Von Residenz und Pestilenz

Ausflüge in die kleine und die große Welt: Schwerin, die Zweite

Von Holger Becker

„Residenzstadt Schwerin“ – so steht es in weißer Schrift auf braunem Grund, darüber die Silhouette des Schweriner Schlosses als Merkzeichen für das bekannteste Bauwerk des Ortes. Warum nicht „Schwerin – Stadt der sieben Seen“? Wer hat schon so viele Strände vor der Tür? Oder einfach „Schwerin“, ohne was dazu. Wer was ist, braucht keine Beinamen.

Mit dem Rückgriff auf ihre Zeit als „Residenzstadt“ – diese endete am 14. November 1918 – stellt sich die Landeshauptstadt Schwerin in eine Reihe mit, sagen wir, etwas weniger bedeutsamen Ortschaften wie Greiz oder Celle, die den Autobahnbenutzer ebenfalls mit dem Hinweis zu locken versuchen, Wohn- und Regierungssitz von Fürsten gewesen zu sein. Lebt Deutschlands Bürgertum so seine Minderwertigkeitskomplexe aus? Nie eine Revolution zuende geführt, meistens Verrat geübt, sogar einen Hitler an die Macht gelassen und immer in schwanzwedelnder Unterwürfigkeit auf die Fürsten und den Adel geschielt…?

Mit Bauern, Bürgern und Pastoren gegen die Junker: Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin

„Residenzstadt“, das soll an vermeintlich besonnte Zeiten fürstlicher Herrschaft erinnern, an vermuteten Glanz und vermeintliche Gloria höfischen Lebens. Ja, soetwas gab es auch. Aber Schwerin ist nicht Dresden und Deutschland nicht Frankreich. Und beim Residenztrara vergißt sich schnell, was es bedeutete, wenn die Landesherren und deren Behörden sich ihre Nester in der Kommune gebaut hatten. Nicht der Rat und die Bürgerschaft lenkten die Geschicke der Stadt, sondern der Fürst spielte auch den Bürgermeister. So traten im Schwerin des 16. Jahrhunderts mehrere herzogliche Polizeiordnungen nacheinander an die Stelle des alten Schweriner Gewohnheitsrechts. Der Magistrat verlor peu a peu seine Selbständigkeit. Herzog Christian Ludwig I., genannt auch Christian Louis (1623 bis 1692), verbot den Ratsherren 1690 gar alles „Räsonieren, Quästionieren und Judicieren“. War das so schön?

In Schwerin, dessen Name aus dem Slawischen kommt und so viel wie „Tierort“ bedeutet, residierten die Herzöge von Mecklenburg-Schwerin. Nach dem Wiener Kongreß 1815 durften sie sich Großherzöge nennen. So wie ihre Verwandten in Neustrelitz. Die herrschten über die andere Ecke des Landes, Mecklenburg-Strelitz. Mecklenburg war schon seit 1701 ein Staat in zwei Teilen. Zu vor hatte es noch mehr Mecklenburgs gegeben. Aber diese verwickelte Geschichte ersparen wir uns. Wichtig ist: Mecklenburgs Herzöge, Abkömmlinge des einzigen slawischen Fürstengeschlechtes in Deutschland, haben ihre geschichtlichen Aufgaben nicht gelöst und das auch fast nie versucht.

So krätzig sie zu den städtischen Bürgern oder den Bauern und Pächtern auf ihren landesherrlichen Domänen sein konnten – gegenüber den adligen Besitzern der sogenannten Rittergüter behielten sie die Samthandschuhe an. In den mecklenburgischen Landen übten deshalb recht eigentlich diese Leute, auch Junker genannt, die Herrschaft aus. Sie, die sich seit dem 16. Jahrhundert mit Gewalt, List und rechtsbrechender Tücke riesige Massen von Land ehemals freier Bauern unter den Nagel gerissen hatten, zahlten erst keine und später lachhaft niedrige Steuern. Dafür konnten sie auf ihren Gütern schalten und walten wie sie wollten. Aus den Abgaben der Bauern machten sie Frondienste, aus ehemals nur sich selbst gehörenden Menschen leibeigene Untertanen. Ansonsten nämlich wären die ihnen in Scharen weggelaufen, wie das Mitte des 18. Jahrhunderts geschah, als Rußlands neue Zarin Katharina II. mecklenburgische Bauern in der Gegend von Astrachan an der Wolga nahe dem Kaspischen Meer ansiedeln ließ.

Die Junker übten sich über Jahrhunderte darin, die Geißel Mecklenburgs zu sein. Auf ihren Klitschen fungierten sie als Gerichtsherren und durften dort – anders als in den anderen deutschen Fürstentümern – sogar über Leben und Tod ihrer Untertanen entscheiden. Diese mit dem Polizeirecht einhergehende „Patrimonialgerichtsbarkeit“ endete im Mecklenburgischen erst 1879, nachdem sich Bismarcks Deutsches Reich 1877 ein Gerichtsverfassungsgesetz gegeben hatte. Andernorts war dieser Spuk längst verflogen, so in den vom großen Modernisierer Napoleon Bonaparte (1769 bis 1821) konstruierten Rheinbund-Staaten oder in Bayern als Folge der 1848er Revolution.

Jeder Beschreibung spotteten die Zustände in den Schulen der Rittergüter. Schlecht oder gar nicht ausgebildete und wie Tagelöhner bezahlte Lehrer mußten mit ihren Familien nicht selten in einem Raum hausen, der auch als Klassenzimmer diente. Und wenn ihm der „Schaulmeister“ nicht paßte, konnte der Gutsbesitzer den Lehrer ganz einfach entlassen. Zum Beispiel wenn der den Kindern zu viel beibrachte. Mehr als eine das Untertanenbewußtsein stärkende religiöse Unterweisung, ein bißchen Lesen, ein bißchen Rechnen sollte es nicht sein. Sonst taugten die Leute nicht für die Schufterei auf den Feldern und in den Ställen.

Briefmarke zur Bodenreform in Mecklenburg-Vorpommern 1945. Der Entwurf stammt von dem Ludwigsluster Graphiker Herbert Bartolomäus (1910 bis 1973)

Mecklenburgs Ritterschaft, also die Eigentümer jener Güter, mit deren Besitz auch die Mitgliedschaft im Landtag verbunden war, hatte sich seit der Reformation zur wichtigsten politischen Kraft im Lande aufgeschwungen. Zusammen mit den Städten entschieden sie über die Bewilligung von Steuern, was die formalen Landesherrn in Schwerin und Strelitz in Abhängigkeit hielt und zu vergleichsweise armen Schluckern machte.. Und diesen ständestaatlichen Zustand – sie nannten es ihre „althergebrachten Rechte“ – verteidigten die Junker mit Zähnen und Klauen. Sie sorgten dafür, den Landstrich zum Extremfall der Rückständigkeit werden zu lassen. Rechtlich währte diese mittelalterlich-feudale Ständeherrschaft bis 1918, faktisch in mancherlei Hinsicht bis 1945. Und es kann keine Rede sein, „die mecklenburgische Ritterschaft (habe) jemals etwas Verdienstvolles für das Land und seine Bewohner getan“, wie 1926 der Amtshauptmann von Hagenow, Wolfgang Scharenberg, in seiner Broschüre „Die Sünden der mecklenburgischen Ritterschaft“ feststellte. Er wurde dafür recht bald aus seinem Amt entfernt.

Historisch wären Mecklenburgs Herzöge zuständig gewesen, mehr Absolutismus zu wagen, den Ständen ihre Macht zu entreißen und Raum für den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des Bürgertums zu schaffen, so wie König Ludwig XIV. (1638 bis 1715) das in Frankreich ganz Europa vorexerzierte. Aber das mecklenburgische Fürstengeschlecht brachte nur eine Figur hervor, die es ernstlich versuchte, die Gewaltherrschaft der pestilenziösen Junker-Clique zu beenden.

Karl Leopold (1678 bis 1747), so hieß der Fürst, der aus der Reihe tanzte. Im Sommer 1713 bestieg er den Schweriner Thron. Da lief immer noch der Große Nordische Krieg um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Auch in Mecklenburg tobten die Kämpfe. Dänische, schwedische, sächsische und preußische Truppen zogen durchs Land. Um soetwas künftig zu verhindern, forderte Karl Leopold von den Ständen die Bewilligung zusätzlicher Steuermittel für ein stehendes Heer. Es kam zum Streit, in dem Karl Leopold rigoros Geld bei den Junkern eintrieb. Gleichzeitig versuchte er die Leibeigenschaft der Bauern zu beenden, die er zu Erbpächtern auf ihren Höfen machen wollte. Aus ihren Frondiensten sollten Geldleistungen werden. Moderne Gedanken, die bei der Ritterschaft auf erbitterten Widerstand stießen.

Zu seinen Schachzügen gehörte 1716 die Heirat einer Großnichte des russischen Zaren Peter I. (1672 bis 1725), auch Peter der Große genannt. Dem Vertrag über die Ehe mit dieser Katarina Iwanowna (1691 bis 1733) wurde ein Bündnisvertrag mit Rußland beigesellt. 50.000 russische Soldaten quartierten sich bald auf den Rittergütern ein. Bis auf wenige Ausnahmen gab der Adel von Mecklenburg-Schwerin schnell Fersengeld. Überwiegnd floh er ins heutige Niedersachsen. Selbstverständlich machten die Junker Rabatz und verklagten Karl Leopold ob seiner unerhörten Taten beim Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Das war zu jener Zeit der Habsburger Karl VI. (1685 bis 1740). Der verhängte gegen den Mecklenburger die Reichsexekution. Soetwas gab es recht selten in der deutschen Geschichte, so etwa 1923 als Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD, 1871 bis 1925) Truppen gegen die rechtmäßig gewählten Arbeiterregierungen in Sachen und Thüringen schickte.

1719 jedenfalls marschierten hannöversche und braunschweigische Soldaten ein in Schwerin. Karl Leopold floh erst nach Berlin, ging dann nach Dömitz an der Elbe, dann wiederum ins Ausland. Von Rostock aus regierte eine kaiserliche Kommission das Land und betrieb die Restitution der Rittergüter. Der Reichshofrat in Wien setzte Karl Leopold 1728 als Herzog ab. Doch der gab nicht auf. Seine adelsfeindliche Politik hatte ihn bei vielen leibeigenen Bauern, den Bürgern kleiner Städte und den Landgeistlichen populär werden lassen. Als er 1733 versuchte, sein Fürstentum mit einer kleinen Streitmacht zurückzuerobern, schlossen sich ihm Tausende kleiner Leute an, die meistens keine anderen Waffen als Sensen und Dreschflegel besaßen

Die Gutsbesitzer büxten schon wieder aus. Und Karl Leopold bezog noch einmal das Schweriner Schloß. Doch der „mecklenburgische Bauernkrieg“ währte nur drei Wochen, dann hatten kaiserliche Truppen diesen merkwürdigen Aufruhr beendet, an dessen Spitze ein Landesfürst stand. Karl Leopold selbst konnte sich noch bis September 1735 in der Festung Schwerin halten, bis er vor den Belagerern fliehen mußte. Als kaiserlicher Kommissar und dann herzoglicher Nachfolger agierte sein Bruder Christian Ludwig II. (1683 bis 1756), der mit den Ständen 1755 den „Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich“ abschloß. Diese ständische Verfassung blieb gültig bis zur Novemberrevolution 1918, festigte die Vorherrschaft der Rittergutsbesitzer und garantierte Mecklenburgs Hinterwäldlertum. Etwas Gutes läßt sich über Christian Ludwig II. natürlich auch berichten. Er gab der schönen Stadt Ludwigslust 35 Kilometer südlich von Schwerin seinen Namen. Ludwigslusts bester Fleischer hat deshalb nach ihm eine Wurst benannt, die zu probieren sich lohnt.

Die Ehre, ein Wurstpatron zu sein, blieb Karl Leopold bisher verwehrt. Die Geschichtsschreiber haben an ihm kaum ein gutes Haar gelassen: „autokratisch“, „starrköpfig“, „brutal“, „despotisch“, „eigensinnig“, „gewalttätig“ sind die beliebtesten Adjektive. Die meisten Sympathien für ihn hat nach unseren Überblick der Schriftsteller und Historiker Hans Bernitt (1899 bis 1954) aufgebracht, dessen Buch „Vom alten und vom neuen Mecklenburg“ 1954 im Schweriner Petermänken-Verlag erschien. Allerdings kritisiert Bernitt, Karl Leopold sei es nicht um das Wohlergehen der „kleinen Leute“ gegangen, sondern nur um „seine persönlichen Zwecke“. Aber hätte man von einem Fürsten jener Zeit Altruismus und Volksverbundenheit erwarten dürfen? Es ging darum, Mecklenburg in die Neuzeit zu führen. Dafür war der Absolutismus als politisches Herrschaftsmodell der in Europa bereits erprobte Weg, auf dem es sich in Richtung moderner Staatsformen schreiten ließ. Weg mußte das alte buntscheckig-anarchische Stände-System, in dem Adel, Klerus und Städte feudale Vorrechte besaßen und hoheitliche Funktionen ausübten, mit denen sie zunehmend die wirtschaftliche Entwicklung bremsten.

Karl Leopold hat sich daran versucht und sicher einiges falsch gemacht. So legte er sich als erstes mit den Rostocker Ratsherren an, um deren Privilegien zu beschneiden. Statt nach dem Erfolgsmotto „Teile und herrsche“ zu verfahren, verschweißte er die Interessen der Oberschicht von Mecklenburgs reichster Stadt mit denen der Ritterschaft, so daß sie die Herrschaft der Stände inbrünstig gemeinsam verteidigten. Es heißt auch, die Geldbeträge, mit denen sich die Bauern aus der Fronknechtschaft hätten herauskaufen können, seien zu hoch gewesen, so daß die Sache nicht funktionierte. Mag sein. Aber eines ist offensichtlich: Beliebt bei denen einfachen Leuten war dieser Mann, weil er den Junkern aufs Maul gab. Grund genug, ihn als Bösewicht geschichtlich in den Schatten zu stellen und als Schuldigen an „Vorgängen, wie sie in unserem stillen Lande unerhört waren und auch später nicht wieder erlebt wurden“. Letzteres schrieb der Archivrat Hans Witte (1867 bis 1945) im zweiten Band seiner vielgelesenen „Mecklenburgischen Geschichte“, erschienen bei Hinstorff 1913. Daß Witte bald zu den führenden Nazi-Propagandisten in Mecklenburg gehören sollte, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Bernhard Quandt mit Bauern in Bröbberow in der Nähe von Rostock am 30. Mai 1958. Das Foto stammt von Wolf Spillner (1936 bis 2021), der später als Naturfotograf und Schriftsteller bekannt wurde. Spillner verstarb am 28. November 2021 in Ludwigslust
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-55841-0001 / CC-BY-SA 3.0

Dem Berichterstatter begegnete Karl Leopold das erste Mal 1985 in langen Gesprächen mit Bernhard Quandt (1903 bis 1999), einem Mann, der zu den wichtigsten Schwerinern der Neuzeit gehört, auch wenn er in Rostock geboren wurde und aufwuchs in Gielow bei Malchin. Ein größeres Porträt für die Zeitung sollte entstehen, weshalb wir in seiner Schweriner Wohnung zusammensaßen. Wenn es jemandem gab, in dem sich das Ende jahrhundertelanger junkerlicher Herrschaft in Mecklenburg personifizierte, dann war es Quandt. Als Kommunist war er elf Jahre lang in den Nazi-Konzentrationslagern von Sachsenhausen und Dachau gequält worden. Nach der Befreiung amtierte er als Landrat in Güstrow und begann im Herbst 1945 mit den praktischen Maßnahmen der verkündeten Bodenreform. Im Dörfchen Bredentin schlug er zusammen mit vier Geistlichen, evangelischen und katholischen, die ersten Pflöcke bei der Aufteilung des Gutsländereien ein. Die Fotos davon sind zu Bildikonen geworden. Sie zeigen das tatsächliche Ende der speziellen mecklenburgischen Misere.

Bernhard Quandt, oft „Vater der Bodenreform“ genannt, sollte dann nacheinander Landwirtschaftsminister und Ministerpräsident Mecklenburgs werden (so hieß das Land ab 1947 einschließlich Vorpommerns bis zu seiner Auflösung 1952) und schließlich Chef der SED-Bezirksleitung. 1985 empfahl er dem jungen Journalisten, sich unbedingt mit dem „Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich“ von 1755 zu befassen und dem, was ihm vorausging. Dafür reichte damals der Platz nicht. Es geriet aber nicht in Vergessenheit. Bis zum 120. Geburtstag Bernhard Quandts am 14. April 2023 ist es übrigens nicht mehr weit.

März 2022