Numa und die Fachwerkkirche

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Klobbicke

Von Holger Becker

„Der Durst nach Vorrecht kann nicht anders getötet werden, als ersäuft im Überfluß.“ Diesen nachvollziehbaren Gedanken schrieb Deutschlands großer Dramatiker Peter Hacks (1928 bis 2003) in seine Komödie „Numa“. Das 1971 verfaßte, 2002 überarbeitete und bisher noch niemals aufgeführte Stück fußt auf der Sage von Numa Pompilius, dem zweiten König Roms, der von 750 bis 672 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll. Nur widerwillig, so will es die Legende, folgte Numa nach dem Tode des Herrschers Romulus dem Ruf auf den Thron. Doch wurde er, der zuvor mit seiner Gattin in ländlicher Abgeschiedenheit lebte, zum weisen Regenten und Gesetzgeber.

Suche nach dem Dorf am Tiber
Hacks´ Stück spielt in einer „Sozialistischen Republik Italien“ und stellt keine geringere als die Frage, wie eine vollkommene Herrschaft beschaffen sein muß. Auch sein Numa kommt vom platten Lande her auf den Thron, wobei es sich in diesem Fall um den Sessel des herrschenden Parteichefs handelt. Zu Beginn des Stücks nämlich lebt der Titelheld als „Vorsteher einer Dörferschaft von drei Gemeinden“ in einem Ort namens Klobbicke, der angeblich am Tiber liegt.

Als der Reporter erstmals auf einem Wegweiser im Brandenburgischen den Namen „Klobbicke“ erblickte, wunderte er sich nicht. Denn in dieser landschaftlich anmutigen und waldreichen Ecke des Landkreises Barnim, begrenzt von Eberswalde im Norden, Biesenthal im Westen und Bad Freienwalde im Osten, tragen mehrere Orte Namen, die wenig Lieblichkeit verheißen. Gratze zum Beispiel oder Trampe – und eben Klobbicke. Woran das Ortsschild ihn erinnert hatte, bemerkte der Hacks-Leser erst, als er sich aus ganz anderen Gründen nochmals das Numa-Drama vornahm.

Die Neugier war geweckt: Wie sieht es aus im richtigen Klobbicke? An einem Sonnabendnachmittag im Frühherbst ging es auf Erkundungstour, und zwar mit dem Fahrrad. Ausgangspunkt war das Städtchen Werneuchen, das mit der Ostdeutschen Eisenbahngesellschaft von Berlin zum S-Bahn-Tarif erreicht werden kann. Vom Bahnhof Werneuchen nach Beiersdorf über Feldwege, von Beiersdorf nach Beerbaum auf einer alten Pflasterstraße, von Beerbaum nach Klobbicke wieder auf völlig unbefestigtem Grund – ein Cross- oder Mountainbike sollte es schon sein, mit dem man den Ausflug unternimmt. Es ist überhaupt ein Kennzeichen dieser Gegend, daß Radwege – von ein paar Fernverbindungen abgesehen – überwiegend fehlen, ganz anders als keine hundert Kilometer nördlich im nicht weniger dünn besiedelten Mecklenburg. Und Straßen, auf denen auch Autos fahren, sollten Radfahrer in Brandenburg besser meiden, wenn sie ihren Angehörigen die unnötigen Kosten eines Früh-ablebens ersparen wollen.

Breydin – kein Ort, nirgends
Klobbicke nun ist gar nicht leicht zu finden. Wenn man nämlich durch den Wald von Beerbaum kommt, versteckt es sich hinter Tuchen. Beide zusammen bilden das Doppeldorf Tuchen-Klobbicke, das wiederum zur Gemeinde Breydin gehört. Diese Kommune und vor allem ihr Name sind ein typisches Produkt der jüngsten Brandenburger Gemeindereform, die bei den Bürgern so unbeliebt wie  so erfolglos war, daß die im Land dauerregierende SPD jetzt schon die nächste plant.

Wie auch bei anderen freiwillig, zwangsweise oder unter „freiwilligem Zwang“ gebildeten Neugemeinden gibt es im Breydiner Gebiet kein Dorf, das den Gemeindenamen trägt. Vielmehr entstand das Ganze 1998 aus Tuchen-Klobbicke und dem zweieinhalb Kilometer entfernten Trampe. Breydin ist nur der Name einer Burgruine im Park von Trampe, wobei die Bezeichnung „Ruine“ angesichts der zu besichtigenden kläglichen Mauerreste an Hochstapelei grenzt. Wie andernorts auch – zum Beispiel in „Oberkrämer“, „Höhenland“ oder „Sydower Fließ“ – bekamen die Neubildungen einen Kunstnamen, meistens weil die Einwohner des einen Ortsteils nicht unter dem Namen des anderen Ortsteils leben wollten – und umgekehrt. Für Ortsunkundige ist es die Pest. Sie finden Breydin nicht, sondern können nur nach Tuchen-Klobbicke oder nach Trampe fahren (was sich übrigens wegen der hervorragenden Bäckerei direkt an der Dorfstraße lohnt). Und kein Einheimischer sagt: „Ick wohn´ in Breydin.“

Aber sei´s drum. In Tuchen-Klobbicke, das wir ab jetzt als uns interessierende Einheit betrachten, gibt es zweierlei Merkwürdigkeiten. Nummer eins: die Fachwerkkirche von Tuchen, Nummer zwei: die Gründerzeit-Bauernhäuser in Klobbicke.

Die Kirche von Tuchen ist nicht die einzige im Doppeldorf. Auch Klobbicke hat eine. Sie steht dort seit etwa 1280. Aber eigentlich handelt es sich nur um einen romanischen Dutzendbau in brutalistischer Feldsteinbauweise, wie man ihn in in vielen Brandenburger Dörfern findet. Soetwas wie die Tuchener Kirche aber sieht man selten in Deutschlands Nordosten. Auf dem Sockel eines verfallenen Gotteshauses, das noch früher als das von Klobbicke erbaut worden war, erhebt sich ihr zwischen 1711 und 1718 gezimmertes Fachwerk. Sie wirkt zart und filigran und scheint andauernd zu fragen, ob es denn richtig sei, sich über die anderen Häuser des Dorfes zu erheben.

Säkulare Auferstehung
Allerdings ist es ein Glücksfall, den zweiten Tuchener Kirchenbau noch heute erblicken zu können. Denn nach einer Instandsetzung Mitte des 19. Jahrhunderts verfiel das Kirchlein im Laufe der Jahrzehnte so stark, daß es – Gottes Wege sind unerforschlich – im Jahr 1990 von einem Windstoß umgeblasen wurde. Seine Auferstehung verdankt es Bürgern des Ortes, die sich um eine säkulare Lösung kümmerten, Fördermittel besorgten und seinen originalgetreuen Wiederaufbau mit Handwerkern aus der Region organisierten. Die Kirche kam so in weltliche Hand. Hausherr ist dort heute der Verein Fachwerkkirche Tuchen e.V., der Konzerte und Lesungen veranstaltet. Auch das Biesenthaler Standesamt betreibt dort eine Außenstelle zur Befriedigung Heiratswilliger.

Die Tuchenener Transformation der Verantwortung für das zentrale Gebäude des Dorfes übrigens ist im Osten Deutschlands kein Ausnahmefall. So vermerkte zu Weihnachten 2012 ein Leitartikler der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), in kaum einer Region Deutschlands würden die Kirchen so in Ehren gehalten wie in den Dörfern und Städten des Ostens. Wie kommt das in einer der „religionsfernsten Regionen weltweit“? Der FAZ-Mann konnte nicht so recht Antwort darauf geben. Aber wer weiß, vielleicht liegt es ja an einem Zuwachs an Gesittung, den die Bevölkerung dieser Region seit 1945 im Durchschnitt erfahren hat – ganz entgegen den regelmäßigen Mutmaßungen eines Exgenerals der Bundeswehr, der ein paar Jahre lang auch als Brandenburger Innenminister fungierte. Denn warum sollte der signifikant gestiegene Bildungsgrad der „kleinen Leute“ im Osten kulturell folgenlos bleiben?

Verschwundene Architektur
Aber wir müssen, wohlgemerkt, von einem durchschnittlichen Gesittungszuwachs sprechen. Schon wegen des unterschiedlichen Schicksals der bereits genannten Gründerzeit-Bauernhäuser auf Klobbicker Seite. Im Stil des Historismus nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 errichtet, spiegeln sie in vielen brandenburgischen Dörfern das Selbstbewußtsein und Repräsentationsbedürfnis wohlhabender Bauern wider. Mit ihren reichgegliederten Putz- und Stuckfassaden, Gesimsen und opulenten Außentreppen schließen sie meistens Höfe mit imposanten Stallungen und Scheunen zur Straßenfront ab. Wer die meistens in feinster Symmetrie errichteten Häuser zum ersten Mal sieht, ist erstaunt. Man erwartet sie einfach nicht auf dem Lande.

Klobbicke hat noch einige sehr schöne Exemplare dieser Gattung zu bieten, zeigt aber auch, wie weit man´s bringen kann, wenn menschliches Streben nach Schönheit so gar keine Rolle mehr spielen soll. Hatten Mangel an Baustoffen und Handwerkerterminen sowie seltsame Moden vor allem der 1970er Jahre schon früher manchem Gebäude zugesetzt, so verschwinden heute architektonische Wohlgefälligkeiten hinter Dämmplatten, gucken Fenster aus tiefen Höhlen, verschieben sich Proportionen, als seien sie die pure Unwichtigkeit. Der Betrachter wendet sich mit Grausen und fragt, wie dieses Land aussehen wird, wenn die Dämmdiktatoren  alles zu dem von ihnen gewünschten Ende gebracht haben werden. Schon heute besteht ja ein besonderer Wert des Urlaubs im Ausland – zum Beispiel in Skandinavien – darin, Auge und Hirn Erholung von den baulichen Zumutungen zuhause zu gönnen.

Eine gute Herrschaft jedenfalls, womit wir wieder bei Numa Pompilius und Peter Hacks angelangt wären, sieht anders aus. Auch dem Klobbicke, das nicht am Tiber liegt, ist sie zu gönnen. 

Januar 2013