Katjuschas und Adonisröschen

Ausflüge in die kleine und die große Welt: An der Oder

Von Holger Becker

An manchen Tagen, wenn der Wind durch das Schilf am Flußrand streift, meint man schon das Meer zu riechen. Doch vom Dörfchen Lunow am Südrand des Nationalparks Unteres Odertal sind es in gerader Linie noch rund 90 Kilometer bis zum leicht salzigen Wasser des Stettiner Haffs, das, obwohl es weit ins Binnenland reicht, eine Meeresbucht ist. Die Lagune – sie wird auch Oderhaff oder Pommersches Haff genannt – nimmt das Wasser von Deutschlands fünftgrößtem Fluß auf und transportiert es in die offene Ostsee.

Güstebieser Loose (Landkreis Märkisch-Oderland), 6. April 2005: Bauern retten Kühe, die vom Hochwasser der Oder eingeschlossen waren. Um die Tiere ins Trockene zu bringen, müssen sie eine überflutete Straße befahren, die vom Deich hinunter zum normalen Flußlauf führt
Foto: Holger Becker

Wo Deutschland endet
Bei Lunow, das etwas südlich von Schwedt liegt, kann man, ohne auf den Fluß selbst zu gucken, sehen, welche Wassermassen sich auf insgesamt 866 Flußkilometern sammeln. Der gemeinsam mit den polnischen Nachbarn eingerichtete Nationalpark bietet der Oder Überflutungsflächen, die sie zumeist zweimal im Jahr nutzt. Der Wanderer, der vom Dorfrand, wo das Auto abgestellt werden muß, durch die Auenlandschaft flaniert, entdeckt nicht selten in den Zweigen der Weiden Strohfetzen, die der Fluß bis in die Kronen gespült hat. Die Stämme der Schwarzerlen tragen oft helle Ringe, die den letzten Hochwasserstand markieren. Wer die weiten Himmel Norddeutschlands mag, Ruhe sucht und schöne Strecken zum Spazieren oder Radfahren, ist hier, wo Deutschland endet, richtig.


Daß die Oder, die Städte wie Wroclaw, Zielona Góra, Frankfurt, Schwedt und Szczecin streift oder durchfließt, heute in einem Teil ihres Verlaufs die Grenze zwischen Deutschland und Polen bildet, haben wir in allererster Hinsicht einem Herrn Hitler und mit ihm denen zu verdanken, die von der Faschistenherrschaft zu profitieren erhofften. Ihr verbrecherischer Feldzug nach Osten rächte sich, und Ende Januar 1945 erreichte die Rote Armee die Oder. Sie begann hier, den Sturm auf Berlin vorzubereiten. Gleich hinter der Oder starben dann im April 1945 rund 33.000 sowjetische und etwa 12.000 deutsche Soldaten in der Schlacht um die Seelower Höhen. Es muß ein infernalisches Getöse gewesen sein. Zeitweise stand an dieser Frontlinie fast alle drei Meter ein sowjetisches Geschütz. Aus allen Rohren, darunter die der berühmten Katjuscha-Raketenwerfer, feuerte es, um mit dem stärksten Trommelfeuer der Menschheitsgeschichte den Durchbruch des deutschen Verteidigungssystems vorzubereiten. Was unter hohen Opfern gelang. Der Weg nach Berlin war frei, der Endpunkt des längst entschiedenen Krieges nah.

Sowjetische Artillerie im April 1945 nach der Schlacht um die Seelöwer Höhen vor dem Sturm auf Berlin Foto: ADN-Zentralbild, Bundesarchiv, Bild 183-E0406-0022-012 / CC-BY-SA 3.0

Es gab viele Posten auf der Rechnung, die den Deutschen nun ausgestellt wurde. Dazu gehörte die Westverschiebung Polens, die schon 1943 auf der Teheraner Konferenz von den Staaten der Antihitlerkoalition beschlossen worden war. Während die Sowjetunion seit langem umstrittene, bis zum sowjetischen Einmarsch im September 1939 aber zu Polen gehörende Gebiete östlich der sogenannten Curzon-Linie an den Flüssen Bug und San erhielt, wurde die Westgrenze Polens an Oder und Neiße gezogen – ein erhebliches Stück westlich ihres vorherigen Verlaufes und vorbehaltlich einer abschließenden Regelung in einem Friedensvertrag.

Während in der Bundesrepublik selbst die SPD noch 1964 ihren Parteitag in der Karlsruher Schwarzwaldhalle, Vorsitzender der Partei war Willy Brandt, unter einem Emblem abhielt, das Deutschland in den Grenzen von 1937 zeigte, hatte die DDR den Grenzverlauf an Oder und Neiße schon 1950 mit dem Görlitzer Vertrag anerkannt. Die Führung des jungen zweiten deutschen Staates tat das sicher nicht nur aus Einsicht, an den weltpolitischen Konstellationen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges nichts ändern zu können. Auch konkreter Druck aus Moskau dürfte eine Rolle gespielt haben. Im Kreml regierte Stalin, der mit einem Schauprozeß gegen den ungarischen KP-Führer Laszlo Rajk – er endete mit Todesurteilen gegen Rajk und drei andere Angeklagte – den Führungen der noch jungen „Bruderstaaten“ zeigte, was er mit ihnen machen konnte, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzen sollten.

Vorbehalte gegen Grenzziehung
Immerhin hatte es auch in der SED Vorbehalte gegen die neue Grenzziehung gegeben. Und auch in der DDR stellten die Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten, die seit einem Erlaß der sowjetischen Militäradministration vom 8. Oktober 1945 „Umsiedler“ zu nennen waren, einen erheblichen politischen Faktor dar. Die Sowjetische Besatzungszone hatte ein Drittel dieser Menschen aufgenommen. Insbesondere Wilhelm Pieck, dem ersten und einzigen DDR-Präsidenten, der aus der nun geteilten Oder-Stadt Guben stammte, fiel es schwer, sich mit den neuen Gegebenheiten abzufinden, zumal diese auch nicht immer geographischer Logik folgten. Wenn die Oder der Grenzfluß sein sollte, was war dann mit Stettin, das zum größeren Teil westlich des Flusses liegt? Pieck soll vor Wut getobt haben, als er im Juli 1945 von der Übergabe der Stadt an Polen hörte.


Nach der kampflosen Einnahme der Pommern-Metropole, deren Altstadt von britischen Bombern 1944 zu 90 Prozent zerstört worden war, hatte die sowjetische Administration erst einmal mehrere Deutsche nacheinander als Stettiner Bürgermeister eingesetzt, als letzten den ehemaligen kommunistischen Zeitungsredakteur Erich Wiesner. Was aber keiner von ihnen wußte: Bei Verhandlungen mit dem „Polnischen Komitee der Volksbefreiung”, dem Vorläufer der späteren polnischen Regierung, im Juli 1944 hatte Stalin Stettin dem neuen polnischen Staat versprochen. Doch im Frühjahr 1945 wartete er erst einmal ab. Denn die US-amerikanischen und britischen Truppen waren weit auf das Territorium der schon 1944 vereinbarten Sowjetischen Besatzungszone vorgedrungen, hatten Städte wie Erfurt, Magdeburg, Leipzig und Schwerin eingenommen.

Von Stettin nach Szczecin
Als die Briten und US-Amerikaner sich zu Sommerbeginn 1945 auf die vereinbarten Linien zurückzogen und somit die realen Grenzen der Sowjetischen Besatzungszone in Richtung Westen verschoben, zog Stalin im Osten nach. Am 3. Juli wurde Erich Wiesner als Stettiner Bürgermeister abgesetzt. Die deutsche Bevölkerung mußte bald die Stadt verlassen, die seitdem Szczecin heißt. Auch ein Großteil des alten Landkreises Randow westlich der Oder ging nun an Polen. Und Erich Wiesner mußte nach Schwerin, arbeitete dort ein paar Monate lang als Oberbürgermeister, später als Redakteur der „Schweriner Volkszeitung“.


Für die spätere DDR bedeutete Stalins Entscheidung, die dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens zuwiderlief, eine schwere Bürde. Verfügte das Land doch über keinen Hafen für große Hochseeschiffe, wie ihn Stettin seit langem besaß. Es wurde zu einem Kraftakt, ab 1957 den Rostocker Überseehafen aufzubauen. Nicht wenige DDR-Bürger beteiligten sich daran mit Spenden und Arbeitseinsätzen, während Kinder und Jugendliche in Massen Feldsteine für die Ostmole sammelten. Allein die jungen Leute der 1400-Einwohner-Gemeinde Züssow, 25 Kilometer vom Stettiner Haff entfernt, schickten 1960 vier Güterwagen solchen Sammelguts nach Rostock.


Wo man sie nicht wieder aufriß, aber hatten die Wunden von 1945 die Chance zu verheilen. Viele der in der DDR lebenden Vertriebenen und Flüchtlinge – in Mecklenburg zum Beispiel hatten sie 1950 einen Anteil von 43 Prozent an der Gesamtbevölkerung – sahen ein, daß der Verlust der alten Heimat der Preis für die Nazi-Verbrechen gerade auch in Polen war. Und als 1990 der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet wurde, erkannte auch die alte BRD die Oder-Neiße-Grenze als unmumstößlich an, auch wenn der Bund der Vertriebenen bis zuletzt dagegen wetterte.


Wer heute bei Lunow oder weiter südlich bei Zollbrücke auf dem Oderdeich spaziert, vom Reitweiner Sporn ins Land guckt, bei Mallnow im Frühling die seltenen Adonisröschen besichtigt oder mal dem Dorf Golzow im Oderbruch einen Besuch abstattet, weil dort die berühmte Filmdokumentation von Barbara und Winfried Junge „Die Kinder von Golzow“ entstand, der kann sich Gedanken über andere Dinge machen. Zum Beispiel über das Klima an der Oder. Sie ist der Fluß in Deutschland, der am häufigsten zufriert. Warum das so ist, läßt sich anhand der Einteilung unseres Planeten in Klimazonen erklären. Man könnte sagen: Hinter Wriezen fängt die Steppe an. Der Osten Brandenburgs nämlich weist schon fast ein Kontinentalklima mit heißen Sommern und kalten Wintern auf. Die schon erwähnten Adonisröschen, die an den Oderhängen sattgelbe Teppiche bilden, sind ein Anzeiger dafür. Sie stammen aus Sibirien und werden in den Katalogen der Botaniker als typische Steppenpflanzen geführt.

Als es an der Oder wärmer war
Aber auch an der Oder hat der Klimawandel zugeschlagen. In früheren Jahrhunderten war es nämlich mal wärmer. Das ein paar Kilometer nördlich von Frankfurt gelegene Städtchen Lebus zum Beispiel, Theodor Fontane vergaß nicht, es zu berichten, betrieb früher fleißig den Weinbau. Da war es Bischofsstadt und muß in etwa so ausgesehen haben wie noch heute das damals funktionsgleiche Havelberg an der Mündung der Havel in die Elbe. Daß der Wein zu jener Zeit gedieh, hatte er der mittelalterlichen Warmzeit zu verdanken, die ihren Höhepunkt zwischen 1000 und 1400 gehabt haben soll, mit Temperaturen, die im Jahresmittel 1 bis 1,5 Grad Celsius über den heutigen lagen. Die Klimagelehrten streiten sich gern um dieses Phänomen, das – wie schon vorherige Wechsel von Kalt- und Warmzeiten mit drastischen Folgen – beweist: Auch ohne den Einfluß des Menschen findet Klimawandel statt.


Übrigens: Auf Wein von der Oder muß auch heute nicht verzichtet werden. Bei Zielona Góra (ehemals Grünberg) etwa 80 Kilometer südöstlich von Berlin befindet sich das am weitesten nördlich gelegene geschlossene Weinanbaugebiet der Erde. 1826 wurde in der Stadt die erste Flasche Sekt Deutschlands hergestellt.

Dezember 2013