Kultur der Verantwortungslosigkeit

Die Flutkatastrophe im Rheinland – ein Fall von Systemversagen

Von Holger Becker

Mindestens 180 Menschenleben hat das Hochwasser Mitte Juli in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gefordert. Damit ist es die opferreichste Naturkatastrophe im deutschsprachigen Raum seit der Sturmflut vom Februar 1962, in der 340 Menschen vor allem an der Elbe auf dem Gebiet der Stadt Hamburg starben. In die Tausende geht die Zahl der Verletzten und in die Zehntausende die der Betroffenen, die in der Juli-Flut von 2021 Häuser, Wohnungen und anderes Eigentum verloren haben. Viele stehen buchstäblich vor dem Nichts. Am schlimmsten dran sind Menschen in den Tälern der Rhein-Nebenflüsse Ahr (Rheinland-Pfalz) und Erft (Nordrhein-Westfalen).

Hochwasser bei Altenahr-Kreuzberg am 18. Juli 2021
Foto: Martin Seifert, wikimedia commons, CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

Von der ersten Stunde an erklärungsbedürftig war die hohe Zahl der Todesopfer, von denen mehr als 140 im Landkreis Ahrweiler gelebt hatten. Alle drei Kanzlerkandidaten bei der Wahl in diesem Jahr, also Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD), sowie die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), machten sofort den „Klimawandel“ für das unerhörte und von ihnen als singulär suggerierte Ereignis verantwortlich. Sie wurden rasch widerlegt. Malu Dreyers Satz, eine derart schreckliche Situation habe man noch nicht erlebt – gesprochen bei einem gemeinsamen Besuch mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Ahrtal am 18. Juli – verwiesen zwei Geoforscher aus Bonn faktisch ins Reich der Legenden.

Thomas Roggenkamp und Jürgen Herget hatten frühere Hochwasserereignisse des Ahrtals rekonstruiert, darunter auch solche vergangener Jahrhunderte, aus denen zwar keine Meßergebnisse vorliegen, über die aber zum Beispiel alte Pegelmarkierungen an Bauwerken Auskunft geben. Wie sich zeigte, müssen sich bei einer Flut im Juli 1804 etwa ähnlich gewaltige Wassermassen durchs Ahrtal gewälzt haben wie 2021. Auslöser für die damalige Katastrophe, bei der 63 Menschen ihr Leben verloren, war ebenfalls sommerlicher Starkregen. Roggenkamp und Herget ermittelten, wie groß der Abfluß der Ahr zur Zeit des höchsten Wasserstandes gewesen sein muß. Für 1804 kamen sie auf 1000 bis 1300 Kubikmeter pro Sekunde, für die Flut vor ein paar Wochen auf einen Spitzenwert von 1200 Kubikmeter pro Sekunde.

„In der historischen Einordnung zeigt sich, daß es sich bei dem Hochwasser vom Juli 2021 um eine Wiederholung des Hochwassers vom Juli 1804 handelt“, erklärte Roggenkamp Reportern der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) (Ausgabe vom 5. August 2021). Und: „Trotz vergleichbarer Abflußgrößen erreichte das Hochwasser vom Juli 2021 größere Wasserstände als 1804… Die heute dichtere Bebauung des Hochwasserbetts verkleinert die durchströmte Fläche und ließ die Wasserstände lokal überproportional ansteigen.“

Das verweist auf ein Problem, das nach jedem Hochwasser wieder diskutiert wird: das Bauen in Überschwemmungsgebieten, also jenen Arealen, die der Fluß bei sehr hohen Wasserständen seinem Bett einverleibt. In der Bundesrepublik sind bis zu 80 Prozent dieser „Retentionsflächen” an den Flüssen verlorengegangen. Zusammen mit den zahlreichen Begradigungen von Flüssen und Bächen, wegen derer das Wasser schneller fließt, hat das die Hochwassergefahr für Städte und Dörfer gesteigert. Für die Ahr allerdings gab es bereits ein vom Bund und dem Land Rheinland-Pfalz gefördertes Renaturierungsprogramm, das nach einem Hochwasser im Juni 2016 eingeleitet worden war. Es wurde 2018 abgeschlossen und bestand vor allem darin, mit dem Abflachen von Ufern bis dahin verbaute Auen wiederherzustellen.

Flutwellen wie 1804 und 2021 kann die Renaturierung allerdings nicht abwenden. Sie entstehen in der Regel aufgrund extrem starken Regens am Oberlauf der Ahr. Das besondere Problem der Region: Das Ahrgebirge, ein Teil der Eifel, besteht vor allem aus Schiefergestein, das kein Wasser durchläßt. So gelangen die Niederschläge zum großen Teil direkt in die Ahr und deren Zuflüsse, was in enorm kurzer Zeit zu extremen Anstiegen der Pegel führen kann.

Ahr-Hochwasser in Adenau 1910

Wie der Biologe Wolfgang Büchs, Mitautor einer dreibändigen Monografie über das Ahrtal in mehreren Interviews erklärte, könnte der Bau von Rückhaltebecken das Problem erheblich mildern. Nach einem fürchterlichen Hochwasser im Jahr 1910 mit mindestens 52 Todesopfern habe es konkrete Pläne für solche Becken gegeben, die insgesamt 11,3 Millionen Kubikmeter Wasser hätten zurückhalten können. Doch diese wurden in den 1920er Jahren für den Bau des Nürburgrings, der bekannten Motorsport-Rennstrecke, zurückgestellt – und nie wieder aufgenommen.

Die zuständigen Stellen in der Region müßten eigentlich wissen, daß es an der Ahr regelrecht lebensgefährlich werden kann, weil bei den in Abständen auftretenden Extremereignissen kein wirksamer Schutz gegen die Fluten vorhanden ist. Was trotzdem passierte, hat die britische Hydrologin Hannah Cloke mit dem Begriff „monumentales Systemversagen“ mit höchster Wahrscheinlichkeit richtig beschrieben. Die Universitätsprofessorin gehört zu den Entwicklern des Europäischen Hochwasser-Frühwarnsystems EFAS. Das habe schon ab 8. Juli präzise Warnungen vor Hochwasser im Westen Deutschlands an die deutschen Behörden gegeben. Bis zum Tag der Katastrophe, dem 14. Juli, hat EFAS diese Warnungen 25 mal aktualisiert. Darin stand, das Rheinland werde von einer „extremen“ Flut betroffen sein, insbesondere entlang der Flüsse Erft und Ahr, sagte Cloke der „Sunday Times“ (Ausgabe vom 18. Juli 2021). „Die Tatsache, daß Menschen nicht evakuiert wurden oder die Warnungen nicht erhalten haben, legen nahe, daß etwas schiefgegangen ist.“

In Deutschland gebe es ein Versagen auf mehreren Ebenen, hatte Cloke zuvor schon dem ZDF erklärt: „Es fehlt eine bundesweit einheitliche Herangehensweise an Flutrisiken. Es braucht unterschiedliche Flutpläne für verschiedene Szenarien.“ So gebe es Unterschiede zwischen Sturzfluten durch Regen, Stürmen an den Küsten und saisonal auftretendem Hochwasser. Alle hätten unterschiedliche Anforderungen und würden teils unterschiedliche Gebiete bedrohen. „Lokale Verwaltungen haben oft keine ausreichenden Mittel, um sich angemessen darauf vorzubereiten.“

Und nicht die nötige Kompetenz, wie Clokes Kollege von der Universität im englischen Reading Jeff Da Costa in einem FAZ-Interview (Ausgabe vom 21. Juli 2021) ergänzte: „Aber es sind leider oft Menschen für Entscheidungen verantwortlich, die nicht genügend Expertise in diesem Bereich haben“, sagte er. „Es ist für mich unbegreiflich, wie man darauf kommen kann, daß diese Katastrophe nicht vorhersehbar war. Für die betroffenen Regionen wurde ganz klar vor ‘Lebensgefahr’ gewarnt. Mehr geht nicht…Es geht darum, aus den Vorhersagen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und dafür sind nicht Wissenschaftler verantwortlich, sondern Politiker. In Deutschland wird die Verantwortung so lange delegiert, bis niemand mehr zentral verantwortlich ist.“

„Bei allen denkbaren Gefahren können sich die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auf den Zivil- und Katastrophenschutz und die Gefahrenabwehr verlassen“, heißt es auf der Website des Bundesinnenministeriums, das aber eine paar Sätze weiter betont, der Bund habe beim Katastrophenschutz „keine unmittelbaren Zuständigkeiten“. Konkret kümmern müssen sich die Landkreise, kreisfreien Städte und Kommunen. Die Juli-Ereignisse nun haben gezeigt, trotz gegenteiliger Beteuerungen herrscht Wirrwarr im System. Bei der Flut an der Ahr erwies sich der dortige Krisenstab beim Landrat als mangelhaft informiert und überfordert.

In keinem der uns vorliegenden Berichte ist davon die Rede, daß die präzisen EFAS-Warnungen den Krisenstab erreicht hätte oder, falls doch, daß diese ernstgenommen wurden. Auch das Landesamt für Umwelt (LfU) in Mainz, das auf einer speziellen Website alle 15 Minuten und mit automatisierten E-Mails an die Behörden über die Pegelstände informiert, sah keinen Anlaß, die Bevölkerung frühzeitig auf möglicherweise nötige Evakuierungen zum Schutz von Leib und Leben vorzubereiten. Nach den EFAS-Vorhersagen wäre sogar mehr Zeit als genug gewesen, die lokalen, regionalen und zentralen Medien einzuschalten. Noch heute läßt sich auf der Website der „Tagesschau“ unter dem Datum 13. Juli 2021 lediglich die Ankündigung „ergiebiger Regenfälle im Westen“ nachlesen.

Die verheerende Flut im Ahrtal 1804 auf einer Darstellung des wallonischen Zeichners Jean Nicolas Ponsart (1788 bis 1870)

Inzwischen haben mehrere Medien Rekonstruktionen der Abläufe im Ahrtal am 14. Juli veröffentlicht. Aus ihnen geht ziemlich klar hervor: Der Krisenstab des Landkreises Ahrweiler hat viel zu spät den Katastrophenalarm ausgelöst, nämlich um 23.09 Uhr, als kaum noch Chancen für Evakuierungen bestanden. Gegen den laut Gesetz für den Katastrophenschutz zuständigen Landrat Jürgen Pöhler (CDU) hat die Staatsanwaltschaft Koblenz inzwischen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Pöhler, so heißt es, habe sich im Krisenstab in Bad Neuenahr-Ahrweiler nur für einige Zeit am Abend sehen lassen – und zwar zusammen mit dem Innenminister von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz (SPD). „Ich habe einen ruhig und konzentriert arbeitenden Stab erlebt“, sagte der später. Lewentz will die Katastrophenzentrale in Ahrweiler gegen 19.30 Uhr verlassen haben.

Da hatte die Flut bereits die ersten Meßvorrichtungen für die Wasserstände zerstört und in der nur zwanzig Kilometer entfernten Ortschaft Schuld den ersten Stock der Häuser erreicht.

Es wird also mehr zu ermitteln sein als das mutmaßliche Versagen eines Landrats. Und es müssen einige recht unangenehme Wahrheiten ausgesprochen werden. Zum Beispiel:

–  Der Staat investiert zu wenig in den Hochwasserschutz, der als eine Aufgabe der Daseinsvorsorge zu begreifen ist. An der Ahr müßte offensichtlich das Geld für den Bau von Rückhaltebecken investiert werden. Auch für den Küstenschutz an Nord- und Ostsee steht zu wenig Geld zur Verfügung.

– Es gibt kein flächendeckendes Warnsystem in Deutschland. Schon in den 1990er Jahren hat der Bund die Finanzierung von Betrieb und Wartung der vorher über Jahrzehnte in Ost und West verläßlichen Warnsirenen eingestellt. Für einen weiteren Betrieb konnten, mußten aber nicht die zumeist chronisch unterfinanzierten Kommunen sorgen. Sirenen sind aber nach wie vor die einzige verläßliche Möglichkeit, die Menschen am Tag und in der Nacht auf Gefahrensituationen hinzuweisen. Der Bund hat jetzt 88 Millionen Euro für ein „Sirenenprogramm“ versprochen. Aus den Landesregierungen kommt die Kritik, das sei viel zu wenig.

– Die Konzentration auf Warn-Apps wie „Nina“ und „Katwarn“, die über Gefahren per Smartphone informieren, ist ein teuer bezahlter Holzweg. Statt 20 Millionen Euro allein in die Entwicklung von „Nina“ hätte in Verstand investiert werden können. Es ist ja nicht schwer herauszufinden, daß immer noch viele Menschen kein dafür geeignetes Smartphone haben oder nachts die Warnmeldungen nicht bemerken. Sprichwörtlich sind die Funklöcher in Deutschland, in denen die Smartphones keine Signale empfangen. Und wie auch die jüngsten Flutereignisse im Rheinland zeigten, brechen die Mobilfunksysteme schnell zusammen und fallen dann für den Katastrophenschutz aus.

– Die wichtigsten praktischen Akteure im Katastrophenschutz sind die Feuerwehrleute. Das gilt auch bei Hochwasserereignissen. Es gibt aber in Deutschland kaum noch Berufsfeuerwehren, die ihre Dienste verläßlich am Tag und in der Nacht leisten. Bundesweit gehören 95 Prozent der Feuerwehrleute örtlichen Freiwilligen Feuerwehren an. Die leisten eine äußerst verdienstvolle Arbeit, aber sind zunehmend überfordert. Oft arbeiten sie im Hauptberuf weit entfernt vom Wohnort und können deshalb an Einsätzen nicht teilnehmen. Zudem finden die Freiwilligen Feuerwehren immer weniger Nachwuchs, so daß die Zahl der Feuerwehrleute und Feuerwehrstandorte abnimmt.

Am unangenehmsten aber ist sicher die Feststellung: Es ist eine Kultur der Verantwortungslosigkeit eingezogen. Die seit Jahrzehnten herrschende neoliberale Ideologie, die das Staatliche zum überwiegend Überflüssigen erklärt hat und sich nicht zuletzt in der Herrschaft der schwarzen Null ausdrückt, bewirkte nicht nur materielle Zerrüttungen zum Beispiel in Form kaputtgesparter Verkehrsinfrastruktur oder maroder Schulbauten, sondern auch geistig-mentale Verwerfungen. Wo das Gemeinwesen nicht viel gilt, wird es auch an der Motivation mangeln, ihm zu dienen, und am Erwerb der nötigen Kompetenz, dies effektiv zu tun.

September 2021

Anmerkung März 2022: Ein Untersuchungsausschuß des Landtages Rheinland-Pfalz zur Katastrophe im Ahrtal bestätigt die Aussagen dieses Textes.