„Halten Sie die Darstellung für sachgerecht?“

Ein Brief aus dem Jahre 2001 an Joseph Fischer

Herrn
Bundesaußenminister
Joschka Fischer
Auswärtiges Amt
Werderscher Markt 1
11013 Berlin

Berlin, den 6. Januar 2001

Sehr geehrter Herr Minister Fischer,

als Journalist beschäftige ich mich intensiv mit Fragen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber auch mit deren heutiger öffentlicher Darstellung. Im Zuge von Recherchen habe ich mir die Internetseite des Auswärtigen Amtes angesehen.  Sie enthält unter dem Rubrum „Geschichte“ eine geraffte Darstellung der Entwicklung des Auswärtigen Amtes seit seiner Gründung im Jahre 1870. Dieser Text stammt aus der Feder von Ludwig Biewer. Da sich dieser Aufsatz aber auf der offiziellen Homepage des Auswärtigen Amtes als einzige Darstellung zur Geschichte der Institution findet, muß ich davon ausgehen, daß er offiziellen Charakter und also die Billigung der Leitung des Amtes hat. Deshalb erlaube ich mir, Ihnen als Minister einige Fragen in dieser Angelegenheit zu stellen. Sie betreffen die Art und Weise, in der die Rolle des Auswärtigen Amtes zur Zeit des NS-Regimes beschrieben wird:

1. Zusammenfassend heißt es in der besagten Darstellung: „Die geringe Zahl der aktiven Widerstandskämpfer aus dem Auswärtigen Dienst zeigt, daß das Auswärtige Amt zwischen 1933 und 1945 kein Hort des Widerstandes gegen die braune Tyrannei war, aber es war genauso wenig eine von der SS beherrschte nationalsozialistische Behörde. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte: es gab einige wenige überzeugte Gegner des Nationalsozialismus und einige fanatische Anhänger dieser Ideologie unter den deutschen Diplomaten, daneben aber eine erhebliche Zahl von Mitläufern und Gleichgültigen, auch Menschen, die sich irgendwie arrangieren wollten und mußten. Der Auswärtige Dienst war in dieser Hinsicht nicht besser, aber auch nicht schlechter als die übrigen Deutschen.“

Halten Sie, Herr Minister, diese Wertung tatsächlich für gerechtfertigt, die suggeriert ein einfacher deutscher Wehrmachtssoldat oder Postbeamter trage das gleiche Maß an Verantwortung für die Verbrechen des Nazisystems wie die Elitebeamten des Auswärtigen Dienstes? Läßt sich die – in besagtem Text gar nicht erwähnte – Tatsache bestreiten, daß das Auswärtige Amt an der Planung und Ausführung der verbrecherischen Überfälle Nazideutschlands auf zahlreiche Staaten beteiligt war? Halten Sie es im Sinne einer sachgerechten Bewertung für ausreichend, davon zu sprechen, das Auswärtige Amt sei keine „von der SS beherrschte nationalsozialistische Behörde“ gewesen?

2. In der Darstellung heißt es: „Aus dem Deutschlandreferat wurde zur Kontaktpflege mit der NSDAP und ihren Gliederungen, mit SS, SD und Reichssicherheitshauptamt eine ganze Abteilung gebildet, die 1943 Ribbentrop direkt unterstellt und in die Gruppen ´Inland I´ und ´Inland II´ aufgeteilt wurde. In dieser Abteilung wurden auch die ´jüdischen Angelegenheiten´ bearbeitet, und damit war das Auswärtige Amt in die ´Endlösung der Judenfrage´ verstrickt. Die ganze Tragik des Amts jener Jahre zeigen die Akten der Abteilung Inland im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts: dort ist das einzige erhaltene Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 überliefert, auf der die sog. ´Endlösung der Judenfrage´ und damit der systematische Massenmord an Millionen Menschen beschlossen wurde.“

Sehen Sie mit dieser Passage die Rolle des Auswärtigen Amtes beim Völkermord an den Juden sachgerecht beschrieben?

3. In der Darstellung wird weder das Todesurteil gegen den NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop im Nürnberger Prozeß gegen Hauptkriegsverbrecher 1946 noch der Nürnberger „Wilhelmstraßenprozeß“ von 1948/49 erwähnt, in dessen Ergebnis auch hohe Beamte des Auswärtigen Amtes verurteilt worden sind, unter ihnen der ehemalige Staatssekretär Ernst von Weizsäcker und Edmund Veesenmayer, der seitens des Auswärtigen Amtes die Deportation ungarischer Juden organisierte. Gibt es Gründe für ein Beiseitelassen dieser kardinalen geschichtlichen Tatbestände, zu denen auch die frühzeitige Amnestierung der im „Wilhelmstraßenprozeß“ Verurteilten durch amerikanische Behörden gehört? Wie sehen Sie die in besagtem Text ebenfalls nicht behandelte Problematik, daß in den frühen Jahren der Bundesrepublik hochbelastete Ribbentrop-Diplomaten und andere Nazitäter in nicht geringer Zahl  Wiederverwendung im Auswärtigen Amt fanden?

Sehr geehrter Herr Minister, für eine baldige Antwort auf meine Fragen wäre ich Ihnen dankbar und sehr verbunden.

Mit freundlichen Grüßen

Holger Becker