Kiefern, Klump und Kali
Ausflüge in die kleine und die große Welt: In Mecklenburgs Mineraldistrikt
Von Holger Becker
Kiefern, Sand und Heidekraut so weit das Auge reicht. Wer die Gegend durchwandert, wenn die Sonne knallt, sollte genügend Wasser dabei haben. Am 25. August 1840 tat das ein Mann namens Fritz Reuter (1810 bis 1874), der später so berühmt wurde, daß sogar der Name des Hundes überliefert ist, der ihn begleitete: Schüten. Zwischen Kaliß und Neu Göhren im Südwesten Mecklenburgs kam er an eine Weggabelung und fragte sich, welcher Weg nun der rechte sei.
Seine spätere Beschreibung dieses Moments in seinem Buch „Ut mine Festungstid“ stellte den Doppelsinn der Frage heraus. Denn es ging vor allem um seinen weiteren Lebensweg. Er, der Mecklenburgs „Nationaldichter“ und Deutschlands bestverdienender Schriftsteller seiner Zeit werden sollte, war an jenem Tag nichts weiter als ein entlassener Sträfling, 30 Jahre alt, mit abgebrochenem Jurastudium. In Jena hatte er sich an den nicht unbedingt appetitlichen Bestrebungen der franzosen- und judenfresserischen Burschenschaften beteiligt, die einen einheitlichen deutschen Nationalstaat wollten, als der objektiv noch nicht möglich war. Preußens Justiz betrachtete das als Hochverrat und fällte 1836 ein krasses Urteil über den 1833 in Berlin verhafteten Studiosus aus Stavenhagen: Tod durch das Beil, was sich aber noch vor Zustellung des Spruchs zu immer noch grausamen 30 Jahren und später zu acht Jahren Festungshaft milderte. Die letzten davon saß er in Dömitz an der Elbe ab, das Mecklenburgs bedeutendste Festung und darin auch viele Gefangene beherbergte. Daß Reuter am 28. August 1840 an jener Weggabelung stehen konnte, hatte er schließlich einer Amnestie zu verdanken.
Seit 1885 steht an der Stelle ein nicht eben anmutiges Fritz-Reuter-Denkmal, aufgeschichtet aus Findlingen. Man kommt heute mit dem Auto dorthin. Auch einen Radweg gibt es. Und bis vor ein paar Jahren feierte man dort an jedem ersten Sonntag im September ein Fest, das Reuterstein-Treffen, das aber dann ein paar Kilometer weiter auf den Forsthof in Kaliß verlegt worden ist und Reuter-Fest heißt.
Für die Region jedenfalls ist Reuters Festungshaft in Dömitz ein Glücksfall. Der Schriftsteller hat nämlich ansonsten keine tiefere Beziehung zu ihr. Sein Mecklenburg liegt woanders, ein ganzes Ende weiter östlich. Was er im Sommer 1840 durchquerte, nennt man die Griese Gegend, die ihre Grenzen in etwa mit den Flüssen Elde im Osten, Elbe im Süden und Sude im Westen sowie im Norden mit der Bahnlinie Berlin-Hamburg findet. Ihre Städte hören auf die Namen Ludwigslust, Grabow, Lübtheen und Dömitz. Manche zählen auch Hagenow mit. In diesem Revier gibt es vor allem Sand, dessen graue, auf Plattdeutsch griese Farbe dem Landstrich den Namen gegeben haben soll. Nach einer anderen Theorie leitet der sich von den grauen Kitteln her, die Menschen dieser Region zur Arbeit trugen. Weil der karge Boden sie nicht ernähren konnte, zogen sie zur Ernte in andere Ecken Mecklenburgs, um sich als Schnitter zu verdingen. Und weil die Landwirtschaft in der Griesen Gegend wenig abwarf, interessierten sich die Junker nicht für diesen Landstrich, in dem es deshalb kaum größeren Gutsbesitz, dafür aber noch viele Bauernstellen gab.
Fritz Reuters Welt aber ist die Welt der zumeist adligen Gutsbesitzer, die sich im größeren Teil Mecklenburgs über die Jahrhunderte fast den gesamten Grund und Boden, so er nicht den Landesfürsten gehörte, unter den Nagel gerissen, die Bauern enteignet und zu Leibeigenen, Tagelöhnern und Knechten gemacht haben. Diese Schicht, die Geißel Ostelbiens, dominierte das Leben auf den Dörfern fast in jeder Hinsicht, übte Gewalt über Polizei, Rechtsprechung, Kirche, Schule und Alltagsleben aus, verteidigte ihre Privilegien mit List und Tücke, Demagogie, Peitsche, Freikorps und Leuten in braunen, schwarzen und grünen Uniformen bis zum 8. Mai 1945. Daß es unter den Gutsbesitzern auch anständige und vernünftige Menschen gab, läßt Reuter uns zum Beispiel in seinem großen Roman „Ut mine Stromtid“ wissen, ändert aber nichts an den Verhältnissen. Und genau die zu kritisieren, meistens mit dem schönen Humor, der im Plattdeutschen wohnt, aber auch hart anklagend wie in dem Poem „Kein Hüsung“, hat Reuters fortwährenden Ruhm begründet, sein Herausragen über alle folkloristischen plattdeutschplatten Schnörzchenerzähler, die der guten alten Zeit nachweinen, in der es doch so traulich und so lustig war.
Die Dörfer der Reuter-Welt geben sich noch heute leicht zu erkennen. Da gibt es, so es noch steht, das Herrenhaus, da gibt es die Kirche nebst Pfarrhaus, und da gibt es in Reih und Glied die Tagelöhnerkaten, heute oft umgebaut und erweitert. Ganz anders in der Griesen Gegend. Wer nur Reuters Mecklenburg kennt, reibt sich die Augen. Da stehen Bauernhäuser aus Backstein mit neun Fenstern nebeneinander in der Giebelfront, hie und da auch noch niedersächsische Hallenhäuser in einer besonderen mecklenburgischen Ausprägungsform.
Nicht wenige Leute in der Griesen Gegend haben es im 19. und 20. Jahrhundert zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Sie verdanken ihn vor allem Albrecht Thaer (1752 bis 1828) und Justus von Liebig (1803 bis 1873) sowie ihrem eigenen Fleiß. Mit seiner Landwirtschaftsakademie in Möglin (Barnim), der ersten in Deutschland, gab Thaer ab 1806 dem Landbau einen kräftigen Schub, indem er bessere Geräte einführte und Methoden propagierte, die Fruchtbarkeit der Böden zu erhöhen. Liebig, der auch die Babynahrung sowie „Liebigs Fleischextrakt“ erfand, begründete schließlich die Agrochemie. Um 1840 wies er die wachstumsfördernde Wirkung von Stickstoff, Phosphaten und Kalium nach, weshalb dann auf den Feldern in großem Maßstab Kunstdünger eingesetzt wurden. Das mußte sich zwar erst einmal durchsetzen. Aber schließlich stieg gerade dank der Erkenntnisse Liebigs die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland zwischen 1873 und 1913 um 90 Prozent.
Auch die schlechten Böden der Griesen Gegend warfen nun mehr ab. Hinzu kam ein glücklicher Umstand in Gestalt einer geologischen Kuriosität. Mitten in dem flachen Land erhebt sich bis zum 71-Meter-Gipfelpunkt des Steinborgs in Karenz ein kleines Gebirge, der Wanzeberg, benannt nach dem Slawenkönig Wanzka, der dort in einem dreifachen Sarg aus Eiche, Silber und Gold begraben liegen soll. Den Schatz hat schon mancher gerne heben wollen. Aber was man in Mecklenburgs „Mineraldistrikt“ tatsächlich schon früh fand, sind Bodenschätze: Ton, aus dem Ziegel wurden, Schwefeleisen, aus dem sich das für die Gerberei und das Färben von Stoffen begehrte Alaunsalz gewinnen ließ, Braunkohle, die von 1817 bis 1960 unter Tage abgebaut wurde, und – für die Griese Gegend am wichtigsten – Kalisalze, die als mineralischer Dünger auf die Felder gebracht wurden. In dem Dörfchen Conow entstand an dem Platz einer uralten Saline ein Kalibergwerk, in dem ab 1910 bis zu 400 Menschen arbeiteten. Hunderte Tonnen der nützlichen Mineralien holten sie täglich aus der Erde.
Die Bauern der umliegenden Dörfer konnten dieses Salz der Erde billig erwerben und schleppten Ladungen nach Hause, bei denen sich die Achsen ihrer Fuhrwerke bogen. Doch ab 1926 herrschte Ruhe am Conower Salzpfropfen, der sich schon zu der Zeit, als sich vor zehn Millionen Jahren die Alpen auffalteten, nach oben geschoben hatte. Deutschlands Kalikonzerne bereinigten den Markt. Die recht moderne Conower Anlage wurde geschlossen, das Bohrloch geflutet. Der Vorgang ähnelt durchaus den Ereignissen in Bischofferode anfangs der 1990er Jahre.
Heute weiß noch kaum jemand von alledem. Zwar gibt es noch einige Leute, die sich mit der Geschichte ihrer engeren Heimat beschäftigen, mehrere Webseiten zeugen davon, aber die Intensität früherer Zeiten ist nicht mehr da. Glück hat, wer Exemplare der Zeitschrift „Land und Leute“ ergattert, die der Deutsche Kulturbund von 1956 bis 1961 für den DDR-Kreis Ludwigslust herausgab und die in den späten 1980er Jahren noch einen Nachläufer hatte. Da schrieben kundige Leute wie Karl Scharnweber, der Chef des Museums auf der Dömitzer Festung, Bruno Theek, evangelischer Pfarrer, Kommunist und 1945 in Ludwigslust Kulturaktivist der ersten Stunde, Hans Joachim Bötefür, Lehrer und exzellenter Kenner seiner Gegend von Geschichte bis Flora und Fauna, Kurt Schack, als Kreisbodendenkmalpfleger auch „Scherben-Schack“ genannt, oder auch Kurd von Bülow, Geologie-Professor in Rostock, Mitglied der Naturforscher-Akademie „Leopoldina“ und nebenbei Experte für den Mond. Die Leser erfuhren über die frühe Geschichte der Griesen Gegend, als hier vor der Völkerwanderung die Langobarden siedelten, die später der Lombardei in Italien den Namen gaben und sich an diesem Siedlungsplatz von slawischen Stämmen ablösen ließen, die dann mit Feuer, Schwert und christlichem Kreuz von Deutschen unterworfen wurden, aber so beharrungskräftig waren, daß noch im 15. und 16. Jahrhundert ganze Dörfer „Wendisch“ sprachen.
Zu lesen war von wechselnden Herrschaften, Dannenberger Grafen, dänischen Königen, Parasitinnen im Nonnengewand aus dem Kloster Eldena, Wallenstein, dem König von Preußen und mecklenburgischen Herzögen, von Schmuggelpfaden ins nahe Brandenburg und Wilderern in den schier endlosen Wäldern, vom „Klump“ genannten Raseneisenstein, der in Wiesenböden wächst, früher zu Kanonenkugeln gegossen und später dann nur noch als Baumaterial für typische Häuser der Gegend (schwarze Steine, breite helle Fugen) verwendet wurde, von preußischen Werbern, die schon mal mit Ärger rechnen mußten, wenn sie einen großgewachsenen Landessohn zu den Langen Kerls verschleppen wollten, schließlich von der besonderen Breite des plattdeutschen Idioms in der Griesen Gegend, das man vielleicht am Beispiel von Frauen nachvollziehen kann, deren Männer Jürgen heißen, aber von ihren Gattinen Jüüüüüüüüürgäääääään gerufen werden.
Um einen nicht zu vergessen: Der berühmteste Sohn der Griesen Gegend heißt Johannes Gillhoff (1861 bis 1930). Er schrieb das Buch „Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer“, das ab 1917 ein Bestseller war, bis heute aber immer wieder neue Auflagen erlebt. Auf Missingsch, einer Mischung von Platt- und Hochdeutsch, verarbeitet der Lehrersohn aus Glaisin darin die Erlebnisse von Leuten aus der Griesen Gegend, die um 1870 nach den USA ausgewandert waren, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft sahen. Nach 1990 blieb in der Griesen Gegend vielen Menschen dieses Schicksal erspart – aber nur weil es heute Autos gibt, mit denen sie nach Ham-, Lüne- oder Ratzeburg zur Arbeit fahren, bis zu 1000 Kilometer in jeder Woche.
Juli 2015
PS 2024: Der Dömitzer Festung, sie steht seit 1975 unter Denkmalschutz, droht der Verfall. Das Kommandanten-Haus als wichtigstes Gebäude kann seit Jahren wegen baupolizeilicher Sperrung nicht von Besuchern betreten werden. Es beherbergte früher die Fritz-Reuter-Gedenkstätte und das Dömitzer Heimatmuseum, die jetzt in anderen, beengten Räumlichkeiten ihr Dasein fristen. Der Stadt Dömitz als Eigentümerin der Festung seit „Rückübertragung“ dieser „Immobilie“ 1990 fehlen die für eine Sanierung erforderlichen 10 Millionen Euro. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern lehnt einen Kauf des geschichtlich bedeutsamen Bauwerks ab und sieht sich auch ansonsten nicht in der Verantwortung.