Porter, Küßchen und ein Dompteur

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Grabow an der Elde

Von Holger Becker 

Grabower Stadtwappen

Er hat Mund, Nase und Augen, die dem Tanz dreier niedlicher Sterne zuschauen, der goldene Mond im Wappen des Städtchens Grabow im Südwesten Mecklenburgs. Niemand weiß, was das Bild bedeutet. Vielleicht ist es das bleibende Ergebnis einer Nacht, die Grabower Ratsherren im Jahre 1569 fröhlich durchzechten. Denn vor diesem Jahr zeigte das Grabower Schild den Heiligen Georg. Aber vom Drachentöter und anderen Heiligen hatten die reformierten Grabower offensichtlich die Nase voll und schossen sie buchstäblich auf den Mond. Den Wechsel des Wappens jedenfalls beschloß der Rat als weltliche Stadtregierung, die Kirche der Stadt behielt ihren Namen St. Georg bei. Die Nazis allerdings rehabilitierten den Krieger aus Kappadokien in der Zentraltürkei vollständig und hievten ihn 1940 wieder ins Wappen, wo er auf dem Drachen sitzen und eine Hakenkreuzfahne halten mußte – quasi als Kämpfer gegen alles, was den Braunen als das Böse galt: Kommunisten, Sozialdemokraten und andere, die anders dachten, Juden sowieso.

Doch als Hitler kaputt, brachte die Rote Armee den Grabowern ihren Mond wieder. Was schon recht merkwürdig ist: Denn es war Stalin, der im zweiten Weltkrieg den von Lenin abgeschafften St.-Georgs-Kult der zaristischen Armee de facto wieder aufleben ließ. Als „Gardeschleife“ flatterte das orange-schwarz gestreifte Georgsband ab 1943 an den Standarten besonders erfolgreicher Einheiten. Und auch der 1943 gestiftete „Ruhmesorden“ hing an einem Stück Stoff in Schwarz und Orange.

Was sich bei Kriegsende 1945 in der Stadt abspielte, deren historischer Kern auf einer Insel zwischen Armen des Flusses Elde liegt, war lange nicht so recht bekannt. Heute wissen wir: Mutige Grabower verhinderten das Schlimmste. Die Stadt wurde nicht verteidigt, die von Durchhaltemilitärs vorbereitete Sprengung der Eldebrücken fand nicht statt, weil vier Männer die Sprengladungen entfernten.

Sowjetische und US-amerikanische Soldaten begenen sich am 3. Mai 1945 in Grabow
Foto: National Archives, Washington, D.C., signature III-SC-181995

Aber wer befreite Grabow? Die US-Army, die seit dem 1. Mai mit drei Divisionsstäben  sieben Kilometer weiter nach Westen in Ludwigslust lag? Oder die Rote Armee, die sich der Stadt aus Richtung Osten näherte? Die Antwort heißt: beide. Es gibt Fotos, die ein Zusammentreffen sowjetischer und US-amerikanischer Soldaten am 3. Mai 1945 in Grabow zeigen. Anders als bei den weltweit bekannten Bildern vom Rendezvous beider Armeen am 25. April 1945 an der Elbe bei Torgau steckte keine Inszenierung dahinter. Die GI´s hätten nämlich gar nicht in Grabow sein dürfen. Denn erst drei Monate zuvor hatten die Alliierten auf der Konferenz von Jalta eine Linie gezogen, die von den jeweiligen Truppen nicht überschritten werden sollte. Der Strich auf der Landkarte verlief zwischen Ludwigslust und Grabow. Die US-Soldaten, der Erzählung nach von zwei Grabowern gerufen, die auf ihren Fahrrädern nach Ludwigslust gestrampelt waren, verließen deshalb sofort wieder die Stadt an der Elde.

Aus den Wochen, die dem folgten, gibt es Berichte über Brände, Vergewaltigungen, Selbstmorde, auch Plünderungen. An letzteren beteiligten sich auch Grabower Einwohner, denn zum Tausch gegen etwas Eßbares konnten die Leute alles gebrauchen, wie Gerda Kießling in ihrem Buch „Bilder aus dem Kopf“ erzählt. Geflohen aus Ostpreußen, erlebte die spätere Frau des Historikers und Literaturwissenschaftlers Wolfgang Kießling das Kriegsende zusammen mit Mutter und Geschwistern als Teenager in Grabow. Aus ihrem Bericht entnehmen wir auch: Ein Schicksal, wie es Demmin und andere Städte  weiter östlich erlitten, blieb Grabow erspart.  Die „Bunte Stadt an der Elde“ mit ihren vielen Fachwerkbauten stand nach dem Krieg äußerlich fast unversehrt da, so wie sie nach dem großen Brand von 1725 aufgebaut worden war – jenem Feuer, das fast ausnahmslos alle Wohnhäuser vernichtet hatte, dazu Schloß, Rathaus und Kirche.

Wer auf dem Lande wohnte oder auch in den anderen kleinen Städten der Umgebung, kam zu DDR-Zeiten gern zum Einkaufen nach Grabow. Als geradezu sagenhaft erwies sich der staatliche Buchladen, in dem Bücher in den Regalen standen, die es anderswo nicht einmal unter dem Ladentisch gab. Nicht zuletzt waren es gut geführte private Geschäfte, die das Publikum anzogen: das Möbelhaus Grönboldt zum Beispiel oder die Herrenausstatter Wendt und Zühlsdorff, die allesamt den Wechsel von Ulbricht zu Honecker mitsamt der von letzterem ausgelösten Verstaatlichungswelle bei Kleinunternehmen von 1972 überlebten.

Das Grabower Rathaus
Foto: Holger Becker

Manche Grabow-Besucher gingen erst zu Wendt und dann zu Zühlsdorff, andere hielten es umgekehrt. Was die meisten nicht wußten: Der Inhaber des einen Ladens trieb noch ganz andere Dinge als den Verkauf von Hosen, Jacken und Hemden. Werner Zühlsdorff erkundete über viele Jahre, woher die Namen für Äcker, Wiesen, Wälder, Heideflächen, Hügel, Täler und Tümpel seiner engeren  und etwas weiteren Heimat herrührten. Seine Flurnamenatlanten Südwestmecklenburgs erschienen 1970 bis 1972 und 1988 im Berliner Akademie-Verlag. Die Akademie der Wissenschaften der DDR verlieh ihm dafür die Leibniz-Medaille. Die gab es damals für herausragende Leistungen, die Leute außerhalb des Wissenschaftsbetriebs vollbrachten, so wie auch der Elektroinstallateur Heinz Meynhardt aus Burg, der das Verhalten von Wildschweinen studierte, oder der Bildhauer Franz Gruß, dessen Nachbildungen von Sauriern im sächsischen Kleinwelka und anderswo lange vor Steven Spielbergs „Jurassic Park“ bekannt wurden. Anders heute. Nun vergibt die Berlin-Brandenburgische Akademie ihre Leibnizmedaille vorzugsweise an Zeitgenossen mit Geld und Einfluß wie Hasso Plattner, Arend Oetker oder Friede Springer.

Man soll die kleinen Städte nicht unterschätzen, auch wenn sich mit ihnen Erinnerungen an öde Sonntagnachmittage mit trockenem Sandkuchen verbinden. Grabows Geschichte kennt eine Reihe interessanter Figuren. So zwei Herren, die hier im 17. und  18. Jahrhundert lebten und beide den gleichen Vor- wie Nachnamen trugen. Johann Mann (1635 bis 1714) und Johann Mann (1644 bis 1731). Die beiden waren Brüder. Der eine brachte es zum Bürgermeister, der andere zum Ratsherrn. Beide spielten 1701 ihre Rollen in einem Prozeß um angebliche Hexerei, dem letzten bekannten Verfahren dieser Art in Grabow. Als Angeklagter fungierte der Bauer Ernst Rogge aus dem nahen Dorf Karstädt, der lesen und schreiben konnte und der Wahrsagerei schuldig sein sollte. Unter der Folter gab Rogge zu, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Doch dann gelang es ihm, aus dem Gefängnis zu fliehen. Nie geklärt wurde, was es dabei mit einer Leiter auf sich hatte, die aus dem Besitz von Johann Mann, dem Älteren stammte. Doch die Leute munkelten wohl nicht zu unrecht, der Bürgermeister habe die Flucht des „Hexenmeisters“ begünstigt. Johann Mann, der Jüngere hingegen galt als dessen eifriger Verfolger. Rogge, der bald wieder festgenommen wurde, kam endgültig frei, nachdem er geschworen hatte, die Torturen als „wohlverdiente Züchtigung durch Gott“ anzunehmen. Dennoch beschwerte er sich über seine Behandlung durch das „Grabower Niedergericht“ und Johann Mann, den Jüngeren.

Heinrich (links) und Thomas Mann im Jahr 1902. Sie hatten Vorfahren in Grabow
Foto: Atelier Elvira, München

Der Schriftsteller Thomas Mann bezeichnete den Fall, über den ihn in den 1950er Jahren ein Text des Grabower Stadtarchivars informierte, als „hochinteressant“. Kein Wunder: Johann Mann, der Jüngere war direkter Vorfahr der Brüder Heinrich und Thomas Mann. In den „Buddenbrooks“ kommt er als „Ratsherr aus Grabau“ vor.

Der besagte Stadtarchivar und Gründer des 1952 eröffneten Heimatmuseums hieß Willy Havemann. Sein Familienname konnte in der Stadt kein Recht auf Exklusivität beanspruchen. Einer der Havemänner wurde sogar richtig berühmt, das heißt: auch im Ausland. Er hieß Richard Havemann (1875 bis 1943) und liebte die wilden Tiere. Nach einer Lehrzeit im Kölner Zoo arbeitete er, der eigentlich Landwirt werden sollte, als Tierinspektor im Zoologischen Garten von Berlin. Vor allem die jungen Wilden hatten es ihm angetan. Kleine Löwen, Leoparden und Hyänen zog er mit der Flasche und der Hilfe von Hundeammen auf und ließ sie bei sich zur Schule gehen. Was heißt: Er dressierte Raubtiere ohne Gewalt. „Havemanns Original-Raubtier-Schule“ wurde ab 1903 zum Knüller. Sie ging auf Tournee, erst im Auftrag des Berliner Zoos, dann als private Unternehmung. Mit seinen vierbeinigen Freunden begeisterte der Mann aus Grabow das Publikum in Zoos und Varieté-Theatern überall in Europa und dann in den USA, die ihn 1922 einbürgerten. Jenseits des Atlantiks arbeitete er auch für Filmstudios, die Tierfilme drehten. Einem exzentrischen Herrn namens Asa Candler jr. (1880 bis 1953) richtete er einen Privatzoo ein. Geld spielte keine Rolle. Das hatte seit 1892 in Massen eine braune Brause eingespielt, verkauft von der Coca Cola Company, deren Gründer Candlers Vater war.

Richard Havemann in seiner Raubtierschule

1936 kam Havemann noch einmal nach Europa, baute für den Münchner Zirkus Krone eine gemischte Gruppe mit neun Löwen und vier Tigern auf. Doch  kurz nach Kriegsbeginn 1939 fuhr er wieder in die USA. Bis zum 20. Februar 1943 arbeitete er in San Diego. Am Tag darauf meldete die „New York Times“ aus der zweitgrößten Stadt Kaliforniens, der Tiertrainer Richard Havemann sei in einem Krankenhaus verstorben, tödlich verletzt von einem dreijährigen Himalajabären. Das „Havemann-Center“, in dem man alles mögliche vom Brötchen bis zum Bestattungstermin bekommen kann, und die Havemannstraße in Berlin-Marzahn sind übrigens nicht nach dem Grabower Tierfreund benannt, sondern nach Robert Havemann (1910 bis 1982), jenem „DDR-Dissidenten“ (Der Spiegel), der seinem Sohn Florian erzählte, er habe „unter dem Schutz der Russen“ gestanden. Dessen Vater Hans Havemann (1887 bis 1985) war Richards Bruder.

Da wir schon bei dunkel gefärbten Getränken waren: Grabow ist der Ort, an dem  früher das beste Porter-Bier in Deutschland gebraut worden ist. Begonnen hatte damit 1853 Christian Rose (1803 bis 1871). Die Rose-Brauerei und ihr Starkbier blieben Markenzeichen der Stadt bis 1990. Dann wurde der Zapfhahn zugedreht, der VEB Rose-Brauerei dichtgemacht. Fast hätte solch Schicksal auch die berühmten „Grabower Küßchen“ (die mit dem Zipfel) getroffen, jene Gebilde aus süßem Schaum mit Kakao-Überzug, die früher „Negerküsse“ hießen. In der  zweiten Hälfte der 1990er Jahre stand der Betrieb kurz vor der Schließung, auch weil der neue Eigentümer fast sämtliche Küßchen-Arbeit von Robotern erledigen lassen wollte. Dann bestritt der italienische Süßwarengigant Ferrero (die mit dem Palmöl in der Nußcreme) dem Grabower Hersteller das Namensrecht. Doch unterlag der Riese im Küßchen-Krieg. Heute gehören Marke und Betrieb einem Konzern aus Holland, wo das Knausern Tradition hat. Der 2015 ausgehandelte Vertrag über den Lohn der 200 Beschäftigten, es sind überwiegend Frauen, liegt 17 Prozent unter dem Flächentarif.

Juni 2016