Zu viel Mozart?

Ausflüge in die kleine und große Welt : Dumme Wörter – eine Auswahl

Von Holger Becker

Proaktiv
Der Begriff erschien in unseren Breiten in etwa zur selben Zeit wie die braunen Spanischen Wegschnecken, die im Gemüsegarten die Pflanzen abfressen. Und er ist genauso unangenehm und überflüssig wie letztere. Außerdem häßlich wie dreiviertellange Hosen für Männer oder neonfarbene Freizeitjacken. „Aktiv“ als Gegenstück zu „passiv“ reicht völlig. Die lateinische Vorsilbe „pro“ steht für „vorwärts“, „vor-“, „hervor“, „anstatt“ und vor allem „für“. Also wat denn nu?

„Proaktiv“ soll über das englische „Proactivity“ in den deutschen Sprachraum gelangt sein. Langenscheidts „Enzyklopädisches Wörterbuch der englischen und der deutschen Sprache“ von 1963 allerdings kennt die „Proactivity“ noch nicht. Offenbar eine weitere Parallele zu den schleimigen Schnecken, die früher in England ebenfalls nicht vorhanden gewesen sind. Bei denen hilft es aber ein bißchen, sie abzusammeln und mit kochendem Wasser zu übergießen. Zumindest nach der Empfehlung, die Kurt Kretschmann (1914 bis 2007), der Vater des DDR-Naturschutzes und Erfinder des Eulensymbols, uns gab (siehe Kurt Kretschmann, Rudolf Behm: Mulch total. Der Garten der Zukunft. 2. Auflage, Xanten 2001)

Putin-Versteher

Leider sind Russisch-Kenntnisse bei den meisten Deutschen kaum vorhanden, bei denen im Westen sowieso nicht, und auch im Osten hat extensiver Russisch-Unterricht mangels eines sowjetischen Bob Dylan und weiterer Anreize für die Jugend, Russisch zu verstehen und zu sprechen, nicht so viel bewirkt wie wünschenswert wäre. Insofern: Meistens versteht nur ein kleinerer Teil der Deutschen den Wladimir Wladimirowitsch.

Zu den Ausnahmen zählt die scheidende Kanzlerin Angela Merkel, die 1969 als Schülerin die DDR-Russisch-Olympiade gewann und deshalb ihr Land bei den internationalen Russischwettkämpfen in Moskau vertreten durfte. Sie aber will oder darf seit einiger Zeit den Putin nicht mehr so recht verstehen, selbst wenn der Deutsch spricht, was er ja nach seinen Jahren als KGB-Offizier in Dresden hervorragend kann. Das hatte er 2001 demonstriert, als er im Plenum des Deutschen Bundestages sprach und für eine „vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft“ plädierte, für die das „starke und lebendige Herz Rußlands“ geöffnet sei. Das Bundestagsprotokoll vermerkte: „Anhaltender Beifall – Die Abgeordneten erheben sich.“

Zeichnung: Andreas Mücke

Heute ist „Putin-Versteher“ ein Schmähwort. Lebte er noch, müßte Karl Friedrich Wilhelm Wander (1803 bis 1879) – er war Pädagoge, Germanist und 1848er Revolutionär, nach ihm war zu Putins Zeit in der Sachsen-Metropole die dann 1994 abgewickelte Pädagogische Hochschule Dresden benannt – die Invektive in sein „Deutsches Sprichwörter-Lexikon“ aufnehmen. Das erschien seit 1867 in fünf Bänden bei Brockhaus in Leipzig und enthält massenhaft Schimpfwörter. Der „Putin-Versteher“ würde sich dort einreihen zwischen „Puter“, also dem Truthahn, den jeder US-Präsident zum Thanksgiving-Festtag am vierten Donnerstag des November scheinheilig begnadigt, während Abermillionen seiner Landsleute die fetten Vögel verspeisen, und „Putje“, was ein Hamburger Slangwort für Geld ist.

Putin-Versteher eingeklemmt zwischen Truthahn und Finanzen, also irgendwie zwischen den USA und Hamburg. Das grenzt an Sprachkabbalistik. Immerhin waren es Hamburger Geldleute, die 1952 einen exklusiven Verein „Atlantikbrücke“ gründeten, in dem besonders einflußreiche Freunde der großen USA sich darum sorgen, die Interessen der Macht jenseits des Atlantik zur Geltung zu bringen. Seit 1999 hat der Verein seine Zentrale im Berliner Magnus-Haus am Kupfergraben 7 . Mitglied Angela Merkel könnte von ihrer Privatwohnung nebenan auf Filzlatschen zum jährlichen Truthahnessen derer gehen, die Putin-Versteher nicht zum Zuge kommen lassen wollen.

Internationale Medien
Gibt es kaum. Gemeint sind fast immer ausländische Sender oder Zeitungen/Zeitschriften, gesehen aus der Perspektive des Landes, um das es gerade geht. Also zum Beispiel, wenn die „New York Times“ über einen Sack Reis berichtet, der in China umfällt, dann tut sie das als ausländische, nicht als „internationale“ Zeitung. Steht der Bericht über den Reissackunfall in der „Renmin Ribao“, was so viel wie „Chinesische Volkszeitung“ heißt, berichtet eine inländische Zeitung. Umgekehrt verhielte es sich bei einem Maissackmalheur im Mittelwesten der USA.

Noch dümmer: internationale Journalisten.

Zweifacher/ mehrfacher Familienvater
Sind Bi- bzw. Polygamie doch erlaubt? Geht es um das spannende Doppel- oder Mehrfachleben eines Menschen? Ach schade, da will jemand nur sagen, ein Mann sei Vater mehrerer Kinder, mit denen er in einer Familie zusammenlebt. Von mehrfachen Familienmüttern übrigens ist nie die Rede. Woran mag das liegen?

Zeitnah
„Zeitnah“ drückt ausdrücklich nichts aus, ausgenommen die Bequemlichkeit derer, die es in Rede und Schreibe verwenden. „Zeitnah“ kann im nächsten Jahr heißen, aber auch in der nächsten Stunde. Mit „zeitnah“ eckt niemand an. Aber es klingt amtlich und wichtig, kann bücklingshaft dienernd geschrieben oder zackig fordernd gesagt werden. Deutschland mit seiner nie abgeschüttelten Tradition des Obrigkeitsstaates ist der natürliche Lebensraum dieses Dietrich Heßling der Lexik. Keine andere Sprache will soetwas haben. Und indem es andere Synonyme totschlägt, bewirkt es Monotonie und Ungenauigkeit des Ausdrucks. Man traue also lieber keinem Klempner, der verspricht, das gebrochene Wasserrohr „zeitnah“ zu richten, besser ist es, er kommt schnell.

Wording
Wichtigtuerwort aus der Sprache des Koofmichtums (vulgo: Marketing). Im Englischen bedeutet es eigentlich so viel wie „Formulierung“ oder „Ausdruck“. Sich als dolle Hechte wähnende Sprecher in Politik, Unternehmen, Medien und sonst noch wo benutzen den pseudoenglischen Begriff, wenn sie Sprachregelungen festlegen, bekräftigen oder verteidigen, dabei aber keine Erinnerungen an Joseph Goebbels aufkommen lassen wollen. Beispiel: Laut einem Leitfaden der Senatsverwaltung für Justiz sollen Berliner Bedienstete Ausländer nicht mehr „Ausländer“ nennen, sondern „Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft“ sagen und schreiben.

Studierende
Schlafende Studierende sind ein Widerspruch in sich. Ganz anders schlafende Studenten, die sogar in Hörsälen erlebt werden können, zum Beispiel weil sie mangels zahlungskräftiger Eltern neben dem Studium arbeiten müssen. Hier handelt es sich um Personen, die zwecks ihrer akademischen Bildung an einer Universität oder Hochschule eingeschrieben sind.

Da in den hohen Schulen aber der Typus des Gender-Blockwarts die Lufthoheit errungen hat – meistens handelt es sich um Menschen, die glauben, politisch links zu stehen, Daseinsberechtigung und Glücksgefühl aus ihrer ideologischen Linienrichterei beziehen und ansonsten nichts auf die Kette kriegen – will und soll niemand mehr Student geheißen werden. Überall nur noch Studierende.

Von wegen „Geschlechterneutralität“ wird mit substantivierten Partizipien I gemanscht und gepanscht, was das Zeug hält: Teilnehmende statt Teilnehmer, Demonstrierende statt Demonstranten, Zufußgehende statt Fußgänger. Was dürfen wir noch erwarten: Mauernde statt Maurer? Mordende statt Mörder? Bezeugende statt Zeugen? Zuhaltende statt Zuhälter?

Das von Kritikern des modischen Sprachschwachsinns vorgebrachte Argument, die Genderei würde an der Realität nichts ändern, stimmt, aber nur zum Teil. In der Tat erhält keine Frau wegen der sprachpolizeilichen Verfügungen auch nur einen Cent mehr Lohn. Aber die Sprache gehört auch zur Wirklichkeit. Sie ist das wichtigste und älteste Kommunikationsmittel des Menschen, und sie erschlafft enorm, wenn ihr, wie es derzeit geschieht, Saft und Kraft entzogen werden und ein Zustand knöcherner Trockenheit entsteht. Wer zur Krankenschwester Pflegefachkraft sagen muß, wie es ein Gender-Ratgeber im Internet empfiehlt, oder zum Kunden kaufende Person, wird stumpf werden für die Möglichkeiten der Sprache, den Zustand der Welt zu beschreiben und Vorschläge zu dessen vernünftiger Veränderung zu formulieren. Bildhaftigkeit geht verloren, ebenso die Farbe, die aus den Vokalen kommt, Rhythmus, Melodie, Emotion, Witz, Erotik. Und auch Logik. Als erste müßten dagegen eigentlich die Studenten auf die Barrikade gehen. Wollen sie wirklich, die vielen Jahrzehnte, die ihnen verbleiben, in einer Welt der Sprachangst, Humorlosigkeit und Langeweile leben?

Diversitätssensibel
Wer diesen leicht zungenbrecherhaften Begriff verwendet und damit seine phänomenal korrekte Gesinnung unterstreicht, ruft auf, die Unterschiede zwischen Menschen zu betonen. Denn ohne Unterschiede existiert keine Vielfalt, also Diversität. Die Unterschiede, um die es den Diversitätssensibilitätsförderern geht, sind vornehmlich die nach Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Weltanschauung/Religion usw. Nach ihrer Auffassung gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung zu viele alte weiße Männer. Sogar in der Geschichte der Kunst. So werde in den Konzertsälen zu viel Mozart, Bach oder Beethoven gespielt statt zum Beispiel die Werke nigerianischer Komponisten. An der berühmten Universität des englischen Oxford, wo nur die Professoren den Rasen betreten dürfen, behaupten Lehrkräfte gar, die klassische europäische Musik sei „kolonialistisch“ und „rassistisch konnotiert“, was übrigens auch für das System der Noten gelte, in dem die Kompositionen für gewöhnlich festgehalten werden.

Wird Mozarts Oper „Hochzeit des Figaro“ mit ihrem revolutionären Friseur als Hauptheld nun abgesetzt? Wie viele Vorstellungen von Mozarts „Zauberflöte“, diesem Hohelied der Aufklärung, sind erlaubt? Oder muß es aus Gründen des Proporzes für jede Aufführung einer Mozart-Sinfonie ein Konzert, sagen wir, klassisch-osmanischer Musik auf türkischen Langhalslauten geben – Darbietungen übrigens, die genau so viel Spaß machen können wie jede andere gute Musik, die ja (wie auch die schlechte) bei ihrer Entstehung an spezifische gesellschaftliche Bedingungen gebunden ist. Wo wären Jazz und Pop ohne den Blues der aus Afrika stammenden Plantagensklaven im Klassikland des Rassismus, dem Süden der USA?

Wir prophezeihen: Mit der verordneten Diversitätssensibilität im Musikrepertoire wird es ausgehen wie beim Hornberger Schießen oder den einstigen Versuchen der CIA , serielle Klänge in der Tradition der Zwölftonmusik als „Musik des freien Westens“ durchzusetzen und so zur Waffe im „Kampf gegen den Kommunismus“ zu machen ( Wie diese Globalverschwörung vor sich ging und wie viel Geld da hineinfloß, hat die Britin Frances Stonor Saunders in ihrem Buch „Who Paid the Piper? The CIA und the Cultural Cold War“ haarfein beschrieben). Es nützte nichts, bis heute will das nur geriebenen Klangfeinspitzen eingängige Zwölfgetöne kaum einer hören.

August 2021