Rätselhafter Todesfall

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Vom Dieselmotor und seinem Erfinder

Von Holger Becker

Die „Selandia“, das erste Hochseeschiff mit Dieselantrieb, 1912 im Hafen von Bangkok. Bereits 1903 war in Rußland das allererste Dieselmotorschiff der Welt in Dienst gestellt worden. Es war ein Flußtanker mit dem Namen „Vandal“, der dem schwedisch-russischen Ölmagnaten Emanuel Nobel gehörte

Der 22. Februar 1912, was sagt er uns? Nichts. Kein Kind hört von diesem Datum in der Schule, kein Erwachsener liest davon in Abhandlungen über die Geschichte dieser Welt. Dennoch sähe unser Leben heute anders aus ohne das, was an jenem Tag in Kopenhagen geschah.

In der dänischen Hauptstadt legt am 22. Februar 1912 ein Schiff ab, wie es die Welt bis dahin nicht gesehen hat. Es hat weder Segel noch Dampfkessel, sondern in seinem Innern stampfen zwei Aggregate, die ihre Kraft von 2500 Pferdestärken aus der Verbrennung von Schweröl schöpfen. Die „Selandia“, 117,6 Meter lang und 16,2 Meter breit, mit einer Wasserverdrängung von 4964 Bruttoregistertonnen, ist das erste hochseefähige Schiff mit Dieselantrieb, gebaut auf Dänemarks größter Werft Burmeister & Wain. Sie begibt sich an diesem Tag auf ihre 22.000 Seemeilen lange Jungfernfahrt, bei der sie für die dänische East Asiatic Company Fracht und Passagiere bis nach Japan bringt.

Die Reise verläuft überwiegend problemlos, der neue Antrieb beweist seine Vorteile. Im Vergleich zu den noch vorherrschenden Dampfern mit ihren riesigen Kohlebunkern, Maschinenräumen und Heerscharen von Heizern braucht die „Selandia“ nur wenig Treibstoff und kaum Raum für die Motoren. Das schafft Platz für mehr Nutzlast. Dieselmotoren können einfach an- und abgeschaltet werden, während die Antriebsaggregate der Dampfschiffe ständig unter Dampf gehalten werden müssen. Und vor allem macht der Dieselmotor immer höhere Leistungen und damit immer größere und schnellere Schiffe möglich.

Wo es schon Kinos gibt, flimmern im Frühjahr 1912 Bilder von der Fahrt des äußerst manövrierfähigen „Schiffes ohne Dampf und Rauch“, wie man meint, über die Leinwände. Auch Großbritanniens Marineminister Winston Churchill (1874 bis 1965) wird zum „Selandia“-Fan. Als das Schiff auf der Fahrt nach Asien in London anlegt, kommt er an Bord, kriecht sogar in den Maschinenraum, um sich den Motor erklären zu lassen. Zwar beschmiert er sich den Mantel mit Öl, aber Churchill schwärmt, die „Selandia“ sei das „maritime Meisterwerk des Jahrhunderts“. Dänemark, „unser aller Lehrmeister“, habe nun die Führung auf See übernommen.

Als die „Selandia“ am 20. April im thailändischen Bangkok einläuft, steigt ein großes Fest. Da ist es noch keine Woche her, daß der Passagierdampfer „Titanic“, das damals größte Schiff der Welt, auf seiner Jungfernfahrt nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg im Nordatlantik untergegangen ist (Rudolf Diesel wollte eigentlich mit seiner Frau an Bord sein, hatte aber keine Tickets mehr bekommen). Eine geradezu symbolische Katastrophe mit 1495 Todesopfern. Das Rennen als Schiffsantrieb wird der Dieselmotor machen. Er löst die Dampfmaschine, wie sie noch auf der „Titanic“ zum Einsatz gekommen war, zum allergrößten Teil ab.

Briefmarke aus Madagaskar von 1993. Es bibt viele Briefmarkenmotive aus Ländern der Dritten Welt, die Rudolf Diesel zeigen, meistens zusammen mit Diesellokomotiven, die für den Transport in diesen Ländern eine enorme Rolle spielen. Weltweit ist nur rund ein Viertel der Bahnstrecken elektrifiziert. In Deutschland sind es 52 Prozent. Der Elektrifizierungsanteils hätte wahrscheinlich noch niedriger gelegen, wären nicht seit 1994 über 5000 Kilometer des heute noch 41.896 Kilometer langen deutschen Schienennetzes stillgelegt worden, was insbesondere in der zehnjährigen Amtszeit von Hartmut Mehdorn als Chef der Deutschen Bahn geschah

Der Motor der „Selandia“ wird so zum Motor dessen, was „Globalisierung“ zu nennen wir uns angewöhnt haben. Denn das Motorschiff beschleunigt den Austausch der Waren auf dem Weltmarkt. Und es vergrößert den Umfang dieses Austauschs in enormer Weise. Rund 90 Prozent aller Fernhandelsgüter gelangen heute auf dem Seeweg von A nach B, das heißt auf Schiffen, die sich mit Dieselmotoren fortbewegen. Um die Transportkosten zu senken, laufen immer größere Pötte vom Stapel – wie zum Beispiel die fast 400 Meter lange „Madrid Maersk“ der dänischen Maersk-Reederei, die als eines der weltgrößten Containerschiffe ihren Schub von einem 80.707 PS-Dieselmotor erhält.

Andere massenhaft einsetzbare Antriebe als der von Rudolf Diesel (1858 bis 1913) im Jahre 1892 zum Patent angemeldete Selbstzünder sind für den Schiffsbau derzeit nicht in Sicht, auch wenn sie irgendwann kommen werden. Schiffe mit Dieselmotor bleiben auf absehbare Zeit die kostengünstigsten und der Umwelt am freundlichsten Transportmittel, auch wenn sie Unmengen an Abgasen in die Luft pusten. So geben allein die 15 größten Seeschiffe dieser Erde laut Angaben des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) eine größere Menge an Schwefeldioxid ab als alle 1,2 Milliarden PKW weltweit. Aber auch Stickoxide, die ja derzeit im Fokus der Diesel-Diskussion stehen, verlassen in Massen die Abgasrohre der Schiffsmotore. Ein Kreuzfahrt-Schiff von rund 200 Meter Länge und mit einem 49.000 PS-Aggregat schleudert allein so viel an Stickoxiden in die Luft wie 412.351 PKW, die nur die Euro-Schadstoffnorm 4 erfüllen.

Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn solch ein Gigant massentouristischer Vergnügungszuteilung in einen Hafen einläuft. Zum Beispiel in Rostock, dessen Einwohner rund 86.000 PKW besitzen. 190 Mal steuern Kreuzfahrtschiffe im Jahr 2017 die Hansestadt an. Das heißt: Eigentlich ist immer eines da. Und an der Meßstelle Hohe Düne, wo die Kreuzfahrtschiffe aus der Ostsee einlaufen, ist der Gehalt an Stickoxiden an vielen Tagen kaum geringer als an Meßpunkten in der zehn Kilometer entfernten autoverkehrsreichen Rostocker Innenstadt.

Tja, die Seeluft. Man sollte sie nicht in Hafenstädten genießen wollen. Oder eben auf Kreuzfahrtschiffen selbst. Deren Eigner verweigern es zwar regelmäßig, die Schadstoffemissionen an Bord zu ermitteln. Doch haben verdeckte Messungen eines französischen Fernsehteams auf einem dieser Schiffe eine Belastung mit ultrafeinen Partikeln ergeben, die den Richtwert für saubere Luft um das 200fache übersteigt. Die Daten bei den Stickoxiden dürften kaum weniger spektakulär ausfallen. Gefährlicher ist es allenfalls in der eigenen Wohnung, falls in der Küche ein Gasherd steht. Denn da können beim Kochen bis zu 4000 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Raumluft auftreten. Zum Vergleich: der Grenzwert für die Außenluft liegt bei 200 Mikrogramm pro Kubikmeter.

Wer über all das nachdenkt, wird sich von der gegenwärtigen Hysterie um Diesel-Autos, die Deutschlands Medien in größter Einmütigkeit steigern, nicht anstecken lassen. Ja, VW, Daimler & Co. haben unter Mithilfe von Bosch betrogen. Was aber schon die Spatzen von den Dächern pfiffen, bevor das International Council on Clean Transportation – eine Organisation, die überwiegend von Stiftungen der Gründer des IT-Konzerns Hewlett-Packard finanziert wird – 2015 den „VW-Abgasskandal“ auslöste, ausgerechnet in den USA, deren Autoindustrie sich des Entwickelns kraftstoffsparender Diesel-PKW so mannhaft zu enthalten verstand. Wozu denn auch? Der Preis für den Liter Superbenzin liegt dort – im August 2017! – bei 60 Eurocent.

Glaubhaft wären die nun so laut vorgebrachten Besorgnisse um menschliche Gesundheit und natürliche Umwelt ja, wenn eine öffentliche Debatte darüber ausbräche, wie der ausgeweitete Individualverkehr vermieden, das Schienennetz für den Fern- und Nahverkehr statt der Autobahnen massiv ausgebaut und Warentransporte endlich, wo möglich, vom LKW auf den Güterzug verlagert werden können. Davon ist nichts zu hören, nichts zu sehen, nichts zu lesen. Also wird es eher um Marktanteile der heutigen und künftigen Autoproduzenten gehen.

Elektrisch angetriebene Autos, die uns als Weltenretter angepriesen werden, verhalten sich, in der Gesamtbilanz ihres Lebens, zur Umwelt und den Mitmenschen bisher kaum freundlicher als Autos mit Verbrennungsmotoren. Sie herzustellen, das gilt vor allem für die Lithium-Ionen-Batterien, braucht wesentlich mehr Energie als die Produktion eines Klassikers mit Verbrennungsmotor. Mehr als 150.000 Kilometer kann ein heutiger Mittelklasse-Diesel fahren, bis er ökobilanztechnisch an dem Punkt anlangt, an dem das Elektroauto ihn einholt.

Und überhaupt: Auf die derzeit in Elektroautos verbauten Akkumulatoren zu setzen, kann ein Irrweg sein – nicht nur wegen der konkurrierenden Brennstoffzellen-Technik. Würde Deutschland 10 Millionen Elektroautos mit Lithium-Ionen-Akkus bauen, brauchte es dazu nach Angaben des Heidelberger Instituts für Energie und Umwelt 383 Prozent der gegenwärtigen weltweiten Lithiumproduktion. Und wenn im Jahr 2030 weltweit nur noch Elektroautos fahren sollten, würde sich der Verbrauch dieses Rohstoffs verhundertfachen. Ihn zu gewinnen, schluckt ungeheuer viel Wasser. Gerade in den Regionen Südamerikas, wo die größten Vorkommen lagern, greift das schon heute das Grundwasser an und entzieht vielen Menschen die Lebensgrundlage. Man könnte auch sagen: Die wohlhabend-elektromobilen Bewohner teurer deutscher Innenstadtquartiere verbessern die Qualität ihrer Umgebungsluft auf Kosten der Lebensperspektiven argentinischer, bolivianischer und chilenischer Bauern.

Wahrscheinlich ist eine Erfindung mit der Zukunftsmacht, wie sie der Dieselmotor hatte, für das 21. Jahrhundert noch nicht sichtbar. Um das Andenken an den Ingenieur Rudolf Diesel ist es jedenfalls schade. Er hat die angewiderten Gesichter nicht verdient, die Talkshowmoderatoren und Nachrichtensprecher aufsetzen, wenn sie seinen Namen aussprechen. Diesel war ein Idealist. Ihn, der in Paris als Sohn von Emigranten geboren wurde, die nach der Revolution von 1848 aus Deutschland hatten fliehen müssen, dauerte das Los der Handwerker, zu denen auch sein Vater gehörte. Mit der großen Industrie, die gewaltige Dampfmaschinen einsetzte, konnten die kleinen Krauter im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mithalten. Deshalb wollte Diesel einen Motor bauen, den sie in ihren Werkstätten einsetzen konnten. Der sollte vergleichsweise klein und sicher sein (Dampfmaschinen explodierten allenthalben und forderten in den Fabriken viele Todesopfer), auch verschiedene Kraftstoffe akzeptieren. Die technische Lösung gelang ihm, sein politökonomisches Kalkül blieb Illusion – so wie auch seine 1903 in Buchform vorgelegte Theorie des „Solidarismus“, ein mit der Genossenschaftsidee verwandter Entwurf einer wirtschaftlichen Ordnung, die den Gegensatz von Kapital und Arbeit überwinden sollte.

Diesel, mit seinem Patent selbst reich geworden, blieb ein Freund der kleinen Leute. Deshalb hielt er nichts vom Krieg. Nach dem Erfolg der „Selandia“, an deren Motor er selbst zusammen mit dem Chefkonstrukteur und späteren Direktor von Burmeister & Wain Ivar Knudsen (1861 bis 1920) getüftelt hatte, wollte Kaiser Wilhelm II. Dieselmotoren für seine Kriegsschiffe haben. Dem Erfinder ging das gegen den Strich, er konnte es aber nicht verhindern. Aber wenigstens sollte Waffengleichheit herrschen und der Diesel-Motor nicht nur der deutschen Kriegsmarine zur Verfügung stehen. Diesel, der als Jugendlicher zeitweise in London gelebt hatte, vergab Lizenzen für seinen Motor auch nach England.

Dorthin bricht er am 29. September 1913 von Antwerpen aus mit dem deutschen Postschiff „Dresden“ auf. In London soll es die Besichtigung einer neuen Motorenfabrik, eine Gesellschafterversammlung und eventuell auch einen Empfang bei König IV. geben. Doch Diesel kommt nicht an. Den Abend noch hat er mit zwei Begleitern bei vorzüglicher Laune im Bordrestaurant verbracht. Doch am Morgen ist seine Kabine leer. Die Besatzung eines niederländischen Bootes findet Rudolf Diesels Leiche am 13. Oktober 1913 im Ärmelkanal.

Das Rätsel um den Tod des genialen Ingenieurs und Pazifisten ist bis heute ungelöst. Ein Unfall scheidet mit ziemlicher Sicherheit aus. Denn die See im Ärmelkanal war an dem spätsommerlichen Tag der Überfahrt ruhig und die Reling der „Dresden“ hoch. Auch einen Selbstmord wegen unzweifelhaft ernster finanzieller Probleme hält der Schriftsteller Viktor Glass in seiner romanhaften Biographie „Diesel“ für unwahrscheinlich. Diesel hatte genug Freunde und Partner, die ihm aus der Patsche helfen konnten, und wegen der Lizenzen auf seinen Motor überreiche Möglichkeiten für den künftigen Zufluß von Geldern. Glass plädiert auf Mord und verdächtigt den Geheimdienst des kaiserlichen Deutschland dieser ruchlosen Tat. Immerhin: Diesel hatte die deutschen Pläne, die kaiserliche Marine mit Hilfe seines Motors gegenüber der Seemacht England in die Vorhand zu bringen, unterlaufen.

Die andere These: John D. Rockefeller steckte hinter Diesels Tod. Der US-amerikanische Ölmagnat hatte den Ingenieur seinen „Todfeind“ genannt. Denn Diesels Motor konnte auch ohne das Petroleum von Rockefellers Standard Oil laufen, in jedem Fall verbrauchte er zu wenig davon. Außerdem machte der Deutsche Geschäfte mit Rockefellers russischen Konkurrenzunternehmen „Branobel“, das Emanuel Nobel gehörte, dem Neffen des schwedischen Dynamiterfinders und Preisauslobers Alfred Nobel. Starke Gründe also für Sanktionen.

Victor Glass: Diesel. Roman. Rotbuch-Verlag, Berlin 2008, 352 Seiten, derzeit 2,49 Euro

Im Videokanal Youtube zu finden: die Arte-Dokumentation „Die Selandia und der Tod von Rudolf Diesel“

September 2017