Ingenieur, Poet, Florafälscher

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Mit Heinrich Seidel von Perlin nach Berlin

Von Holger Becker

„Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.“ Nicht nur Ingenieure mit oder ohne Diplom kennen diesen Spruch, der recht stark nach „Volksmund“ klingt. Stimmt aber nicht. Denn es handelt sich um eine mundgerechte Verballhornung der ersten Zeile eines 1871 veröffentlichten Liedtextes, in dem es da heißt: „Dem Ingenieur ist nichts zu schwere – / Er lacht und spricht: ‘Wenn dieses nicht, so geht doch das!‘ / Er überbrückt die Flüsse und die Meere, Die Berge unverfroren zu durchbohren ist ihm Spaß.“ Geschrieben hat dieses „Ingenieurlied“ ein Mann vom Fach oder besser gesagt: von Fächern. Er arbeitete als Ingenieur und als Schriftsteller, war in beiden Berufen gut und erfolgreich und hieß Heinrich Seidel (1842 bis 1906).

Heinrich Seidel. Das Foto stammt aus dem Studio Löscher & Petsch in der Leipziger Straße in Berlin. Dort ließen sich auch Theodor Fontane, Rudolf Virchow und Otto von Bismarck ablichten. Vertrieben wurde das Foto auf einer Bildpostkarte der Firma Meisenbach, Riffahrt & Co. Diese ist überliefert aus dem Archiv „Akademischer Verein Hütte e.V. Berlin“, dem Heinrich Seidel angehörte

Sein ingenieurtechnisches Hauptwerk, das Hallendach des Anhalter Bahnhofs in Berlin,  ist verschwunden. Das verdanken wir vor allen anderen Hitler und dessen Hinterleuten. Das Dach überlebte den Angriff US-amerikanischer Bomberverbände am 3. Februar 1945 nicht, der die schwerste Luftattacke des Zweiten Weltkrieges auf die deutsche Hauptstadt darstellte und auf deren Zentrum zielte. Wieviele Menschenleben ihr zum Opfer fielen, ist nicht sicher geklärt. Nach Schätzungen des US-Militärs sollen es 25.000 gewesen sein, darunter viele Häftlinge und Zwangsarbeiter, die nicht in die Luftschutzbunker durften. 20.000 Menschen wurden verletzt, 120.000 obdachlos.

Die Spreng- und Brandbomben, die aus den Schächten von 939 Flugzeugen fielen, zerstörten in den Berliner Bezirken Mitte und Kreuzberg 2.296 Bauten vollkommen, 909 schwer und 3.606 mittel bis leicht. 22.519 Wohnungen wurden als völlig vernichtet gemeldet, und bei weiteren 27.017 Wohnungen drohte der Einsturz, weshalb sie geräumt werden mußten. Mit dem  Anhalter sank in auch der Potsdamer Bahnhof (der lag in der Nähe des Potsdamer Platzes und war, schon 1838 eröffnet, der älteste Bahnhof Berlins) in Schutt und Asche, ebenso das Zeitungsviertel. Das Stadtschloß brannte zu großen Teilen aus.

Das alles geschah an einem Sonnabend zwischen 11 und 12 Uhr vormittags. Einen Tag zuvor, am 2. Februar 1945, hatten die ersten Einheiten der Roten Armee die Oder überschritten.

Warum Heinrich Seidels Konstruktion bei all den Schäden an Leben und Gut besonders betrauern? Nun ja, das Dach der Ankunftshalle im Anhalter Bahnhof stellte mindestens ein Europawunder der Technik dar. Nirgendwo sonst auf dem Alten Kontinent befand sich seinerzeit ein Dach, das freitragend eine so große Fläche bedeckte. In 34 Metern Höhe überspannten 62,5 Meter lange Eisenbinder ein Areal von 10.200 Quadratmetern. 40.000 Menschen sollen darunter Platz gehabt haben, hätten sie sich denn gleichzeitig in die Ankunftshalle dieses Bahnhofs begeben, der früher als Berlins „Tor nach Süden“ galt. Sechs Jahre war nach Plänen des Architekten Franz Schwechten am Um- und Neubau des alten Anhalter Bahnhofs gewerkelt worden, als 1880 Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck das imposante Bauwerk einweihten, von dem heute nur noch ein Fragment des Portikus am Askanischen Platz zu sehen ist. In Friedenszeiten, aber zum Teil auch noch im Ersten Weltkrieg gingen hier ab Züge, deren Fahrt in Wien, Budapest, Triest, Karlsbad, Rom, Mailand, Genua, Neapel, Marseille, Nizza, Cannes oder Athen endete. Über Triest und Neapel gab es Anschluß per Schiff nach Alexandria und von dort weiter nach Kairo und Karthum. Zu den Selbstverständlichkeiten für die Langstreckenpassagiere gehörten übrigens Nachtzüge mit Schlaf- und Liegewagen. Die Deutsche Bahn schafft diese Zivilisationserrungenschaft bis Ende 2016 vollständig ab. Nur die russische Staatsbahn bietet noch eine Nachtverbindung von Berlin nach  Paris.

Im Bau: Das von Seidel konstruierte Dach des Anhalter Bahnhofs in Berlin. Das Foto stammt vermutlich von 1878

Seidels Doppelexistenz als Techniker und Schreibersmann währte schon zwei Jahre, als er  1866 an die Königliche Gewerbeakademie, Vorläuferin der heutigen Technischen Universität Berlin, in die damals noch selbständige Stadt Charlottenburg kam. Denn 1864 war in einer Hamburger Zeitschrift das erste von ihm verfaßte Märchen erschienen. Nun endlich wirklich studieren wollte der junge Mann, mit dem das Leben schon krumme Wege gegangen war: Sohn eines Pastors, geboren in dem kleinen mecklenburgischen Dorf Perlin bei Wittenburg, aufgewachsen im Viertel um die Schweriner Schelfkirche, trotz Besuch des Gymnasiums ohne Abitur, Azubi in einer Lokomotiven-Werkstatt, Student am Polytechnikum in Hannover, doch wegen des Todes seines Vaters aus Geldmangel ohne Abschluß geblieben, Arbeiter in einer Güstrower Maschinenfabrik, Mitarbeiter in einem Konstruktionsbüro.

„Ut em ward nix!“, ging der Standardspruch, wenn seine Lehrer auf Heinrich Seidel zu sprechen kamen. In Charlottenburg lernte er noch einmal zwei Jahre, bis ihm, dem Ingenieur, dann wirklich nichts zu schwer war. Auch die meisten der berühmten Yorck-Brücken an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Schöneberg stammen von seinem Reißbrett, das er aber trotz seiner beträchtlichen Erfolge als Ingenieur recht bald nicht mehr anrührte. Noch im Jahr 1880, als der Anhalter Bahnhof seine pompöse Einweihungsfeier erlebte, entschied er sich für ein Leben als freier Schriftsteller. Auch als solcher hinterließ er allerhand Gutes.

Ein Ort in Mecklenburg zwischen Wittenburg und Schwerin Foto: Holger Becker

Das damals noch vor Berlins Toren liegende Steglitz machte er mit seinen Erzählungen von „Leberecht Hühnchen“ in ganz Deutschland bekannt. Diese Idylle vor dem Hintergrund des immer lauter werdenden Berliner Groß- und Industriestadtgetöses handelt von einem liebenswerten Kauz, der entfernte Ähnlichkeit mit Jean Paul Friedrich Richters „Schulmeisterlein Wutz“ oder Figuren aus den  Gedichten des märkischen Kleinmeisters Schmidt von Werneuchen besitzt. Es wurde sein erfolgreichstes Werk, das bis heute immer neue Auflagen erlebte. Sein bestes allerdings sind „Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande“, die ungemein farbenfrohe, teilweise in Plattdeutsche greifende Erzählung über eine Kindheit in Mecklenburg, die bevölkert wird von Gestalten wie der Dreizentner-Mamsell Kallmorgen, „die aussah, als hätte sie Wilhelm Busch ganz und gar mit dem Zirkel konstruiert“,  dem Kinderschreck sowie Ein- und Ausbrecherkönig Driebenkiel und dem Kriminalpolizisten Mudrach, der die Verbrecher mit den Augen festnimmt. Daneben veröffentlichte Seidel haufenweise andere Erzählungen, Märchen und  Gedichte. Seidels autobiographisches Buch „Von Perlin nach Berlin“ wertete kein Geringerer als Theodor Fontane sehr genau aus. In seinen eigenen autobiographischen Mitteilungen „Von Zwanzig bis Dreißig“ gibt er ganze Passagen Seidels über die Berliner literarische Gesellschaft „Tunnel über der Spree“ – beide waren dort Mitglieder – fast wortwörtlich wieder. Doch vergißt er nicht, seine Quelle lobend zu erwähnen.

Heinrich Seidels Geburtshaus in Perlin. Über der Tür hängt eine Gedenktafel Foto: Holger Becker

Wenig bekannt ist: 1884 veröffentlichte Heinrich Seidel eine kurze utopische Erzählung, die mit ihrem Titel und dem Zeitpunkt einen verblüffenden Vorgriff auf ein viel später erschienenes, weltberühmtes Werk bietet: „Im Jahre 1984“ nannte Seidel seine Shortstory, in der ein Gottlieb Nothnagel vermittels wunderkräftiger Galoschen im Berlin von 1984 umherwandern kann. Dort gibt es soetwas ähnliches wie Autos, die wie auch die Schiffe elektrisch betrieben werden. Aus dem Hotelzimmer lassen sich per Knopfdruck Arzt, Feuerwehr oder Polizei herbeirufen, und Affen können alleine mit Händen und Füßen vierhändig Klavier spielen, was alle Pianisten arbeitslos macht. Seidel sieht in der Zukunft nichts Negatives, anders als George Orwell (1903 bis 1950) in seiner 1949 erschienenen Negativ-Utopie, die von der Zerstörung menschlicher Persönlichkeit mittels wissenschaftlicher Methoden handelt. Man mag den Mann aus Perlin für naiv halten. Doch zwischen den Erscheinungsdaten beider Schriften liegen 65 Jahre Weltgeschichte. Literaturwissenschaftler versichern, Orwell habe die utopische Literatur sehr gut gekannt. Wahrscheinlich begründete Seidel eine 1984er-Literaturtradition. Auch der Kurzroman des sowjetrussischen Agrarwissenschaftlers Alexander Tschajanow (geboren 1888) „Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie“ spielt überwiegend im Jahr 1984. Tschajanow, der Stalins Zwang bei der Kollektivierung auf dem Lande kritisierte, wurde, irgendwann zwischen 1937 und 1939 als „Spion“ erschossen.

Sportplatz der Heinrich-Seidel-Grundschule im Berliner Wedding
Foto Holger Becker

Was müssen wir noch wissen über Heinrich Seidel? Sein Hobby bestand im Florafälschen, was heißt: Er hatte diebische Freude daran, in Berlin und andernorts in Deutschland fremde Pflanzen anzusäen. Als Urvater des „Guerilla Gardening“ narrte er zum Beispiel die Fachwelt, indem an vielen Stellen das vom Mittelmeer stammende Zymbelkraut aussäte. Sein Sohn Heinrich Wolfgang Seidel (1876–1945), ebenfalls ein Schriftsteller, heiratete 1907 eine Cousine namens Ina Seidel (1885 bis 1974). Die war begabter als ihr Mann und landete mit „Das Wunschkind“ 1930 einen Bestseller. Als Literatur-Star beteiligt sie sich am Kult um Hitler, der sie 1944 auf die Liste der „Gottbegnadeten“ setzte. Für all das kann beim schon 1906 an Magenkrebs verstorbenen Onkel und Schwiegervater keine Verantwortung abgeladen werden.

Wer heute Perlin durchquert, findet keinen auffällig sichtbaren Hinweis auf den berühmten Sohn des Dorfes. Berlin ist etwas dankbarer: Gleich beim Humboldthain gibt es die Heinrich-Seidel-Grundschule, in Nähe des Stadtparks Steglitz die Heinrich-Seidel-Straße. Warum allerdings Seidels Grab an der Westmauer des Friedhofs Lichterfelde aus der Liste der Berliner Ehrengräber gestrichen worden ist, weiß der Fuchs. Vielleicht aus später Rache für seinen als mecklenburgische Antwort auf preußische Überhebung zu verstehenden Spruch: „Der Weihnachtsmann hat mehr zu sagen als der preußische König“.

April 2016