Reise in unwirtliches Gelände

Bahnstreiks, Luxemburgmörder und Konrad Adenauer – eine Reminiszenz

Von Holger Becker

Gustav Noske (rechts) mit General Walther von Lüttwitz, einer der maßgeblichen Figuren des Kapp-Putsches 1920
Foto: ADN/Zentralbild, Bundesarchiv, Bild 183-1989-0718-501 / CC-BY-SA 3.0

Jüngste Streiks der Lokführergewerkschaft GDL lassen auf der Gegenseite die Rufe lauter werden, in Bereichen der Daseinsvorsorge das Streikrecht einzuschränken. Dazu ein kurzer Blick in die deutsche Geschichte:

Schon Gustav Noske (SPD), damals „Volksbeauftragter für Heer und Marine“, beschäftigte sich damit, wie in Unternehmen der Daseinsvorsorge Streiks auszubremsen seien. Das war im Januar 1919, also während jener Revolution, in deren Verlauf er und sein Parteichef Friedrich Ebert Freikorps und andere Bluthunde auf alle losließen, die grundlegend andere Verhältnisse wollten. Noske beratschlagte damals mit dem Hauptmann Waldemar Pabst – wenige Tage später sollte der als faktischer Chef der Garde-Kavallerie-Schützendivision (GKSD) mit Noskes Billigung die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts befehligen und organisieren –, wie in diesen Tagen „der Gang der lebenswichtigen Betriebe aufrechtzuerhalten“ (Pabst) sei. Da erschien bei ihnen ein Reserveleutnant namens Otto Lummitzsch. Der war Architekt und am ersten deutschen Gaseinsatz im April 1915 bei Ypern beteiligt gewesen. Jetzt unterbreitete er einen detaillierten Plan für eine Streikbrecher-Organisation. Sie wurde als Technische Abteilung (TA) der GKSD gegründet, von Lummitzsch geleitet und unterstand als bewaffnete Formation direkt dem Hauptmann Pabst.

Im Sinne ihrer Erfinder bewährte sich die TA bei den großen Streiks im März 1919 in Berlin. Sie fuhr zum Beispiel das Kraftwerk Moabit im Notbetrieb, während die GKSD in den Arbeitervierteln des Berliner Ostens regelrechte Massaker anrichtete. Andere Freikorps zogen schnell nach und stellten eigene Technische Abteilungen auf. In der Berliner Arbeiterschaft waren diese Streikbrecher-Trupps als „Noske-Hunde“ verschrien.

Letzter Streik der Beamten
Die  bewaffneten Technischen Abteilungen waren die Urmutter der späteren Technischen Nothilfe (TN), an deren Spitze wiederum Lummitzsch stand und die im März 1920 beim sogenannten Kapp-Putsch auf der Seite der Putschisten agierte – gegen die gewählte Regierung aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei. Die TN sollte den Erfolg des Generalstreiks verhindern, der dem protofaschistischen Umsturzversuch dann doch ein Ende bereitete. Die TN, die schon im Janaur 1920 gegen streikende Eisenbahner im Einsatz vorgegangen war, allerdings durfte weitermachen und kam zum Beispiel gegen den großen Eisenbahnerstreik im Februar 1922 zum Einsatz. Die Eisenbahner waren damals zu einem großen Teil Beamte. Und die Weimarer Verfassung und auch die Gerichte erkannten bis dahin eigentlich das Streikrecht für Beamte an. Doch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert verbot allen Beamten am 1. Februar 1922 jeglichen Streik. Ebert nahm die Verordnung zwar am 9. Februar 1922 zurück. Dennoch blieb dieser Eisenbahnerstreik der letzte Beamtenstreik in Deutschland – auch weil am Schluß eine Niederlage für die Streikenden stand. Dazu hatten die TN, große Teile der Presse mit massiver Hetze gegen den Streik und auch die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) beigetragen, die sich gegen die Eisenbahner stellte. Den damaligen Chef der GDL Heinrich Sperlbaum verhaftete die Polizei gleich am ersten Tage des Streiks.

Verkehrsstreik in Berlin 1919, eines der ersten Bewährungsfelder für Gustav Noskes Nothilfe
Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1981-121-27 / CC-BY-SA 3.0

In den späteren Jahren der Weimarer Republik wandte sich die Technische Nothilfe mehr und mehr dem technischen Katastrophenschutz und dem Luftschutz zu. Und unter Hitler, dessen Bewegung ohnehin viele ehemalige Freikorpskämpfer zugeströmt waren, diente sie sich dem Regime an, arbeitete mit SA und SS zusammen, ließ ihre Mitglieder in eigener Uniform in geschlossenen Formationen bei Aufmärschen paradieren. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands halfen TN-Sprengmeister, die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichzumachen. Kein Wunder, daß die Alliierten die TN 1945 nach ihrem Sieg über Nazideutschland auflösten. 

Was aber keinen Schlußpunkt setzte, sondern höchstens ein Semikolon. Denn schon 1950 ging’s weiter. Da erhielt TN-Gründer Otto Lummitzsch von Bundesinnenminister Gustav Heinemann den Auftrag, das Technische Hilfswerk (THW) zu gründen. Was er mit Hilfe ehemaliger TN-Kameraden auch tat. Nach heutiger Lesart des THW, das sich in der Zwischenzeit unzweifelhaft in vielen Notfällen verdient gemacht hat, ging es damals nur um den Katastrophen- und Luftschutz. Das stimmt aber nicht. Denn der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) stritt sich lange mit dem Bundesinnenministerium um den vorgesehenen Einsatz des THW bei Streiks. Als die Regierung am 25. August 1953 das THW als nicht-rechtsfähige und dem BMI unterstellte Bundesanstalt errichtete, hatte der Widerstand der Gewerkschaften nicht aufgehört. Er richtete sich gegen das, was der Errichtungserlaß als eine der Aufgaben der neuen Aufgaben der Anstalt beschrieb: „Leistung technischer Hilfe bei der Beseitigung von öffentlichen Notständen, durch welche die lebenswichtige Versorgung der Bevölkerung, der öffentliche Gesundheitsdienst oder der lebensnotwendige Verkehr gefährdet werden,  sofern alle anderen hierfür vorgesehenen Maßnahmen nicht ausreichen.“

Aus der Zeitschrift der Technischen Nothilfe „Die Räder“, Ausgabe 3/4-1920: Reichsverkehrsminister Wilhelm Groener dankt der Nothilfe für ihren Einsatz beim Eisenbahnerstreik im Januar 1920. Groener war im Range eines Generalleutnants im Herbst 1918 faktisch Chef des kaiserlichen Heeres, zuvor Chef des Feldeisenbahnwesens gewesen

Vor allem Kanzler Konrad Adenauer hatte auf einen Beschluß zur Gründung der Bundesanstalt vor der Bundestagswahl im September 1953 gedrängt. Laut Protokoll der Kabinettssitzung am 25. August hielt er es „für ausschlaggebend, daß gerade unmittelbar nach dem Wahltag Lagen, die den Einsatz des Technischen Hilfswerks erforderlich machen könnten, nicht völlig ausgeschlossen seien.“ Allerdings war man sich am Regierungstisch einig, „daß der Erlaß bis auf weiteres nicht veröffentlicht werden soll“.

Konsequenz der Privatisierung
Die von Adenauer befürchteten Lagen – der Arbeiteraufstand vom 17. Juni im Osten war nicht lange her, der Protest im Westen gegen die Wiederbewaffnung nicht eben klein – traten nicht ein. Alles in allem konsolidierte sich – in bewußter Konkurrenz zur DDR – in der Bundesrepublik ein Wirtschafts- und Sozialmodell, das in Parteiprogrammen und Lehrbüchern als „soziale Marktwirtschaft“, in den Feuilletons der Zeitungen oft als „rheinischer Kapitalismus“ bezeichnet wird – mit kommoden Einkommens- und Lebensverhältnissen für weite Teile der Bevölkerung. Dazu gehörte: Der Staat garantierte hohe Standards und die Verläßlichkeit in der Daseinvorsorge. Die dort Beschäftigten genossen zu einem großen Teil die Privilegien des Beamtendaseins oder sahen sich als Angestellte mit ausreichendem Einkommen versehen. Zum Abschied vom „rheinischen Kapitalismus“, der die soziale Attraktivität der Bundesrepublik gegenüber dem Osten und damit den einstweiligen Sieg im Systemwettstreit in der Mitte Europas gesichert hatte,  gehörte es nach 1990 aber auch, öffentliche Unternehmen wie Bahn und Post oder auch Krankenhäuser und Wasserbetriebe der Privatwirtschaft und damit den dortigen Mechanismen sozialer Auseinandersetzung zu überlassen. Daseinsvorsorge in profitorientierter privater Hand bei eingeschränktem Streikrecht, also der Möglichkeit der Beschäftigten, soziale Verbesserungen zu erkämpfen – das würde in reichlich unwirtliches Gelände führen und eine weitere Stufe der Brutalisierung kapitalistischen Wirtschaftens markieren.

Literatur zum Thema:
Andreas Linhardt: Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik. Books on Demand 2006. 676 Seiten, 69,90 Euro

Klaus Gietinger: Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere. Nautilus 2008, 544 Seiten, 39,90 Euro