zum 11. November 1976. An diesem Tag waren aus Bonn gleich drei Mitglieder des Bundeskabinetts in die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover gereist, um die Standortauswahl zu beschleunigen – Innenminister Werner Maihofer (1918 bis 2009), Wirtschaftsminister Hans Friderichs und Forschungsminister Hans Matthöfer (1925 bis 2009). Mit ihrem Troß von Ministerialbeamten trafen sie auf eine Corona von niedersächsischen Ministern – darunter Kiep –, Staatssekretären und anderen Vertreten der hohen Bürokratie.

Über den Ablauf der Gespräche machten die befragten Zeitzeugen 2012 im Gorleben-Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages unterschiedliche Angaben. Aber höchstwahrscheinlich brachte Walter Leisler Kiep das Dörfchen im Wendland, wo noch bis ins 18. Jahrhundert Elbslawen gelebt hatten, gegenüber den Bonner Ministern ins Spiel. In seinem Tagebuch hielt er über den 11. November 1976 fest: „Hier gelingt es mir, Lüchow-Dannenberg als 4. Möglichkeit aufnehmen zu lassen.“ Als Zeuge im Untersuchungsausschuß 2012 bestritt Kiep allerdings die auch von Matthöfer bezeugte Urheberschaft mit dem interpretierbaren Satz: „Dieser Standort ist nicht auf meinem Mist gewachsen“.

Im Bericht des Untersuchungsausschusses ist dann von einem „Sprechzettel“ die Rede, den Beamte für Kiep vorbereitet hätten. Welches Vögelchen dem CDU-Politiker den Namen Gorleben tatsächlich gezwitschert hat, kam nicht heraus.

Vor dem niedersächsischen Energiebeirat stellte Ernst Albrecht das Gorleben-Votum später als Retourkutsche an die DDR dar, die in Morsleben dicht an der Grenze zur BRD – gegenüber liegt Marienborn – damit begonnen hatte, radioaktive Abfälle in aufgegebenen Kalischächten einzulagern. Retourkutsche? Sollte es das allein und in erster Linie gewesen sein? Zumal Morsleben nur schwach und mittelstark strahlenden Atommüll aufnahm, zumeist Rückstände aus Forschung, Industrie und Medizin, während in Gorleben die Rückstände aus rund 50 Reaktoren konserviert werden sollten.

Der Salzstock von Gorleben reicht auf fünf Kilometer Breite unter der Elbe in das damalige DDR-Gebiet hinein. Um den Verlauf der Grenze an der Elbe, der auch Rechte der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges berührte, gab es damals einen Dauerstreit zwischen den beiden deutschen Staaten und den zuständigen alliierten Mächten, der UdSSR für die DDR und den Briten für Niedersachsen. Verlief die Grenze in der Flußmitte, worauf der Osten beharrte, oder befand sie sich am Ostufer des Stroms, was der Westen behauptete? Zehn Jahre zuvor, am 18. Oktober 1966, hatte es deswegen in der Nähe von Gorleben eine der brenzligsten Situationen des Kalten Krieges gegeben, als Bundesgrenzschutz und britische Armee Vermessungsarbeiten des Bootes „Kugelbake“ auf der vollen Flußbreite erzwangen.

In Bonn wie Hannover wußte man außerdem von den Erdgasvorkommen, welche auf DDR-Seite in unmittelbarer Nähe des Salzstocks gefunden worden waren. Ein Gasfeld, das sich unter der Elbe weit in die Westseite hinstreckte, aber von Osten her hätte angebohrt werden können. 1969 hatte es in 3.300 Meter Tiefe sogar eine Gasexplosion gegeben, in deren Folge ein Bohrturm bei Lenzen in die Luft flog und ein Mensch starb.

Klar war: Das Einlagern strahlender Stoffe lief den Interessen der DDR zuwider. Bei den in unseren Breiten vorwiegend aus dem Westen wehenden Winden hätte eine Havarie besonders die östlich des Stromes wohnenden Deutschen – laut offizieller Westterminologie „Brüder und Schwestern“ – getroffen. Ganz direkt und ohne daß ein Spatenstich getan werden mußte, brachte die Gorleben-Variante aber Helmut Schmidt in Schwierigkeiten. Der bemühte sich zu jener Zeit um eine Erwärmung des Klimas im Verhältnis der beiden deutschen Staaten, einschließlich Direktkontakt mit Erich Honecker. Bei der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte im Mai 1975 hatten sich die beiden und damit erstmals ein Bundeskanzler und ein SED-Chef persönlich getroffen. Wenn er das zarte Pflänzchen einer von den „Großen Brüdern“ auf beiden Seiten argwöhnisch beobachteten deutsch-deutschen Verständigung wachsen sehen wollte, konnte Schmidt der Gorleben-Vorschlag so wenig gleichgültig sein wie der fast zeitgleich aufkommende Trubel um das Konzert des Sängers Wolf Biermann, das dann Anlaß seiner ziemlich dämlichen Ausbürgerung aus der DDR werden sollte. Am selben Tag, als Biermann die paar Schritte von seiner Wohnung in der Chausseestraße zum „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße ging, um seine Westreise anzutreten, präsentierte Walter Leisler Kiep den drei Bonner Ministern das Endlager an der Grenze zur DDR als Möglichkeit Nummer 4.

Helmut Schmidt zeigte sich ausgesprochen unamüsiert und versuchte erst einmal, Albrecht von Gorleben abzubringen. Es begann ein Briefwechsel, in dem Schmidt immer wieder auf die Bonner Bedenken hinwies, mahnte, die Sache könne teuer werden, wenn die DDR finanzielle Forderungen stelle. Auch drohe an dieser Stelle die Gefahr der Internationalisierung eines möglicherweise ausbrechenden Konflikts durch Einschaltung der Sowjetunion und der USA. Schließlich bereitete das Kanzleramt einen sechsseitigen Entwurf für ein geharnischtes Schreiben an Albrecht vor, in dem vom ungeklärten Grenzverlauf ebenso die Rede ist wie von der Notwendigkeit die DDR in die „Umgebungsüberwachung“ einzubeziehen, und schließlich von der Viermächteverantwortung, der ein „Entsorgungszentrum“ in Grenznähe unterliege. Schmidt unterzeichnet diesen Brief am 17. Februar 1977, strich aber dann mit der Hand alle sechs Seiten durch. Statt des Gestrichenen ging am 20. Februar ein neuformuliertes kurzes Schreiben an Albrecht heraus, in dem es zum Endlager an der Elbe lapidar heißt, der Kanzler habe ja „nachdrücklich auf die Bedenken der Bundesregierung gegen den Standort Gorleben hingewiesen“.

Damit gab Schmidt im Grunde seinen Widerstand gegen Gorleben auf. Was da passiert war, klärte der Untersuchungsausschuß des Bundestages nicht wirklich auf. So bleibt Raum für Vermutungen: Hatte die DDR-Führung vom Kiep-Albrecht-Vorschlag Wind bekommen und signalisiert: Da machen wir keinen „Otto“ draus? Dafür spricht einiges. Eine Intervention der DDR-Führung wegen Gorleben ist nicht bekannt. Als Helmut Schmidt am 20. März 1977 – einen Monat nach der Entschärfung seines Briefes an Albrecht – am späten Abend erstmals Erich Honecker anrief, spielte Gorleben ebensowenig eine Rolle wie in späteren Telefonaten der beiden.

Alles in allem ging die Gorleben-Provokation nach hinten los. Womit nämlich niemand gerechnet hatte, war die durchaus störrische Bevölkerung des Wendlands. Bauern protestierten gegen die Endlagerpläne, vereinten sich mit Zugereisten aus der ganzen Bundesrepublik und Westberlin. Mit der Ausrufung der „Republik Freies Wendland“ 1980 wurde Gorleben zum „Hotspot“ der „Anti-Atomkraft-Bewegung“. Die Strategen der im selben Jahr gegründeten Partei „Die Grünen“ hatten ihren Lenin gelesen und die „Endlager-Frage“ als „Hauptkettenglied“ erkannt und angepackt. Der Gorleben-Protest gewann eine folkloristische Qualität und generierte ihrer Partei stetigen Zulauf derer, die an die gute Absicht glaubten – vom Universitätsprofessor bis zum vermeintlich autonomen Haßkappenträger. Daß viele junge Menschen im Laufe der Zeit das Schulfach Physik „abgewählt“ hatten, kam der Sache zugute. Als Deutschlands erster bündnisgrüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) 2011 darauf bestand, Gorleben weiter in die Suche nach einem Endlager einzubeziehen, sprach das Bände. Dennoch ist Gorleben seit jüngstem aus dem Rennen. Das hat es seiner mangelnden geologischen Eignung zu verdanken. Wie schon 1976 fehlt dem Salzstock auch heute das nötige wasserbremsende Deckgebirge.

Oktober 2020