Stalin, die Gänsepfeife und das Problem mit der Heizung

Hermann Kants Roman „Okarina“ – ein sympathisches Buch der Abrechnung

Von Holger Becker

Die Geschichte beginnt im Auto: Hermann Kants Erzähler will im „wölfischen Winter“ 1989/90 von Berlin zu seiner Datsche in Mecklenburg fahren. Das ist eigentlich dringend. Denn es friert kräftig, und der Mann weiß nicht, ob er das Wasser abgestellt hat. Doch bei Wittstock folgt er der Autobahn in Richtung Westen. Es zieht ihn nach Hamburg. Im Radio hat er gehört vom großen Fest auf der gefrorenen Binnenalster. Und in Hamburg ist er geboren. Die Mutter hat ihn im Schlitten über die auch damals vereiste Binnenalster gezogen, was seine früheste Kindheitserinnerung ist. Ein glücklicher Tag in der Stadt seiner Herkunft wird es aber nicht.

Hermann Kant: Okarina. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 463 Seiten, 22,50 Euro

Am Schluß des Romans muß der Erzähler nicht mehr nach Mecklenburg reisen. Er wohnt nun dort in seiner Datsche am See, die recht groß ist und sich mit einem alten Nachtspeicherofen nur bei hohen Kosten beheizen läßt. Er löst das große Problem, indem er den beheizten Raum verkleinert. Der Leser kann das als Bild sehen für die Art, wie der Mann sich einrichtet in einer Gesellschaft, die er sich nicht ausgesucht hat. Er kann es aber auch als nachsichtig zu belächelnde Reaktion eines unpraktischen Intellektuellen begreifen. Sich selbst auf die Schippe nehmen zu können, gehört nämlich zu den Stärken Hermann Kants.

Was zwischen Anfang und Ende dieses Romans liegt, ist eine Abrechnung. Die fällt jedoch anders aus, als es der westdeutsch geprägte Kulturbetrieb vom ehemaligen Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes verlangt. Kant, dessen Erzähler Züge des Autors trägt, entschuldigt sich nicht, in der DDR mit vorne gegangen zu sein. Schon gar nicht denunziert er seine Gründe. Der wichtigste liegt in Warschau, wo der junge Wehrmachtssoldat, beim Aufräumen der Trümmer des Ghettos das Denken erlernt.

Ein Roman ist das Produkt der Phantasie. Kants tollster Einfall: Während seiner Zeit als Umzuerziehender in Polen wird er eines nachts nach Moskau in den Kreml gebracht. Stalin höchstpersönlich setzt ihm dort auseinander, daß er nach dem Ableben des Georgiers als dessen „Ideengefäß“ zu dienen habe. Zur Untermalung spielt der Kremlherrscher dem jungen Mann auf der Okarina vor, einem pfeifenartigen altertümlichen Musikinstrument, dessen Gestalt einem Gänserumpf ähnelt. Das Wort „Okarina“ leitet sich vom italienischen „oca“ ab, was so viel wie Gans bedeutet.

Und die Okarina begleitet Kants Helden nun durch die Jahrzehnte, zum Beispiel als Name einer Zeitschrift, die er herausgibt. Am 4. November 1989 schließlich spielt eine alte Bekannte den Demonstranten auf dem Instrument vor, das er zuerst in Moskau hörte, und verhindert damit ein Weitermarschieren in Richtung Mauer.

Kants neuer Roman steckt voller Anspielungen, die zu entschlüsseln Spaß machen kann. Er ist witzig erzählt, manchmal vielleicht etwas umständlich, so als erfreue sich der Autor der Erfindung eines Gewehrs, das um die Ecke schießt. Aber Kant trifft in seiner verschlungenen Geschichte, in der diverse Frauen, Geheimdienste und merkwürdige Beziehungsgeflechte der untergegangenen DDR eine tragende Rolle spielen, immer wieder den Punkt, auf den er hinauswill. Es gelingt ihm zu begründen, warum ihm daran gelegen war, die Fehler der DDR abzuschaffen – nämlich, um das Land zu erhalten. Daß dies nicht gelang, darin sieht er auch sein Versagen. Eine ehrbare Haltung des Autors eines sympathischen Buches.

November 2002