Sabotierte Volksfront

Dieter Schillers Aufsätze über das linke Mediengenie Willi Münzenberg

In den letzten Wochen war wieder häufiger vom „Hitler-Stalin-Pakt“ die Rede, jenem Nichtangriffsvertrag zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion, den am 24. August 1939 (datiert auf den 23. des Monats) in Moskau die Außenminister beider Länder, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, unterschrieben. Dem Zeitgeist verhaftet, kommentierten deutsche Medien das damalige Einschwenken der Sowjetunion auf ein Abkommen mit Hitlerdeutschland in dem Sinne, daß Moskau damit gleichrangig mitschuldig geworden sei am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Das Europäische Parlament hatte diese tendenzielle Verharmlosung des Naziregimes schon 2009 per Beschluß zum Programm erhoben. Diese feiert jetzt im Zuge der Propagandaschlachten des Ukrainekriegs rauschende Feste.

Man kann über Stalins damalige Entscheidung lange diskutieren, nicht von der Hand zu weisen ist: Hitler wollte den Krieg im Osten. Er war, wie sich schon in „Mein Kampf“ nachlesen läßt, Hauptpunkt seines Programms. Moskau wollte den Krieg, dessen Opfer die Sowjetunion werden sollte, selbstverständlich nicht. Von den Westmächten Frankreich und Großbritannien in Verhandlungen über ein Bündnis gegen die aggressiven Bestrebungen Deutschlands verschaukelt, wählte es die Variante der taktischen Vereinbarung mit dem schlimmsten Feind, die dann mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion keine zwei Jahre später hinfällig war. Als macht- und interessenpolitische Entscheidung eines Staates zum Zwecke des Zeit- und Raumgewinns ist der Abschluß des Paktes verständlich, wenn auch „moralisch“ nicht unbedingt akzeptabel, wie schon Rußlands Präsident Wladimir Putin 2009 in seinem „Brief an die Polen“ bemerkte.

Weitaus schwieriger noch wird es mit allem, was über das taktische Kalkül hinausgeht – als Bestandteil oder Folge des Vertrages: die Vereinbarung von Interessensphären in Ostmitteleuropa, die Ermordung von 20.000 Polen im Wald von Katyn durch sowjetische Erschießungskommandos oder die Massendeportationen von Menschen aus Estland, Lettland, Litauen und Ostpolen. Vollkommen aus dem Blick der Öffentlichkeit ist inzwischen geraten, was der Pakt für die internationale kommunistische Bewegung und insbesondere für die deutschen Kommunisten bedeutete. Von den Nazis seit dem Reichstagsbrand im Februar 1933 mit Vorrang erbarmungslos verfolgt, waren viele der letzteren ins Ausland geflohen. Hoffnung bei ihnen hatte der Schwenk der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Jahr 1935 verbreitet, mit einer Politik der „Volksfront“ ein weitgreifendes antifaschistisches Bündnis zu schaffen, das nicht nur die seit Jahrzehnten verfeindeten Kommunisten und Sozialdemokraten zusammenschließen, sondern auch bürgerliche Hitlergegner aufnehmen sollte – auch als Modell für die Führung eines kommenden Deutschland.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt war das endgültig vorbei. Die Exil-Mitglieder der moskauhörigen KPD sollten nicht nur ihr Denken, sondern auch ihr Sagen und Tun umstellen, die Weisheit der Stalinschen Politik feiern. Nicht mehr Hitler, ihr Verfolger, der Peiniger und Mörder vieler ihrer Genossen, war nunmehr der Feind, sondern die westlichen „Plutokratien“. Unverbrüchlich kremltreue Kommunisten wie etwa der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski in London agitierten sofort für den Pakt, für nicht wenige aber war der ein Sakrileg. So insbesondere für den „roten Pressezaren“ Willi Münzenberg (1889 bis 1940), der in Paris seine ganze Kraft als beredter Fürsprecher und Organisator der Bemühungen für eine deutsche Volksfront eingesetzt hatte. Nähere Aufschlüsse zu diesen Vorgängen gibt seit kurzem auch ein Sammelband von Aufsätzen des Literaturwissenschaftlers Dieter Schiller, der seinen Schwerpunkt in Münzenbergs Exilzeit setzt.

Detailliert und überzeugend zeigt Schiller, wie Münzenberg schon in den Jahren vor Abschluß des Paktes an der faktischen Sabotage des Volksfrontgedankens durch die Politik Stalins und seiner sowjetischen wie deutschen Adepten schier verzweifeln muß. Er, der sich lange noch als weitgehend selbständig handelnder Vertreter der Komintern versteht, gerät in einen sich verschärfenden Konflikt mit Emissären der KPD wie Walter Ulbricht, die in der Volksfront die Dominanz ihrer Parteiinterressen durchsetzen wollen. Münzenberg hingegen setzt auf „demokratisches Verantwortungsbewußtsein“ (Dieter Schiller), Toleranz, Meinungsfreiheit, auch als Prinzipien für eine zu schaffende sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Zunehmende Schärfe in den Konflikt bringen die großen Moskauer Schauprozesse zwischen 1936 und 1938, in denen Mitstreiter Lenins zum Tode verurteilt werden, so wie Stalins „Große Säuberung“ überhaupt, der auch deutsche Kommunisten in großer Zahl zum Opfer fallen. Hier einzustimmen, konnten sich weder die sozialdemokratischen und sozialistischen noch die bürgerlichen Volksfrontpartner bereitfinden. Und auch Münzenberg ging – nach anfänglicher parteitreuer Rechtfertigung der Prozesse – zunehmend auf Distanz.

Aufbauend auf den großen biographischen Studien von Babette Gross (Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, 1967) und Harald Wessel (Münzenbergs Ende. Ein deutscher Kommunist im Widerstand gegen Hitler und Stalin, 1991) bringt Schiller seine Leser auf den aktuellen Stand des Wissens über die damaligen Zusammenhänge und Ereignisse. In den letzten drei Jahrzehnten ist ja den Archiven viel an neuen Erkenntnissen entnommen worden. So wissen wir seit der Veröffentlichung der Tagebücher von Komintern-Chef Georgi Dimitroff definitiv, wie recht Münzenberg daran tat, 1938 den Aufforderungen zur Komintern-Zentrale nach Moskau zu kommen, keine Folge zu leisten. Am 11. November 1937 notierte Dimitroff Stalins Worte aus einem Privatgespräch: „Münzenberg ist ein Trotzkist. Wenn er herkommt, werden wir ihn sofort verhaften. – Geben Sie sich Mühe, ihn hierher zu locken.“

Dieter Schiller: Willi Münzenbergs Umgang mit deutschen Intellektuellen. Edition Schwarzdruck, Gransee 2021, 268 Seiten, 25 Euro

Schiller geht darauf in seinem Text über das Entstehen von Münzenbergs legendärem Buch „Propaganda als Waffe“ ein, das der Historiker und Schriftsteller Kurt Kersten als Freund und Mitstreiter des prominenten Kommunisten als Ghostwriter nach dessen Anregungen schrieb. Wie wir nun wissen, denn der Autor kann nach Archivrecherchen einen Brief Kerstens an seine Frau von 1937 zitieren, hoffte Münzenberg, mit diesem Buch seine Unentbehrlichkeit als Vertreter der kommunistischen Bewegung im Westen zu beweisen und so seinen Kopf aus der geahnten Schlinge zu ziehen. Wie man sieht, starb auch für Münzenberg die Hoffnung zuletzt. Seinem Ausschluß aus der KPD kam er dann mit seinem Austritt zuvor.

Falls der Titel „Willi Münzenberg und sein Umgang mit deutschen Intellektuellen“ zeitgeschichtlich interessierte Leser abhalten sollte, Schillers Aufsatzsammlung als Einstiegslektüre in die Beschäftigung mit Deutschlands linkem Mediengenie zu wählen, läßt sich nur sagen, dieser Impuls ist falsch. Der Band bietet eine konzentrierte Einführung in Münzenbergs Aktivitäten bis 1933, als er als Chef der Internationalen Arbeiterhilfe, einen erfolgreichen Medienkonzern und ein weltumspannendes Netz von Initiativen gegen Imperialismus und Krieg aufbaute. Insgesamt ein informatives und anregendes Buch. Schiller schreibt einen klaren Stil. Die Typographie ist solide, der Text hervorragend lektoriert, und die Rechtschreibung folgt Regeln, wie sie die Mehrheit im Lande aus guten Gründen weiter bevorzugt. Was will man mehr.

Holger Becker