Verteidigung des Nationalstaats

In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ ignoriert Sahra Wagenknecht diverse Geßlerhüte

Von Holger Becker

Sahra Wagen-knecht: Die Selbstgerechten. Ein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
320 Seiten, 24,95 Euro

Wenn es einen Grund gibt, nicht für ein Verbot von Talkshows im deutschen Fernsehen einzutreten, dann heißt er Sahra Wagenknecht. 1 Lanz, 1 Ill, 1 Maisch oder so müßte die Maßeinheit lauten für die Geschwindigkeit, mit der unsereins den Sender wechselt oder das Flimmerbrett ganz abschaltet, wenn eine der Runden beginnt, in denen die immer gleichen Vertreter der CDSPLinksgrünFDP nebst ähnlich gepoltem Personal aus Medien, Kunst und Wissenschaft im selben Quark herumtreten, ohne daß es Butter wird. Wenn aber sie, die Wagenknecht, im farbenfrohen Kostüm und mit streng zurückgekämmtem schimmernd schwarzem Haar im Kreis der Gäste zu erblicken ist, unterliegt die Fernbedienung einer Politik der ruhigen Hand. Die zeitgeistigen Unisono-Plapperer haben einen schweren Stand, wenn die studierte Philosophin und Ökonomin anwesend ist. Ohne ihre Existenz als politische Intellektuelle zu verleugnen, die mit den Bezügen aus ihrem Abgeordnetenmandat privilegiert lebt, ist sie zur wichtigsten Stimme für die Interessen von Ottilie und Otto Normalverbraucher in der deutschen Öffentlichkeit geworden.

Als solche bewährt sie sich mit ihrem neuen Buch „Die Selbstgerechten“, das eine grandiose Auseinandersetzung mit jener Erscheinung darstellt, die nicht nur sie „Linksliberalismus“ nennt. Punkt für Punkt begründet Sahra Wagenknecht darin, warum der in seiner Ideologie und Praxis weder links noch liberal zu nennen wäre, aber zu Konzepten fortgesetzter neoliberaler Wirtschafts- und Weltgestaltung paßt. Dazu, da darf jeder sicher sein, hat es einigen Mut gebraucht, eine ganze Galerie von Geßlerhüten zu ignorieren, denen ansonsten untertänigst seine Grüße entbieten muß, wer sich in die Öffentlichkeit wagt.

So stellt sie beim Thema „Zuwanderung“ heraus, daß es weder als links noch in anderer Hinsicht vernünftig gelten kann, die Grenzen der Staaten für alle zu öffnen, die ein besseres Leben suchen. Asyl für politisch Verfolgte ja, aber keine unreglementierte Einwanderung. Sie begründet es einleuchtend. Selbst ein reiches Land wie Deutschland könnte ja bei bestem Willen nicht die nötigen sozialstaatlichen Kapazitäten vorhalten. Und wenn Flüchtlinge Arbeit finden, dann im Niedriglohnsektor oder anderen Bereichen, in dem ihr Vorhandensein das Lohnniveau drückt. Den linksliberalen Menschenfreunden selbst, die offensichtlich nichts gegen die Neukonstituierung einer Dienstbotenschicht einzuwenden haben, treten sie an den Türen liebevoll sanierter Altbauwohnungen in teuren City-Lagen vornehmlich in Gestalt von Pizza- und Paketboten gegenüber, den Menschen mit geringerem Eimkommen aber auch als Konkurrenten im Marktsegment halbwegs bezahlbaren Wohnraums. Und den Ländern, aus denen diese Flüchtlinge kommen, oft Staaten, die der US-geführte „Westen“ jüngst in Richtung Steinzeit zurückbombte, ist mit der Abwanderung gar nicht gedient. Denn es sind nicht die Ärmsten, die da gehen, sondern Menschen aus den Mittelschichten, oft mit hohem Einsatz ausgebildete Ärzte, Ingenieure und andere Fachleute. Dafür gab es schon mal das Fachwort „Braindrain“.

Was Wagenknecht endlich wieder aufs Tapet hebt, ist die Verteidigung des Nationalstaats gegen wolkenkuckucksheimhaften Pseudo-Internationalismus. Die organisierte Linke in Deutschland hatte das Thema schon vor zwei Jahrzehnten in konzertierter Aktion weggeprügelt, inklusive einiger Zeitungsredakteure, die ihm Aufmerksamkeit widmeten. Der Vorwurf des Nationalismus ist schnell erhoben. Aber es gilt der alte Fußballerspruch: Weit daneben ist auch vorbei. Denn hier geht es nicht um die Glorifizierung der eigenen Nation und die Geringschätzung anderer, sondern um den Nationalstaat als derzeit immer noch einzigen Bezugsrahmen, in dem dafür gesorgt werden kann, den „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) zu zügeln, möglichst hohe soziale Standards zu setzen und für wenigstens halbwegs demokratische Teilhabe der Bevölkerungen zu sorgen.

Klar, das Soll ist nicht das Haben. Aber ohne die Staaten in ihrer jeweils national tradierten Form würde einfach das Recht der Stärkeren gelten. Und die wären bei den weltweit organisierten Großkonzernen und Heuschrecken-Fonds zu finden. Dem Neoliberalismus gilt der Staat ohnehin als Teufelswerk. Deshalb möchte er ihm den Saft abdrehen, und er hat das zu einem schlechten großen Teil auch geschafft. Als Resultat auch dieser Staatsfeindschaft konstatiert die Autorin einen derzeit „innovationsfaulen Kapitalismus“. Denn die großen technologischen Sprünge bedürfen, wie die Erfahrung zeigt, immer konzentrierter organisatorischer und finanzieller Aufwendungen der Staaten.

Schwächen des Buches liegen in der Analyse der historischen Ursachen für Neoliberalismus und Linksliberalismus. Wer sie verstehen will, wird nicht umhinkommen, auf die Folgen zu schauen, die das Ende des staatlich organisierten Sozialismus in Europa zeitigte. Das Entfallen der Systemkonkurrenz nahm den Druck von der westlichen Seite, akzeptable Sozialstaatlichkeit zu gewährleisten, und entzog auch dem über Jahrzehnte erfolgreichen Reformismus-Modell der Sozialdemokratie die Geschäftsgrundlage. Letztere leitete ihr Verenden ein, als sie sich in den 1990er Jahren zum Hiwi der neoliberalen Gegenreform machte. Von den heute sich links nennenden Parteien, versottet von der links-liberalen Ideologie und geistig weit entfernt von den Interessen und Denkweisen der kleinen Leute, ist neuer Druck nicht zu erwarten. Das dort verbreitete Wagenknecht-Bashing erweist sich als Bestandteil eines Selbstmordprogramms.