Erfolg auf krummen Wegen
Im Dienste der Revolution, Napoleons und der Bourbonen – eine neue Talleyrand-Biographie
Von Holger Becker
„Scheiße in einem Seidenstrumpf“, so nannte Napoleon Bonaparte am 28. Januar 1809 im französischen Kronrat seinen Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Talleyrand (1754 bis 1838), der ein Jahrzehnt zuvor Napoleons Weg auf den Kaiserthron mit geebnet hatte, konspirierte zu dieser Zeit mit dem russischen Zaren Alexander I. Sein Ziel war nun der Sturz des Korsen. Damit beging der frühere Kirchenmann eigentlich Landesverrat.
Bedenkt man das Bonmot des großen Napoleon, wundert es schon, wenn sich heutzutage jemand freiwillig selbst mit Talleyrand, dem damaligen geheimen Verbündeten des Herrschers aller Reußen, vergleicht. Wer? Peter-Michael Diestel war es, der letzte DDR-Innenminister. Er ließ sich in Talleyrand-Pose auf einem Ölbild verewigen, das dann als Titelbild für Diestels Autobiographie diente. Diestel würdigte sein Vorbild mit dem Argument, Talleyrand habe auf dem Wiener Kongreß nach Napoleons Niederlage so geschickt agiert, daß Frankreich keine Gebietsverluste erlitt.
Es ist wohl so: Der Fortschritt, der selten einen geraden Weg nimmt, braucht auch die nicht ganz so geraden Figuren. Europa, wie es sich nach dem Wiener Kongreß von 1814/1815 präsentierte, war nicht mehr das Europa der Zeit vor 1789. Trotz der antiliberal-reaktionären Intention etlicher von den verhandelnden Mächten entsandter Teilnehmer – die Ergebnisse der Französischen Revolution und die Fortschritte, die Napoleons Herrschaft gebracht hatte, waren nicht zurückzudrehen. Das betraf vor allem die Gewerbefreiheit und andere bürgerliche Rechte. Das Heilige Römische Gespensterreich Deutscher Nation war in die Gruft geschickt worden und konnte sich nicht wieder herausrappeln, auch wenn ein Freiherr vom Stein, der in Wien als russischer Emissär teilnahm, dies wollte.
Insbesondere die Landkarte Deutschlands hatte eine kräftige Bereinigung erfahren durch die Abschaffung zahlreicher reichsunmittelbarer weltlicher (Mediatisierung) und kirchlicher (Säkularisierung) Herrschaftsgebiete. Sogar einige von Napoleon konstruierte Staaten des Rheinbundes behielten ihre Gestalt: so das Königreich Württemberg, so die Großherzogtümer Baden und Hessen-Darmstadt. Alles in allem manifestierte sich in den Ergebnissen des Wiener Kongresses das, was unter den gegebenen Kräfteverhältnissen an Fortschritten in Staatsverfassung und -verwaltung machbar war. Und das war eben eine „gründlich durchlüftete Fürstenherrschaft” (Peter Hacks) , auch wenn spätere Geschichtsschreibung und -propaganda dies anders sehen wollte und vor allem die zivilgesellschaftlichen Rüpeleien obskurer Figuren wie Friedrich-Ludwig Jahn oder Ernst-Moritz Arndt lobte.
Auch in Frankreich blieb unter der wiedereingesetzten Bourbonenherrschaft vieles beim Neuen. In seiner neuen Talleyrand-Biographie beschreibt Johannes Willms die Rolle seines Helden als Außenminister nun Ludwigs XVIII. Der wendige Talleyrand, der dem Hochadel entstammte, den seine Karriere als Priester bis auf einen Bischofssitz führte, der in der Französischen Revolution vom Klerus in den Dritten Stand wechselte und der nach Napoleons Verbannung auf die Insel Elba Frankreichs Interimsregierung führte, wurde nun zur Haßfigur bei den Ultras der bourbonischen Restauration. Diese Leute waren mit dem König aus der Emigration gekommen und führten sich als Sieger auf. Vor allem sehnten sie eine Nacht der langen Messer herbei, in der sie insbesondere mit allen abrechnen wollten, die unter Napoleon Bonaparte Karriere gemacht hatten.
Doch dazu kam es nicht. Viele Politiker, Beamte und Militärs blieben in ihren Ämtern. Der enteignete Kirchen- und Adelsbesitz wurde nicht „rückübertragen“, Glaubens-, Gewissens- und Pressefreiheit als wenigstens formale Freiheitsrechte blieben ebenso bestehen wie die Geschworenengerichte und die von Napoleon verliehenen Adelstitel, Pensionen und militärischen Dienstgrade. Wie Willms uns zeigt, spielte Talleyrand dabei eine entscheidende Rolle. In der Restauration sah er den einzigen Ausweg nach Frankreichs Niederlage unter Napoleon. Aber Talleyrand begriff, so Willms: „Die Restauration durfte die gesellschaftliche Ordnung, in Sonderheit die freiheitlichen und vermögensrechtlichen Errungenschaften der Revolution nicht antasten.“
Wem fallen bei dieser Konstellation keine Parallelen zur deutschen Situation in den Jahren nach 1989/90 ein? Ein talleyrandistisches Programm hätte dem Osten zum Beispiel die „Abwicklungen“ in Wissenschaft, Bildung und Kultur oder das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ erspart. Und vor allem die Gauck-Behörde als Inquisitionsinstrument einer staatspolitisch in mancherlei Hinsicht unklugen Restauration. In diesem Lichte ist es folgerichtig und durchaus auch mutig, wenn sich Diestel trotz Bonapartes Verdikt zu Talleyrand, dem krummen Hund, bekennt.