Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt
Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt Ausflüge in die kleine und die große Welt: Von Präfaktischem und Postfaktischem
Von Holger Becker
„Wag the Dog“ – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Haben Sie diesen Film gesehen? Robert de Niro, der Unvergleichliche, spielt da einen schlitzohrigen Graumelierten namens Conrad Brean, der für die politische Führung seines Landes ein peinliches Problem löst. Der Präsident der USA nämlich hat eine minderjährige Schülerin sexuell belästigt, was ausgerechnet herauskommt, als der Kampf um die Wieder- oder Nichtwiederwahl der Number One tobt. Was macht Mr. Brean, der Troubleshooter? Er erfindet zur Ablenkung der Öffentlichkeit einen Krieg gegen Albanien, für dessen fernsehgerechte Inszenierung der Filmproduzent Stanley Motts sorgt, verkörpert vom großartigen Dustin Hoffman.
Der fiktive Krieg wird zu einem wirklichen. Und zum Schluß muß Motts sterben, weil er den Ruhm als präsidentenrettender PR-Stratege einheimsen und also das Geheimnis um den „Albanien-Krieg“ nicht für sich behalten will. Zuvor aber hatte er noch eine rührselige Kampagne um den angeblich verschollenen Sergeanten William Schumann („Old Shoe“) in Szene gesetzt. Kurz vor dem Wahltag, der für den Präsidenten erfolgreich endet, melden die Medien, „Old Shoe“ sei bei seiner Befreiung aus der Gefangenschaft beim islamistischen albanischen Feind getötet worden. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Mann um einen Sexualverbrecher, den Brean und Motts aus dem Gefängnis holen. Aber ein Tankstellenpächter erschießt den Helden-Darsteller auf dem Weg zu den Dreharbeiten, weil der Sträfling dessen Tochter belästigt.
Das Bemerkenswerte an dem Streifen: Er stellt zu großen Teilen ein präfaktisches Werk dar. Denn im Nachhinein verlieh die Wirklichkeit der filmischen Fiktion faktische Qualitäten. „Wag the Dog“, für den Regisseur Barry Levinson 1998 auf der Berlinale einen Silber-Bären bekam, entstand 1997. Am 17. Januar 1998 berichtete die „Washington Post“ über Vorwürfe, der US-Präsident William (Bill) Clinton, habe es im Weißen Haus mit der Praktikantin Monica Lewinsky getrieben. Recht bald schwebte über Clinton, der die Affäre öffentlich leugnete, das Damoklesschwert der Amtsenthebung.
Was tat die Number One der USA? Sie zettelte einen Krieg gegen einen Feind an, der nicht wirklich existierte, aber geschaffen wurde, weil man ihn brauchte. Am 21. August 1998 starteten von sieben US-Kriegsschiffen ca. 80 Marschflugkörper. Ein Teil davon beschoß Objekte in Afghanistan, in denen angeblich Islamistenführer einen Anschlag auf US-Amerikaner besprachen, der andere zertrümmerte eine Pharma-Fabrik im Sudan, die vorgeblich Grundstoffe für terroristisch gegen die USA nutzbare Chemiewaffen herstellte, in Wirklichkeit aber Impfstoffe und Antibiotika produzierte.
„Stunden nach dem Schlag war es, als hätte es niemals eine Monica Lewinsky gegeben“, schrieb damals „Der Spiegel“ (Heft 35/1998). Dieser blutige Schlag der Selbstbefreiung eines US-Präsidenten, ohne den auch die spätere Karriere seiner Gattin Hillary kaum denkbar ist, zeitigte Folgen für Jahrzehnte. Clinton, der 1993 erstmals ins Weiße Haus eingezogen war, galt seinen Feinden als ein Schlappschwanz in den Fragen von Krieg und Frieden. Ob Monica Lewinsky zu ihm geschickt wurde oder die Zweckentfremdung des Weißen Hauses nur zufällig geschah, werden wir wohl nicht erfahren. Mit den Raketenangriffen auf Ziele in Afghanistan und im Sudan 1998, beides souveräne Länder, keines von beiden im Krieg mit den USA, begann aber ein neues Zeitalter der US-Außenpolitik hin zu permanentem völkerrechtswidrigem Einsatz von Gewalt. Der weltweite Krieg gegen eine wabernde „terroristische Bedrohung“, der ausdrücklich ohne Rücksichten auf nationale Souveränitäten geführt werden sollte, begann nicht erst nach den merkwürdigen Ereignissen des 11. September 2001, sondern eben schon 1998, als der Schwanz im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Hund wedelte. Die Macher von „Wag the Dog“ kannten offensichtlich ihre Pappenheimer und sahen die drohende Gefahr. Sie beeilten sich. Nur 25 Drehtage brauchten sie für ihren Film, der so viel über die Tricks und Kniffe der Kriegspropagandisten zur Täuschung der Öffentlichkeit erzählt, daß die Wirklichkeit in den Jahren danach manchmal wie ein Déjà-vu anmutete.
Auch die im Film dargestellte „Old Shoe“-Inszenierung zum Beispiel fand ein paar Jahre später ihr durchaus gruseliges Gegenstück in der Fake-News-Kampagne um die „Befreiung“ der Soldatin Jessica Lynch. Diese Geschichte spielte im Dritten Golfkrieg, bei dem die USA und Großbritannien 2003 den Irak unter dem erwiesenermaßen erlogenen Vorwand überfielen, die irakische Führung bereite einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen vor. Und sie trug sich zu genau zu jenem Zeitpunkt, als die Zustimmung der US-Öffentlichkeit für George W. Bushs Blitzkrieg zu schwinden drohte, weil die versprochenen glücklichen Iraker, die ihren Befreiern mit Stars-and-Stripes-Winkelementen zujubeln sollten, einfach nicht gesichtet werden konnten. Am 1. April 2003 veröffentlichte das Pentagon das Video einer dramatischen, überwiegend durch eine Nachtsichtoptik gefilmten Aktion: Schwerstbewaffnete US-Spezialkräfte dringen in ein anscheinend schwerstbewachtes irakisches Krankenhaus ein, finden eine 19jährige blonde hübsche Frau, die sie per Helikopter in ein Militärkrankenhaus schaffen. Die Schlußsequenz zeigt eine lächelnde Jessica Lynch auf einer Trage, bedeckt mit einer US-Flagge.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sei ein US-Kriegsgefangener aus Feindeshand befreit worden, verkündete sofort der Brigadegeneral Vincent Brooks, und zwar im Feuergefecht mit den Bewachern. Zugleich berichtete die „Washington Post“ über die tapfere Soldatin Lynch, die sich vor ihrer Gefangennahme bis zur letzten Patrone verteidigt, aber von feindlichen Kugeln getroffen wird.
Recht bald stellte sich heraus: Alles erstunken und erlogen. Die Instandsetzungseinheit, der Jessica Lynch angehörte, hatte sich verfahren und war so in einen irakischen Hinterhalt geraten. Sechs US-Soldaten starben, weitere sechs wurden verletzt und von Irakern medizinisch versorgt, so auch Jessica Lynch, die keine Schußverletzungen hatte. Im Krankenhaus von Nassirija erhielt sie eines der wenigen Einzelzimmer. Dort lag sie zehn Tage lang. Angehörige des behandelnden Arztes spendeten Blut für sie. Als die US-Marines das Krankenhaus stürmten, gab es dort keinen bewaffneten Iraker. Die US-Boys schossen trotzdem um sich, als müßten sie „Rambo“ Sylvester Stallone übertrumpfen. Allerdings mit Platzpatronen, wie irakische Ärzte berichteten. Und wie „Old Shoe“ in „Wag the Dog“ bekam Jessica Lynch sogar einen eigenen Song (Eric Horner: „She is a Hero And a Woman Too“).
„Postfaktisch“ – die Gesellschaft für deutsche Sprache hat in gewohntem Stumpfsinn dieses gekünstelte Wort zum „Wort des Jahres 2016“ ernannt. Sie folgt damit der bereits in Politik und Medien zum Postulat erhobenen Annahme, „postfaktisch“ bezeichne einen neuen Zustand, nämlich den, daß bewußt in Umlauf gebrachte Falschnachrichten das Verhalten großer Mengen von Menschen beeinflussen. Neu sind aber allenfalls bestimmte Techniken, die sich aus den Möglichkeiten des Internet und der, man mag das Falschwort eigentlich gar nicht gebrauchen, „sozialen Medien“ ergeben. Die Massenmedien wurden schon seit dem Beginn ihrer Tage benutzt, um Lügen zu verbreiten, weshalb man über einen Menschen ja auch sagt: „Der lügt wie gedruckt“. Für die Wirkung spielt es dabei kaum eine Rolle, ob Journalisten das Unwahre selbst erfunden haben oder einer Lüge Dritter aufgesessen sind. Letzteres ist meistens der Fall, wenn großer Druck zur Konformität, also zum Herdenverhalten herrscht.
Das war zum Beispiel so, als die Bundesrepublik Deutschland sich im Frühjahr 1999 – zur Zeit der Präsidentschaft Bill Clintons – am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien beteiligte. Fast einhellig stempelten Deutschlands Medien Serbien als Reich des Bösen und dessen Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic als Wiedergänger Adolf Hitlers ab. Sie folgten damit einem Argumentationsmuster, das die PR-Agentur Ruder Finn im Auftrag der kroatischen Regierung entworfen hatte. Kaum eine kritische Nachfrage aus den Medienhäusern gab es auch, als Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Außenminister Joseph Fischer sich zur Rechtfertigung ihrer bombigen Aktivitäten auf den angeblich vorhandenen „Hufeisenplan“ der serbischen Führung beriefen, nach dem die albanische Bevölkerung des Kosovo systematisch in Richtung Albanien vertrieben werden sollte. Doch der „Hufeisenplan“ war nichts weiter als ein Propaganda-Einfall, die Vortäuschung einer „humanitären Katastrophe“, die Joseph Fischer dann auch noch mit Auschwitz gleichsetzte.
Wer eine Liste der Höhepunkte „postfaktischen“ Umgangs heute existierender Massenmedien mit der Realität aufstellen will, wird viel zu tun haben. Nicht fehlen dürften die „Spiegel“-Serie von 1959/60, die zum Schutze alter Nazis die These vom Alleintäter Marinus van der Lubbe beim Reichstagsbrand 1933 begründete); die gefälschten „Hitlertagebücher“ des „Stern“ von 1983; die medienübergreifenden Kampagnen der 2000er Jahre zur Dramatisierung des „demographischen Wandels“, welche eine Senkung des Rentenniveaus absicherten und eine betrügerische „private Altersvorsorge“ (Riester-Rente) legitimierten; sowie der Medien-GAU von Sebnitz, der im November 2000 stattfand.
Alle Zeitungen, alle Sender überschlugen sich damals, eine Grusel-Story der „Bild-Zeitung“ zu bestätigen, nach der Nazis im Freibad des sächsischen Sebnitz unter den Augen vieler Badegäste einen kleinen Jungen irakischer Abstammung ermordet hätten. „Ein Kind ertränkt wie eine Katze“, titelte zum Beispiel die „Süddeutsche Zeitung“. Der Wahn, gegründet auf dem Vorurteil des „braunen Ostens“, dauerte zwei ganze Wochen. Schließlich stellte sich heraus, der arme Junge war an einem Herzfehler gestorben.
Januar 2017