Die Sprachlosigkeit der Linken und andere Gründe für ihren Niedergang

Vortrag im Seniorenclub der „Hellen Panke“ am 23. Mai 2023 im Berliner Karl-Liebknecht-Haus

Es war ein Montag Ende September 2022, als ich im heimatlichen Ludwigslust das erste Mal wieder zu einer Demo ging. Wenn ich verschiedene Aufmärsche in meiner Zeit als Schüler an der EOS nicht mitzähle, war es 1973 das letzte Mal gewesen. Damals versammelte sich eine ziemliche Menschenmenge vor dem Rathaus, um gegen den Pinochet-Putsch und den faschistischen Terror in Chile zu protestieren. Der Protest kam von Herzen.

Im September 2022 jedenfalls, als ich wieder einmal für ein paar Tage dort war, fragten Nachbarn mich, ob ich mitkommen wolle zur Demo. Wir hatten vorher allerhand Gespräche am Gartenzaun geführt, in denen es ums Gärtnern, die neuen Regeln auf dem Recyclinghof und neuesten Ludwigsluster Tratsch ging, aber besonders auch um den Krieg in der Ukraine und um die Preise für Gas, Öl, Benzin und Strom. Meine Nachbarn sind in der DDR zur Schule gegangen. Ob sie je die PDS oder die Linke gewählt haben, weiß ich nicht. Jetzt aber sprach der eine vom Stellvertreterkrieg, den die USA gegen Rußland führen, der andere erklärte mir, wir hätten es mit dem US-Imperialismus zu tun und daß dessen Konzerne ihr Fracking-Gas verkaufen wollten, und der nächste gab zu verstehen, die einzige, die man wählen könne, heiße Sarah Wagenknecht.

Ludwigslust ist eine schöne Stadt 35 Kilometer südlich von Schwerin, mit Schloß, großem Park und vom Zweiten Weltkrieg weitgehend unberührten barocken Bauten. Die Stadt hat etwa 12.000 Einwohner, einschließlich der Leute in den eingemeindeten sechs Dörfern. An diesem Abend versammelten sich im Zentrum mindestens 1000 Menschen. Das ist enorm viel für das Städtchen. Die Menge machte den Eindruck einer Ansammlung kleinstädtischer Normalos, viele Leute ab 60, aber auch Familien mit Kindern, jüngere Leute in kleinen Gruppen. Da der Abend schon recht kühl war, dominierte der Anorak als Kleidungsstück, selten in Schwarz, wie ich es als Dominanzfarbe auf den Demos in der Hauptstadt gewohnt war. Viele Leute hatten Schilder mitgebracht – mit Losungen wie „Frieden mit Rußland“, „Weg mit den Sanktionen“, „Öffnet Nordstream 2“, „Kein Handel mehr von Energieträgern an Börsen“. Und: „Mehr Wahrheit in den Medien“. Es gab äußerst kurze Ansprachen ähnlichen Inhalts. Dann zog die Menge zu mecklenburgischer Abendbrotszeit auf einer Route von 3,5 Kilometern ca. anderthalb Stunden lang durch die Stadt.

Die „Schweriner Volkszeitung“, bei der ich 1976 mein Journalistenleben als Volontär begonnen habe, schrieb am nächsten Tag von 750 Leuten. Die Leute sind sauer auf die Zeitung, weil sie schon in den Wochen zuvor ihrer Meinung nach die Demo-Zahlen heruntergeschrieben und die Anliegen der Teilnehmer in ein Licht gestellt hat, als kämen sie aus der rechten Ecke. In der Tat war der Anmelder der Demo ein Mann aus der Kreistagsfraktion „Heimat und Identität“, die als NPD-Nachfolgerin eindeutig zur Rechten gehört. Aber die vielen Leute waren nicht deretwegen gekommen, sondern weil sie keine rußlandfeindliche Politik wollen, keine Politik, die ihren Lebensinteressen entgegensteht. Weil sie Frieden wollen und über die Ursachen von kriegerischer Gewalt durchaus anders denken, als es ihnen Regierung, Parteien und Medien erzählen. Und weil sie ein auskömmliches Leben führen wollen, ohne Angst, ihr Stück Wohlstand zu verlieren wegen einer Politik, die in Gefolgschaft zu den USA mit der Explosion der Energiepreise die Existenz vieler kleiner und mittlerer Betriebe gefährdet. Und die eine Deindustrialisierung ganz Deutschlands heraufbeschwört, so wie sie der Osten ja schon in den 90er Jahren erlebt hat.

Für die Ludwigsluster Verhältnisse kann man sagen: Bei den montäglichen Demonstrationen versammelte sich das Volk. Ich benutze den Begriff hier in dem Sinne, der die große Mehrheit der Bevölkerung meint, die von den Einkünften aus ihrer Arbeit lebt und nicht von der Verwertung ihres wie auch immer zustandegekommenen Vermögens. Ich benutzte den Begriff also so wie in den zusammengesetzten Substantiven Volksrepublik, Volksarmee, Volksaufstand oder „Schweriner Volkszeitung“, die ihren Namen im übrigen der SED verdankt. Wer von Volk spricht, denkt deshalb noch nicht völkisch.

Doch wo das Volk sich versammelte an diesen Montagen, glänzte die Linke (zumindest als Partei) durch Abwesenheit und Sprachlosigkeit. Das einzige Angebot in jenen Tagen war der Auftritt der Justizministerin von MV, die der Linken angehört, in einem Ludwigsluster Seniorenzentrum bei einem Bürgerforum zum Thema Energiepreise. Dazu mußte man sich vorher anmelden, quasi eine Bahnsteigkarte lösen, um dann zu erfahren, wo man sich beraten lassen kann, wenn die Gasrechnung für das Eigenheim oder die Nebenkosten für die Mietwohnung ins Unbezahlbare schießen. Es blieben viele Plätze des kleinen Saales leer.

Ist es jetzt die Linke, die Angst hat vor dem Volk, „dem großen Lümmel“, wie es Heinrich Heine in seinem Versepos „Deutschland, ein Wintermärchen“ nannte? Bei Heine nistet die Angst vor dem Volk ja unter den Herrschenden, die dem Volk das „alte Entsagungslied“ singen lassen, „das Eyapopeya vom Himmel“.Und jetzt? Was ist los bei der Linken?, fragt man sich. Was hält sie vom Volk, ihren Landsleuten ohne und mit Migrationshintergrund, wie das neudeutsch heißt? Neuerdings ist es ja sogar üblich, massenhaft besuchte Friedensdemonstrationen, für die allerdings keine Bahnsteigkarten gelöst oder seminaristische Gesinnungstests absolviert werden mußten, als „rechtsoffen“ zu denunzieren.

Mit Verlaub: „Du hast wohl den Arsch offen?“ – Diesen Satz kenne ich als in Teilen Berlins und Brandenburgs übliche, fast liebevolle Nachfrage, ob denn jemand noch bei Troste sei. Aber „rechtsoffen“ – und das als Vorwurf an Leute, die sich erfolgreich an jene Massen wenden, für die sie als Linke doch eigentlich dasein wollen?

Ich denke, ein Befund kann kaum überraschen: Zu den Hauptursachen dieses Entfernens von den Menschen gehört der Drang recht maßgeblicher Kräfte, selbst zum Establishment in dieser so schönen deutschen kapitalistischen Gesellschaft gehören zu wollen. Das ist keine neue Erscheinung. Ich will gar nicht an Lenins Erklärungen dafür erinnern, wie Opportunismus und Revisionismus entstehen. Es reicht erst einmal, in die 90er Jahre zurückzublicken. Damals setzte ein Flügel informell miteinander verbundener Leute in der PDS durch, sich auf der Ebene von Bundesländern an Regierungen zu beteiligen. Es begann 1994 in Sachsen-Anhalt mit der Tolerierung einer Minderheitsregierung und erreichte dann 1998 in Mecklenburg-Vorpommern die heiße Phase: Zum ersten Mal trat die PDS in der Bundesrepublik Deutschland in eine Regierung ein.

Als Reporter für die Zeitung „junge Welt“ war ich im Herbst 1998 auf den Sonderparteitagen in Sternberg und Parchim, als die Regierungsbeteiligung gegen vorhandene sehr starke Widerstände in der Partei durchgesetzt wurde – und zwar mit abgefeimten Methoden. Auf dem ersten Parteitag in Sternberg fand noch eine offene Abstimmung statt, bei der die Teilnehmer nach einer engagierten Diskussion ihre Karten erhoben. Was die Führung nicht erwartet hatte: Ein Mandat für Koalitionsverhandlungen erteilten sie nicht. Die Spitze der Landes-PDS verhandelte nach dieser Niederlage trotzdem mit der SPD über den Eintritt in die Regierung und einen Koalitionsvertrag.

Wenig später zog die Parteitagsregie in Parchim dann andere Saiten auf, um die nötige Zweidrittel-Mehrheit zu erreichen: Bei der Abstimmung rief die Versammlungsleiterin vom erhöhten Präsidiumstisch an der Stirnseite des Saales alle Delegierten einzeln namentlich auf. Eine jede und ein jeder hatte vor dem großen Auditorium mit ja oder nein zu antworten. Zahlreiche Fernsehteams filmten die Inszenierung und richteten ihre Scheinwerfer wie Verhörlampen auf die einzelnen Delegierten.

In diesen bedrückenden zehn Minuten am Sonnabend zur Kaffeezeit war 100 mal ein mehr oder weniger lautes Ja zu hören war und nur sechs Mal ein Nein. Delegierte, die noch in Sternberg mit Nachdruck gegen das Mitregieren gesprochen hatten, stimmten dem nun zu. Die meisten der Versammelten, wie das auf Parteitagen schlechterweise ist, waren Funktionäre und Mandatsträger der Partei, lebten also von ihr und hatten in der Zeit seit der Sternberger Pleite der Führung, das erlebt, was man früher Kadergespräche nannte. Zumindest war das hinter vorgehaltenen Händen zu hören. Von Gregor Gysi übrigens hörten die Reporter in Parchim, der Wert des Regierungsbündnisses bestehe „in der Koalition an sich“. Deshalb wird die Sache, wo es geht, ja auch ständig wiederholt – von Berlin und Brandenburg bis hin nach Bremen.

Das Ganze hatte und hat natürlich seinen Preis. Insbesondere im Osten. Wer am Tisch der Herrschaft sitzen will, muß sich danach benehmen. Das haben die Regierungswilligen in vorbildlicher Weise getan.

Eine der ersten, quasi prophylaktischen Maßnahmen war die öffentlichkeitswirksame Distanzierung von der DDR. Das hatte seinen ersten Höhepunkt, als die PDS den kurzzeitigen DDR-Kulturminister Dietmar Keller 1991 in die Enquete-Kommission des Bundestages mit dem Titel „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ entsandte. Diese Kommission gab der These von den „zwei Diktaturen in Deutschland“, die das Nazireich und die DDR auf eine Ebene stellte, die parlamentarische Weihe. Keller hielt dort nicht dagegen, sondern er arbeitete zu. Damals kam Wolfgang Harich zu mir in die ND-Redaktion, der Mann der am längsten als politischer Häftling in der DDR eingesessen hat. Er fragte, ob ich das Gegenprojekt einer Alternativen Enquete-Kommission Deutsche Zeitgeschichte unterstützen würde. Die ND-Wissenschaftsredaktion, die zu dieser Zeit auf ihren Zeitungsseiten noch halbwegs autonom agieren konnte, veröffentlichte dann Harichs programmatischen Aufruf zur Bildung dieser Kommission. Und sie dokumentierte eine Reihe der meistens brechend vollen Veranstaltungen der Alternativen Enquete in der Berliner Stadtbibliothek. Offizielle Unterstützung der PDS fanden Harich und sein Programm nicht. Für die ND-Wissenschaftsredaktion, die ich leitete, endete die Sache mit ihrer Auflösung 1995. Für die PDS mit einer Folge von Entschuldigungsarien für das „DDR-Unrecht“, u.a. in einem Brief an Richard von Weizsäcker…

Ein nächster Markstein war die Distanzierung zu systemoppositionellen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, die sich nicht mit dem Wort Stalinismus belegen lassen. Es mutete geradezu skurril an, aber es hatte seinen Sinn, als ab Januar 1998 verhindert wurde, vor dem Karl-Liebknecht-Haus ein Rosa-Luxemburg-Denkmal aufzustellen. Eigentlich war dieses Denkmal mehrmals beschlossen worden – von einem Bundesparteitag, vom Bundesvorstand, von einem Berliner Landesparteitag. Viele PDS-Mitglieder und andere Linke hatten Geld dafür gespendet.

Doch Rosa Luxemburg vor der Tür paßte nicht zur systemintegrativen Anstrengung, jetzt in Regierungen einzutreten. Und es erinnerte die umworbenen Partner von der SPD an die faktisch schon damals erwiesene Mitverantwortung ihrer Vorläufer Friedrich Ebert und Gustav Noske für den Mord an Luxemburg und Liebknecht im Januar 1919. Deshalb wurde plötzlich eine absurde Debatte vom Zaun gebrochen, warum das Denkmal so nicht sein dürfe. Dagegen hielten vor allem Klaus Höpcke, das Antieiszeit-Komitee und die „junge Welt“. Eine auf eigene Faust vom Antieiszeit-Komitee errichtete Rosa-Luxemburg-Statue des Bildhauers Rolf Bibl, zu der ein Relief seiner Kollegin Ingeborg Hunzinger gehört, ließ die Parteiführung dann abräumen und in einer Rabatte vor dem ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz verstecken.

Ja, und Mitregieren bedeutet natürlich auch, sich im Zweifelsfall die Finger schmutzig zu machen. Ich erinnere mich noch gut an den Volksentscheid 2011, der zum Ziel hatte die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe rückgänging zu machen und den Preis für das Wasser zu senken. Das haben wir damals beim Grundstücksnutzerverband VDGN, bei dem ich Pressesprecher war, massiv unterstützt. Die Führung der in Berlin mitregierenden Linken indes versuchte, den Erfolg des Plebiszits zu verhindern.

Was zum Glück nicht gelang. Mit dem Erfolg des Volksentscheids wurde den Konzernen Veolia und RWE, die hohe Profite aus den Wasserbetrieben gezogen hatten, der Boden in Berlin zu heiß. Die Wasserbetriebe wurden wieder Eigentum des Landes Berlin und die Preise sanken.

Nicht solches Glück hatten viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, wo die Linke als Regierungspartei Maßnahmen mittrug, die Zehntausende in existentielle Nöte gebracht haben. Man hat das hier in Berlin nicht so mitbekommen, da die Medien zentral darüber kaum berichtet haben: Aber in den Jahren etwa ab 2007 sind aus Leuten, die im Osten Eigentumsgrundstücke auf dem platten Land bewohnen, enorme Summen herausgepreßt worden. Sie mußten für Anschlüsse an das Trinkwassernetz bzw. die Kanalisation schmerzhaft hohe Beiträge bezahlen, obwohl diese Anschlüsse schon zu DDR-Zeiten vorhanden waren. Hintergrund des Ganzen waren die gigantischen Sünden der 90er Jahre, als Anlagen geschaffen wurden, die angesichts der Deindustrialisierung und Entvölkerung des Ostens zu groß und nun im Betrieb zu teuer waren. Für diese Fehlplanungen und nicht selten Korruption im Hintergrund mußten die Leute jetzt bezahlen.

Es ging oft um Zehntausende Euro, und zwar in den Regionen mit den schlechtesten Einkommensverhältnissen. Dafür wurden gesetzliche Regelungen geschaffen, die eine Verjährung verhinderten. Daran war die damalige PDS in Schwerin direkt beteiligt. In Potsdam verhinderte sie nun unter dem Namen Die Linke im Landtag Gesetzesänderungen, die den Leuten wenigstens bessere Karten für die Gegenwehr vor Gericht gegeben hätten. Vollkommen an der Linken vorbei rollte die größte Protestwelle, die der Osten seit 1989 erlebt hatte. Ich selbst war auf ungezählten Protestveranstaltungen in Schwerin oder Bützow, in Jüterbog, Potsdam oder Beeskow. In Bernau gingen ab 2013 jeden Dienstag vier Jahre lang hunderte Leute auf die Straße. Vor Ort zerriß das die Linken geradezu und es sei zur Ehre linker Lokalpolitiker gesagt, daß nicht wenige sich für die Betroffenen einsetzten, zum Beispiel Dagmar Enkelmann in Bernau.

Alles in allem konnte man bei den Demonstrationen und Kundgebungen erfahren, daß sich die Leute von der Linken verraten fühlten. Das schlug sich im übrigen auch in den Wahlergebnissen nieder. Im Wahlkreis 59, zu dem Bernau gehört, kandidierte damals mehrmals Dagmar Enkelmann für den Bundestag, sicher nicht die schlechteste Kandidatin. Aber ab dem Eintritt der Linken in die Landesregierung 2009 und ihrem Verrat an den Altanschließern – im Wahlkampf war ihnen Hilfe signalisiert worden – verlor sie hier bis zur Bundestagswahl 2017 in absoluten Zahlen 40 Prozent ihrer Wähler.

Für die Beteiligung an Regierungen (Macht würde ich es nicht nennen) und den Anschluß an die Systeme der Verteilung von Posten, Dienstwagen, hohen Altersversorgungen und was sonst noch dazugehört für einen bestimmten Personenkreis hat die Linke zunehmend darauf verzichtet, den Problemen breiter Bevölkerungskreise öffentlichkeitswirksam eine Stimme zu geben. Besonders verhängnisvoll mußte sich das natürlich im Osten auswirken, da sie hier Bestandteil einer Exekutive mit kolonialen Zügen wurde. Ich könnte das anhand des genannten Altanschließerproblems lang und breit schildern. Nur so viel: Für den Skandal, daß die Leute im Osten massenhaft für etwas blechen sollten, das sie schon zu DDR-Zeiten (finanziert aus der zweiten Lohntüte) gehabt hatten, dachten sich Westjuristen und -beamte eine rechtliche Begründung aus. Und nach der haben die DDR-Infrastruktursysteme im rechtlichen Sinne gar nicht existiert. Die Leute mußten zahlen, weil sie angeblich erstmals einen „rechtlich gesicherten“ Anschluß an die Wasserversorgung oder die Kanalisation erhalten hätten. Wer diesen Merksatz, der in sämtlichen einschlägigen Urteilen der Oberverwaltungsgerichte im Osten vorkommt, auf den Protestveranstaltungen der Betroffenen zitierte, konnte sich sicher sein, daß der Saal kochte.

Vollzogen hat sich eine mentale Entfremdung zu Menschen, für die die Linke eigentlich da sein muß. Parallel sehen wir ihre verstärkte Hinwendung zu akademischen Milieus, in denen zum großen Teil mit beträchtlicher Militanz Fragen in den Vordergrund geschoben werden, die den Normalos, wie man so sagt, am Arsch vorbeigehen. Sarah Wagenknecht hat das in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ beschrieben und vor ihr für die Verhältnisse in Frankreich der Soziologe Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“. Eribon erzählt dort von seinen proletarischen Eltern, die früher selbstverständlich kommunistisch wählten, aber nun der Le Pen-Partei ihre Stimme geben. Er schildert dort offen, daß Mutter und Vater nicht selten schlecht über Fremde reden und Vorbehalte gegen Homosexuelle hegen. Wohl niemand wird dafür plädieren, sich mit solchen Kopfinhalten nicht auseinanderzusetzen.

Beim Lesen mußte ich aber auch an das schon zitierte Heine-Wort vom Volk als „großen Lümmel“ denken. Ein Lümmel ist ein Mensch, der sich zuweilen oder öfter schlecht benimmt. Klar. Aber wohin soll es führen, sich von allen abzuwenden, die einen bestimmten Gesinnungs- oder Verhaltenskodex nicht immer einhalten? Man gewinnt niemanden, wenn man sich von ihm abwendet. Und schon gar nicht, wenn man seine Interessen mißachtet.

Vielleicht muß man mal ganz klar sagen: Wenn Leute heute in beträchtlicher Zahl die AfD wählen, dann weil ein Großteil von ihnen soziale und neuerdings auch friedenspolitische Forderungen anmahnt, die sie auf der Linken nicht repräsentiert sehen. Die sie aber erfüllt haben wollen. Und die hohen Wahlergebnisse für die AfD im Osten gibt es nicht, weil der Osten braun ist, sondern weil er eher rot ist. Systemkritische Ansichten sind hier breiter und tiefer verwurzelt. Und es sind bessere Koordinatensysteme vorhanden, die Vorgänge in der Welt zu beurteilen. 40 Jahre DDR mit ihrem Bildungssystem, Büchern, Filmen usw. haben eben doch für längere Zeit Spuren hinterlassen. Der richtige Hinweis, daß es sich bei der AfD um einen rechten Demagogenverein mit faschistischer Tendenz handelt, hilft allein nicht weiter. Vielmehr sollte man deren Wahlergebnisse als Fingerzeig auf die Potentiale systemoppositioneller Politik wahrnehmen. Und als Ansporn, diese Menschen zu gewinnen.

Vor ein paar Wochen habe ich mir das vieldiskutierte Buch des Germanisten Dirk Oschmann durchgelesen, der den Osten zur Erfindung des Westens erklärt. Natürlich kann und muß man den Befunden Oschmanns zur Benachteiligung der Ostler zustimmen. Sie spielen kaum eine Rolle in Führungsfunktionen in Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft, verdienen weniger Geld, haben vergleichsweise kaum Vermögen, sind in der Altersversorgung erheblich benachteiligt. Oschmann (der die „Abwicklungen“ im Wissenschafts- und Kulturbetrieb des Ostens in den 90er Jahren durchaus befürwortet) will der aus dem Westen stammenden Herrschaft aber sagen, es gebe eigentlich keine Gründe mehr für dieses koloniale Regime. Die Ostler seien keine besondere Spezies mit irgendwelchen besonderen aus der DDR herrührenden Eigenschaften.

Das aber stimmt nicht. Und es wird das Führungspersonal West auch nicht überzeugen, wie man an den neulich bekannt gewordenen Äußerungen von Springer-Chef Mathias Döpfner ablesen kann. Das Widerstandspotential des Ostens ist ihnen unheimlich. Zumindest ahnen sie, daß es nicht folgenlos bleiben kann, wenn mehrere Generationen die Erfahrung eines Lebens ohne Angst vor existentieller wirtschaftlicher Bedrohung in einem tatsächlich auf Friedenserhaltung programmierten System gemacht haben. Der Osten ist also keine Erfindung des Westens. Er hat seine Besonderheit. Und das darf die Linke nicht ignorieren.

Mit dem Drang bestimmter Teile der Linken, auch auf Bundesebene am Regieren beteiligt zu werden, ist aber die Entfremdung von den Normalos, und das besonders im Osten, auf ein neues Niveau gehoben worden. Wir haben es mit einem Zustand andauernder vorbeugender Unterwerfung unter die Ansagen des politischen Mainstreams zu tun.

Es ist nicht die Linke, die heute in der Frage des Ukraine-Krieges und seiner Gründe die Leute auf der Höhe ihrer Erkenntnisfähigkeit anspricht. Die Menschen sehen sich nicht gern auf das Niveau einer Zirkus-Dressur herabgewürdigt, bei der ein Hund dreimal zu bellen hat, wenn ihm ein Putin-Foto gezeigt wird. Größere Teile der Bevölkerung, das können die Umfragen nicht verschweigen, sind in der Lage, sich ein Bild über die Vorgeschichte dieses Krieges zu machen, die eindeutig in einer geopolitischen Konfrontationspolitik des US-geführten Westens gegenüber Rußland zu sehen ist. Sie sind in der Lage, die Gründe für die Sanktionspolitik des Westens und deren Auswirkungen auf ihr eigenes Leben zu interpretieren. Sie sind nicht die Opfer russischer Propaganda, sondern haben den Mut und auch die Fähigkeit, sich im Sinne Immanuel Kants ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Wenn dies ausgerechnet von links her ignoriert wird, ist das ein Trauerspiel.

Um Anschlußfähigkeit an SPD und Grüne herzustellen oder zu erhalten, verzichtet die Linke heute weitgehend auf die doch bitter nötige Kritik der Medien. Während von rechts über die „Lügenpresse“ gepöbelt wird, die es der AfD doch schon kurz nach deren Gründung viel leichter machte, in die Talkshows zu kommen, als früher der PDS oder der Linken, herrscht auf der Linken Sprachlosigkeit. Dabei haben wir es seit einigen Jahren mit einer erheblichen Unzufriedenheit größerer Teile der Bevölkerung mit den etablierten Medien in Deutschland zu tun. Das betrifft die öffentlich-rechtlichen wie die privaten Sender von Rundfunk und Fernsehen ebenso wie Zeitungen und Zeitschriften. Besonders auffällig wurde das beim Maidan-Putsch 2014 in der Ukraine, als die Fokussierung auf eine Sichtweise vorangetrieben wurde. Abweichende Meinungen wurden kaum noch zugelassen, ihre Vertreter als russische Trolle oder Vertreter rechten Gedankenguts denunziert. Diese Muster kamen dann besonders wieder in der Flüchtlingskrise von 2015, und in den Corona-Jahren zum Tragen.

Jetzt, während des Ukraine-Krieges hat die Berichterstattung die Grenzen des Erträglichen für viele Menschen, insbesondere im Osten, überschritten. Immerhin ist es soweit, daß in der „Tagesschau“, der Hauptnachrichtensendung der ARD, regelrechte Räuberpistolen aus den Werkstätten der Geheimdienste in den Rang von Nachrichten über Tatsachen erhoben werden. Ich denke da nur an die Geschichte über die kleine Segeljacht, mit deren Hilfe die Sprengung der Nordstream-Pipeline bewerkstelligt worden sein soll, oder die furchterregende Moritat, nach der Moskauer Pläne vorsehen, Sarah Wagenknecht mit der AfD zusammenzuspannen, um Deutschland zu verwüsten.

Als Reaktion auf die Medienmisere sind einige Plattformen entstanden, die im Internet mit zum Teil mit beträchtlichen Reichweiten eine alternative Berichterstattung bieten. Ich nenne nur mal die „Nachdenkseiten“ von Albrecht Müller, dem ehemaligen Wahlkampfmanager Willy Brandts, oder die Aktivitäten von Ken Jebsen, der heute seine Plattform „Apolut“ von Schweden aus betreibt. Man muß auch nicht alles richtig und gut finden, was diese Alternativmedien verbreiten. Für viele Menschen aber die am Zustand der etablierten Medien verzweifeln und die eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Zuständen im allgemeinen und der Regierungspolitik im besonderen vermissen, sind sie geistiges Manna. Sie hätten solidarische und auch kritische Unterstützung verdient statt platter Denunziation, die mit Vorwürfen wie der Verbreitung von „Verschwörungstheorien“ oder gar des Antisemitismus nicht geizt, Beweise aber in der Regel schuldig bleibt. Ohne diese Alternativmedien wäre die Gefahr noch größer, daß die kritische Auseinandersetzung mit den Erzählungen der Leitmedien von rechts monopolisiert wird.

Ein paar Bemerkungen zum Schlagwort „Verschwörungstheorien“, das in jüngerer Zeit einen regelrechten Boom erfahren hat und zu einem Totschlagwort mit Potential zur geistigen Massenvernichtungswaffe geworden ist. Es ist ja kein Geheimnis, wer es in Umlauf gebracht hat. Es geschah am 1. April 1967, und es war kein Scherz. Nachdem aus Meinungsumfragen klar geworden war, daß in den USA fast die Hälfte der Bevölkerung nicht an die offizielle Version glaubte, Präsident John F. Kennedy sei von einem einzelnen Mann ermordet worden, sandte die CIA-Zentrale ein Telegramm an alle Filialen im Ausland, das folgendes besagte: Kritiker der Einzeltäter-These sind als Anhänger einer Verschwörungstheorie zu brandmarken.

Dazu sollten die CIA-Leute ihre weitgespannten Netzwerke in den Medien nutzen. Um die Angriffe der Kritiker zu kontern, sollten die CIA-Agenten „Propagandatechniken“ nutzen. Besonders geeignet seien Buchbesprechungen und Feuilletonartikel. Wo immer es ging, sollte man den Kontrahenten Diskreditierendes unterstellen: mit ihrer Theorie schon „verheiratet“ gewesen zu sein, bevor sie überhaupt Beweise geliefert hätten, politische oder auch finanzielle Interessen zu verfolgen, hastig und ungenau zu arbeiten, „verknallt“ in die eigene Theorie zu sein. So hieß es in diesem Dokument mit der Nummer 1035-960.

Mir begegnete der massive Einsatz von Vorwürfen, „Verschwörungstheorien“ zu folgen oder von antisemitischen Motiven getrieben zu sein, schon früh, nämlich nach meinem Wechsel zur „jungen Welt“ 1995. In deren Umfeld und anfangs auch in der Redaktion hatten vorgebliche Linke der antideutschen Richtung erheblichen Einfluß. Deren Leitthese besteht darin, den Deutschen in ihrer Gesamtheit quasi einen genetischen Defekt zu unterstellen, der sie zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit disponiere. Der deutsche Faschismus war in dieser Logik kein Elitenprojekt, sondern ein Projekt der kleinen Leute. Ich hielt das längere Zeit nur für Irrsinn, der die Antideutschen im telefonzellengroßen Gehege einer Sekte halten würde. Aber da habe ich mich fundamental geirrt. Die Antideutschen sind zu Stichwortgebern für besonders perfide Argumentationen im bürgerlichen Mainstream geworden. Ich denke da nur an das forcierte Gerede über den linken Antisemitismus, mit dem inzwischen jegliche Kritik an den Handlungen des Staates Israel unter Verdacht gestellt wird.

Zu den „Verdiensten“ der Antideutschen gehört es ebenso, daß sie im öffentlichen Raum den Verdacht gegenüber Kapitalismuskritikern etabliert haben, diese folgten antisemitischen Motiven. Daß es einige antideutsche Protagonisten auch bis in die Spitzen von Gliederungen der Linken geschafft haben, gerade in Berlin, sei nur am Rande vermerkt.

Zum Schluß ein paar Bemerkungen zu einem Problemkomplex, den beachten sollte, wer den Gründen des zeitweiligen Niedergangs der Linken nachspürt. Es geht um die Weise, in der sich das Ende der DDR vollzog und sich die PDS als Nachfolgepartei der SED konstituiierte. Mit der offiziellen Erzählung über dieses geschichtliche Kapitel werden wir jeden Tag konfrontiert. Nach ihr ist die DDR von ihrer eigenen Bevölkerung abgeschafft, quasi wegdemonstriert und durch Massenflucht zum Ausbluten gebracht worden. Möglich gemacht habe das ein lieber Mann im Moskauer Kreml, der den Umsturz zuließ und dann den Weg zur deutschen Einheit öffnete. In diesem Sinne ist dem ehemaligen KPdSU-Generalsekretär Michail S. Gorbatschow am dafür passenden Ort ein Denkmal errichtet worden: vor dem Springer-Hochhaus hier in Berlin.

Es geht nicht darum, die großen Potentiale der Unzufriedenheit wegzudiskutieren, die es Ende der 80ere Jahr in der DDR-Bevölkerung gab. Oder die Unfähigkeit der SED-Führung unter dem starrsinnigen Erich Honecker, einen konzeptionellen Neuanfang einzuleiten, wie ihn Walter Ulbricht nach dem Mauerbau 1961 versuchte. Nicht ohne Grund gewannen die Proteste 1989 ihren größten Schwung in den bevölkerungsreichen Industriegebieten Sachsens, wo sie ihre tragende Schicht in der mittleren technischen Intelligenz fanden, gut gebildeten Menschen, die aber meistens weniger verdienten als die Facharbeiter und in materieller Hinsicht für sich auch sonst keine rechte Perspektive sahen.

Wir sollten aber auch nicht die Augen davon verschließen, daß sich der Umsturz von 1989 vor dem Hintergrund von Gorbatschows in der UdSSR schon gescheiterter Politik vollzog. Die „Perestroika“ hatte sich als konzeptionslose Pseudoreform erwiesen, die wirtschaftlich keinen neuen Aufschwung, sondern den Übergang zur Herrschaft der Schattenwirtschaft und dann der kriminellen Oligarchenökonomie einleitete. Entgegen allen Beteuerungen, jedes Land des Ostens könne seinen eigenen Weg gehen, griff Moskau in den „Bruderländern“ ein, insbesondere mit konspirativen Mitteln. Haufenweise Hinweise dazu sind in den 1990er Jahren in den Büchern „Das Komplott“ von Ralph Georg Reuth und Wolfgang Bönte und „Das Geschenk“ von Eberhard Czichon und Heinz Maron gesammelt worden. Die Zukunft mag da mehr an Aufklärung bringen, falls sich irgendwann Moskauer Archive öffnen.

Kein Zweifel besteht angesichts des damals Erlebten aber an einem: Mit dem innerparteilichen Putsch, den der Sturz der Krenz-Schabowski-Führung im Frühwinter 1989 bedeutete, erlangte Gorbatschows Ideologie, also der Gorbatschowismus die Lufthoheit in der sich bald als PDS bezeichnenden Partei. Was sich „Erneuerung“ nannte, war eine Auswechslung des genetischen Codes, ein Paradigmenwechsel. Vom Denken in den Kategorien von Klassen und des Klassenkampfes wechselte die leitende Ideologie nun dahin, die Priorität allgemeinmenschlicher Interessen anzuerkennen. Was eine zeitlang im staatlich organisierten Sozialismus seine Berechtigung gehabt hatte, im Kampf der Systeme ein nukleares Inferno zu verhindern, übertrug sich nun auf das Agieren im Inneren der kapitalistischen Gesellschaften. Systemintegration statt Systemopposition war jetzt programmiert, in der Konsequenz auch das Mitregieren in bürgerlichen Kabinetten. Wobei eine forcierte Entsolidarisierung mit denjenigen erfolgte, die diesen Weg nicht mitgehen wollten. Dafür steht das Bild am Schluß des Wendeparteitags, als Gregor Gysi einen großen Besen überreicht bekam (übrigens genauso wie 1934 Josef Stalin auf dem XVII. Parteitag der KPdSU, dem „Parteitag der Sieger“).

Der Verzicht auf die Perspektive einer humanen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Konkursmasse des Gorbatschowismus – und der Grunddefekt der Linken heute. Wo die Integration in das System in den Vordergrund rückt, wo Regierungsfähigkeit und das Kompatibelsein zum bürgerlichen Parteiensystem zu vorrangigen Zielen werden, bleiben auch auch in der Tagespolitik die Interessen der kleinen Leute schnell auf der Strecke. Wie es auch meine Nachbarn in Ludwigslust erfahren mußten, die von der Linken einfach kein akzeptables Angebot bekommen.