Schlag in trübes Wasser

FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat sich in die Nesseln gesetzt – als Juror für den Ludwig-Börne-Preis. Den will er Rudolf Augstein zukommen lassen

Von Holger Becker

Sein Chef heiße Frank Schirrmacher, und der trete redaktionsintern manchmal sogar als Marcel-Reich-Ranicki-Imitator auf. Als Florian Illies im vergangenen November schon zum zweiten Mal auf dem Besucherstuhl in Harald Schmidts Kultshow saß, war er sichtlich bemüht, seinem Ruf als Klassenprimus in der Riege flippiger junger Journalisten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) gerecht zu werden. Der Autor des Buches „Generation Golf“ ist verantwortlicher Redakteur jener „Berliner Seiten“, die durchaus etwas anderes sein wollen als ein fleißig informierender hauptstädtischer Lokalteil der FAZ.

Unbekümmert um den Rest des Blattes wird dort unter der Oberaufsicht des Mitherausgebers Schirrmacher ein Stil erprobt, der ungewöhnlich ist für die ansonsten auf Seriosität und Verläßlichkeit getrimmte FAZ. Denn die „Berliner Seiten“ stellen in den Vordergrund, was ihre Redakteure für witzig oder formaljournalistisch besonders gelungen halten. So kann es den Lesern passieren, daß sie als „Aufmacher“ eine Reportage über Saatkrähen erblicken, die aus Rußland in ihre Berliner Winterquartiere ziehen. Die Berliner Redakteure sind für ihren Patron im fernen Frankfurt am Main so etwas wie Testpiloten. „Die ganze Zeitung lernt von diesem schönen Produkt“, erklärte Schirrmacher in einem Interview.

Festakt vertagt
Für Aufsehen und Verwunderung sorgt aber nicht nur Schirrmachers Auffassung von seiner Rolle als Kopf hinter der Zeitung. Der 41jährige, der offensichtlich meint, das Zeug zum Popstar á la Marcel Reich-Ranicki zu haben, versucht sich auch auf anderen Bühnen. Aber einer seiner Auftritte im öffentlichen Leben jenseits der Zeitung endete vorläufig mit einem Schlag in trübes Wasser.

Zum alleinigen Juror für die Vergabe des Ludwig-Börne-Preises im Jahre 2000 bestimmt, hatte Schirrmacher ordentlich auf die Pauke gehauen. Zur allgemeinen Überraschung gab er im letzten Juni bekannt, daß der angesehene deutsche Journalistikpreis an den „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein gehen solle, und zwar für dessen Lebenswerk. Augstein, so ließ der Juror wissen, stehe „wie kaum ein anderer Publizist in der aufklärerischen und freiheitlichen Tradition, die Ludwig Börne in der deutschen Geistesgeschichte begründete“. Ludwig Börne, ein wichtiger publizistischer Wegbereiter der Revolution von 1848, war 1786 im Judengetto zu Frankfurt am Main als Löw Baruch geboren worden.

Doch aus dem großen Festakt zu Ehren des „Spiegel“-Herausgebers wurde nichts: Die Feierstunde sollte zum 77. Geburtstag Augsteins am Sonntag, dem 5. November 2000, in der Frankfurter Paulskirche stattfinden – am Freitag davor wurde sie von der Ludwig-Börne-Stiftung plötzlich abgesagt. Begründung: Man müsse die Sache verschieben, da Augstein schwer erkrankt sei.

Augstein zu krank, um einen Preis in Empfang zu nehmen? Die Zweifler sahen sich bestätigt, als „Die Woche“ kurz darauf meldete, der „Spiegel“-Gründer sei am Montag, dem 6. November, „putzmunter“ in der Redaktionskonferenz des Magazins erschienen. Was also war wirklich geschehen?

Arge Probleme
Alles sieht danach aus, als könnte Schirrmacher in diesem Fall ein Opfer eigener Selbstherrlichkeit werden. Großzügig war er darüber hinweggegangen, daß sein Urteil als Juror arge Probleme hervorrufen mußte. Denn in den letzten Jahren hatten sich profilierte Autoren mehrfach öffentlich mit Augsteins Personal- und Veröffentlichungspolitik in den frühen Jahren des „Spiegel“ auseinandergesetzt. So wies der frühere Leiter des Adolf-Grimme-Instituts, Lutz Hachmeister, 1996 in der taz auf einige SS-Offiziere hin, die Augstein in den frühen 50er Jahren im „Spiegel“ arbeiten und so schreiben ließ, daß aus dem Magazin damals eine publizistische Lobby und Weißwaschanstalt für die „alten Kameraden“ geworden sei. Schirrmacher hätte ahnen können, daß eine Ehrung Augsteins neue Enthüllungen herausfordern würde!

So kam es auch. Mitte September informierte der Berliner Wissenschaftler Gerhard Brack den FAZ-Herausgeber über neue Funde im Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ). Dort hatte der Düsseldorfer Soziologe und Publizist Hersch Fischler Dokumente aufgestöbert, die belegen, daß sich das Hamburger Magazin und sein Herausgeber einer kardinalen und bis heute nicht revidierten Geschichtsfälschung schuldig machten.

In seinem Brief an Schirrmacher schilderte Brack die Vorgänge: 1959/60 hatte der „Spiegel“ eine Artikelserie über die Brandstiftung im Reichstag im Jahr 1933 veröffentlicht, die den jungen holländischen Anarcho-Kommunisten Marinus van der Lubbe als alleinigen Täter auswies. Diese Darstellung, die auf Recherchen des niedersächsischen Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias beruhte, sorgte für Aufsehen. Denn bis dahin war der Brand allgemein als Werk der Nazis angesehen worden. Nun standen die als Unschuldslämmer da. Und „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein höchstpersönlich hatte sich für die Sorgfalt der Nachforschungen verbürgt.

Unerwünscht
Angesichts der allgemeinen Verblüffung beauftragte das IfZ 1960 den Historiker Hans Schneider, die Geschichtsschreibung des „Spiegel“ anhand der Quellen zu überprüfen. Schneider sollte darüber einen Aufsatz in den vom IfZ herausgegebenen „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ veröffentlichen. Doch das Ergebnis seiner Studien wäre für den „Spiegel“ und Tobias höchst schädlich gewesen, weil nach seinen Erkenntnissen die Einzeltäterthese „nur durch eine Art der Argumentation und Dokumentation gewonnen und glaubhaft gemacht werden konnte, die in der Wissenschaft ohne Beispiel ist und vom arglosen Leser nicht für möglich gehalten wird“.

Schneider wurde ausgebremst. 1962 entzog das IfZ ihm den Forschungsauftrag. Fischler fand eine Aktennotiz, die der damalige IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen in diesem Zusammenhang über ein Gespräch mit dem Institutsanwalt Delp angefertigt hatte. In diesem Papier hielt Mommsen fest, das Institut habe ein Interesse, „die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern“. Wobei er zur Begründung angab, daß „aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht scheint“. Außerdem wurde damals beschlossen, gegen Schneiders Veröffentlichungsvorhaben „rasch und energisch alle Druckmittel“ auszuspielen, und zwar auch solche, die „einer endgültigen juristischen Prüfung nicht standhalten“.

Tatsächlich konnte Hans Schneider – er ist 1994 verstorben – seine Ergebnisse nicht veröffentlichen. Hans Mommsen hingegen publizierte 1964 in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ einen aufsehenerregenden Aufsatz, in dem er die Darstellung des „Spiegel“ bestätigte.
Ein Skandal der Publizistik, ein Skandal der Wissenschaft – doch Frank Schirrmacher antwortete nicht auf Gerhard Bracks Brief. Der hatte vorgeschlagen, daß doch die FAZ als erste Zeitung über diese Sache unterrichten könnte. Auch ein weiterer Anlauf, den Juror zur Diskussion des Problems zu bewegen, fruchtete nichts.

Am 12. Oktober wies Hersch Fischler den FAZ-Herausgeber auf Gründe hin, die der Preisverleihung an Augstein entgegenstünden: Mit der Serie zum Reichstagsbrand, so bemängelte Fischler, habe der „Spiegel“ einem ranghohen Kriminalisten ein falsches Alibi geliefert. Dieser Mann namens Walter Zirpins habe im Reichstagsbrandprozess falsch über Tatortspuren ausgesagt. In den 40er und 50er Jahren sei er dann Informant des „Spiegel“ gewesen, der Zirpins’ Wiederverwendung als Kriminalbeamter publizistisch unterstützt und dessen Rolle als Organisator des Goldraubs im Getto Lodz verschwiegen habe.

„Herr Schirrmacher zeigte sich ignorant. Ich mußte ihn anmahnen, um die Adresse der Stiftung zu erfahren, Schirrmacher spielte auf Zeit“, sagt Fischler. Das sei dann zu viel geworden Am Morgen des 3. November, zwei Tage vor der geplanten Preisverleihung, faxte Fischler dem FAZ-Mann einen Brief mit der Frage, welche Schäden er bei der Ludwig-Börne-Stiftung mit der Preisverleihung an einen Mann anrichte, der geholfen habe, Täter des Judenmords zu schützen und deren Verbrechen zu vertuschen. Kopien dieses Schreibens seien unter anderem an den Stifter Michael A. Gotthelf, das Präsidiumsmitglied der Stiftung Salomon Korn und den Ludwig-Börne-Preisträger Marcel Reich-Ranicki gegangen.

In der Bredouille
Wenige Stunden später wurde die sonntägliche Feierstunde abgesagt. Und die Ludwig-Börne-Stiftung steckt nun tatsächlich in einer Bredouille, die Schirrmacher verursacht hat. Salomon Korn teilte auf Anfrage mit, zur Kritik der Preisvergabe an Augstein wolle sich die Stiftung nicht äußern. Sie prüfe die Begründung des Jurors nicht nach, sagte Korn. Ein nachholender Festakt für den Preisträger Augstein ist inzwischen auf den 13. Mai festgesetzt.

Doch Hersch Fischler verlangt weiterhin, daß die Stiftung zu den Vorwürfen gegen den Ludwig-Börne-Preis-Kandidaten Stellung nimmt. Ansonsten decke sie Augsteins beharrliche und antiaufklärerische Verweigerung, eine Geschichtsfälschung zu revidieren.

Ob Augstein am 13. Mai den Preis tatsächlich in Empfang nehmen kann, ist auf Grund des Medieninteresses im In- und Ausland fraglich. Die Aktenlage sei so dicht, daß sie dem „Spiegel“-Herausgeber den Zugang zur Paulskirche versperren könne, meinte jüngst die „Neue Zürcher Zeitung“.

Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift “Journalist”, Ausgabe 2/2001, Seiten 32/33. Die “Berliner Seiten” der FAZ stellen mit dem Ende des Juni 2002 ihr Erscheinen ein, nachdem 12 Redakteure, die für diesen Lokalteil beschäftigt worden waren, eine Steigerung der Auflage in Berlin um gerade mal 1500 Exemplare bewirkt hatten. Rudolf Augstein erhielt den Börne-Preis mit Ach und Krach dann doch noch am 13. Mai 2001. Einen Preisträger für das Jahr 2000 gibt es aufgrund der beschriebenen Vorgänge nicht.