Lack aufs Haar

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 4)

Im Sommer 1943 – nach den zwei verheerenden nächtlichen Luftangriffen auf meine Vaterstadt Wuppertal – wurde meine Muttei mit ihren vier Kindern nach Thüringen evakuiert. Als wir in Ufhoven bei Bad Langensalza unser Notquartier bezogen hatten, betrachtete Mutter meine Mähne, gab mir eine Reichsmark und schickte mich zum Friseur. Der erste, den ich in Langensalza fand, hatte ein Schild im Schaufenster: „Hier wird nur Hitlerjungenschnitt ausgeführt.“

Amiga-Langspielplatte der Beatles. Sie erschien im Frühjahr 1965 auf Beschluß der Jugendkommission beim SED-Politbüro in relativ hoher Auflage. Zu einer Rolling-Stones-Platte kam es dann nicht mehr

Was denkt ein aufgeweckter dreizehnjähriger Rheinländer, wenn er so etwas liest? Er denkt an die tödlich getroffene Frau, die im brennenden Barmen aus dem Fenster hing und in deren meterlanges Haupthaar von der Traufe der glühende Phosphor tropfte. Er denkt an die armen Leute, die auf dem Elberfelder Tölberg ihre Habe aus brennenden Mietskasernen zu retten versuchten und fröhlich johlten, als ein großes Hitler-Bild – „Achtung, der Führer kommt!“ – aus einem höheren Stockwerk herabsegelte und auf dem Bordstein zersplitterte. Ein großes Unbehagen erfaßt den Dreizehnjährigen. Er macht kehrt zur Mutter und wird in Langensalza (von 1943 bis 1948) nie einen Friseurladen betreten.

Anders in Berlin. Dort nimmt Eberhard Heinrich 1963 den neuen Wissenschaftsredakteur Wessel in einer Arbeitspause zum Haareschneiden mit. Die Redaktion „Neues Deutschland“ befand sich zu dieser Zeit in der Mauerstraße. Gleich um die Ecke, wo die Glinkastraße in die Behrenstraße mündet, hatte von einem einst herrschaftlich hohen Haus der Sockel den Krieg überlebt – im Souterrain ein Friseurladen von angekratzter wilhelminischer Pracht. Der Inhaber, während er meine blonden Locken stutzte, erzählte immer wieder von seinem prominentesten Künden: Paul von Hindenburg. Den durfte er „daheim“, im Reichspräsidentenpalais in der Wilhelmstraße, rasieren und frisieren. Bis zum Herbst 1965 sah ich denn auch alle vier Wochen „haarmäßig“ einige Tage so aus wie weiland der letzte deutsche Reichspräsident.

Ab 15. Oktober 1965 habe ich nie wieder einen Friseur bemüht, sondern zur Selbsthilfe gegriffen. Das war kein Vorsatz. Es ergab sich einfach so. Das ‚Unbewußte leitet uns meist weit stärker, als wir uns selbst eingestehn…

Kommentar im ND vom 16. Oktober 1965

Am 14. Oktober 1965 – an dem Tag, Friedrich Ebert jun. dem DDR-Staatsrat das Wahlergebnis vom 10. Oktober unterbreitete – erhielt Eva Erler, Leiterin der Abteilung „Einheitliches Bildungswesen“ in der Redaktion „Neues Deutschland“, von der Chefredaktion (vermutlich von Hermann Axen persönlich) einen delikaten Auftrag: Sie solle einen ND-Kommentar schreiben zu einem besonderen Vorkommnis an der Berliner Ernst-Wildangel-Oberschule II – „auf der Linie“, daß sich das Zentralorgan voll hinter jene Jugendfreunde stellt, die endlich zur Selbsthilfe gegriffen haben.

Da Eva Erler nicht zum ND-Redaktionskollegium gehörte, waren die Weisungen des Chefredakteurs für sie unmittelbar bindend. Seit Margot Honecker Ministerin für Volksbildung war (ab Herbst 1963), verwies Axen das ND-Ressort Volksbildung oft an die Pressestelle des Ministeriums. Manchmal empfahl er der charmanten Eva Erler auch, sich „mit der Wissenschaff zu beraten“, also mit dem ND-Ressort Wissenschaft, das von mir geleitet wurde. Obschon Axen solches diesmal nicht empfohlen hatte, erschien Eva Erler ebenso empört wie ratlos bei mir und erzählte, was sie von Wolfgang Triebel, dem Direktor der Wildangel-Schule, soeben erfahren hatte.

Der Schüler Eckhard B., aus den Sommerferien überraschend mit schulterlangem (!) Haupthaar zurückgekehrt, hatte nach dem Waldbühnenkrawall (15. September 1965) Fotos von den Rolling Stones mitgebracht und im Unterricht ungeniert herumgereicht. Als sich die junge Chemie-Lehrerin, erst seit Schuljahresbeginn (Anfang September) an der Wildangel-Schule, solche Störung der Chemie-Stunde verbat, wurde Eckhard B. frech und provozierte die Lehrerin mit der lieblichen Frage: „Du bist wohl blöd?“

Wer ist Max Stiller? Am 17. Oktober legten die Feinde von Ulbrichts Jugendpolitik im ND mit einem weiteren Artikel gegen Langhaarige nach

Die Schulleitung verlangte von B., er solle sich vor der Klasse bei der Lehrerin entschuldigen. Das aber war dem „FDJ-Sekretär“ Klaus-Dieter Z. und einem anonym gebliebenen Gehilfen zu wenig. Sie holten beim Hausmeister eine Schere und vergriffen sich an ihres Mitschülers langen Haaren. Die Klasse, teils erheitert, teils gelähmt, mußte erleben, wie sich Eckhardt B. mit verunstaltetem Haarschopf entschuldigte.

Eva Erler war nicht gewillt, solche „Selbsthilfe“ per ND-Kommentar zu sanktionieren. Natürlich wußte sie so gut wie ich, daß die Parteiführung bei spontanen Vorkommnissen meist sehr vorsichtig war. Die Tatsache, daß die „Selbsthilfe“ zweier Schüler unbesehen öffentlich als „beispielhaft“ hingestellt werden sollte, ließ am „spontanen Charakter“ der „Selbsthilfe“ ernstlich.zweifeln. Ich riet Eva Erler daher (am späten Abend des 14. Oktober), nicht nur Axen weiter hinzuhalten, sondern möglichst auch nach „Regisseuren der Spontaneität“ zu suchen.

Am nächsten Morgen (15. Oktober) war in der ND-Chefredaktion der Teufel los. Die „Junge Welt“ vom Tage war dem ND zuvorgekommen (mit einem Riesenfoto des „FDJ-Sekretärs“ Z. und einem brachialen Text als Aufmachung auf der Titelseite, der dem Z. zugeschrieben wurde), und die ND-Chefredaktion war wegen des fehlenden Kommentars „von ganz oben angezählt“ worden. Ein Wirtschaftsredakteur (!) schrieb sodannn (freiwillig?) den überfälligen Kommentar.

Abschrift eines anonymen Leserbriefs an die ND-Redaktion zum Hetzartikel des „Max Stiller“


Nun war es damals im ND ein ungeschriebenes Gesetz, daß Leitartikel und Kommentare (wegen ihrer parteiamtlichen Richtungskompetenz) vor Veröffentlichung von allen anwesenden Mitgliedern des Redaktionskollegiums zustimmend zur Kenntnis genommen werden mußten. Mit diesem Vetorecht der Kollegiumsmitglieder sollte einer Ein-Mann-Herrschaft wie 1953 unter Rudolf Herrnstadt strukturell vorgebeugt werden. Herrnstadt hatte damals zusammen mit Wilhelm Zaisser im Sinne Berijas gegen Ulbricht zu putschen versucht. Deshalb stand Axen ein Kollegium zur Seite, dessen Mitglieder aus der Setzerei automatisch Druckfahnen von Leitartikeln und Kommentaren erhielten.

Der Kommentar „Gegen Dreck“ aus der Feder des Wirtschaftsredakteurs war geistig wie politisch eine Katastrophe. Der langhaarige Schüler wurde als „Gammler“, „Mistfink“, „verwildertes Ferkel“ usw. tituliert. Der Kommentar setzte ein Gleichheitszeichen zwischen Langhaarigen und westlich infiltrierten« „Gammlern«“ Ich nutzte eine meiner Druckfahnen (die Setzerei hatte mir gleich mehrere geschickt), um gegen den Kommentar beim Chefredakteur zu protestieren. Auch andere Kollegiumsmitglieder hatten Einwände.
Axen rief mich zu sich. „Wenn dieser Dreck gedruckt wird“, sagte ich ihm, „dann ist .. für die SED auch der langhaarige Albert Einstein ein vergammeltes, arbeitsscheues Element, dem die Freie Deutsche Jugend mit einer Schere an den Kopf gehen müßte“. Axen nannte mich einen Demagogen. Gleichwohl strich er einige Verbalinjurien wie „Mistfink“. Im übrigen müsse ich verstehen, daß er nichtnanders könne, da er „eine Weisung der Parteiführung“ habe.

Ich überlegte, ob ich Axen vom Schild beim Friseur in Bad Langensalza erzählen sollte. Ich unterließ es. Mein Chef hatte bei seiner Odyssee durch Nazi-Zuchthäuser und Konzentrationslager sicher mehrfach wirklich „Haare gelassen“. Auch Honecker, der 1943 im Nazi-Zuchthaus Brandenburg-Görden saß, wußte nicht, welche politisch peinlichen Parallelen mit der „haarigen Kampagne“ heraufbeschworen wurden. Gut fünfzehn Jahre später, als Honecker längst Partei- und Staatschef war und über seine „Autobiographie«“nachdachte, ergab es sich, daß ich ihm vom „Hitlerjungenschnitt“ 1943 im NS-“Mustergau“ Thüringen berichten konnte. Er nahm es wortlos mit „Marmor-Miene“ zur Kenntnis. Doch in allen von Honecker beeinflußten Honecker-Büchern wurden seine „haarsträubenden“ Aktivitäten vom Herbst 1965 rigoros verschwiegen…

Orchestrierte Kampagne: Auch die Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“ machte in ihrer dritten Oktober-Ausgabe Front gegen die „Gammler“. Der Gitarrist oben links auf dem Foto ist übrigens der spätere Schlagersänger Achim Mentzel, damals beim Diana-Show-Quartett

Axens „Weisung der Parteiführung“ war eine Sprechblase. Das zeigte sich, als ich ihn um
Namen bat. Es stellte sich heraus, daß die „Weisung der Parteiführung“ eine von Rudolf (Rudi) Singer den DDR-Medien übermittelte Weisung des zwar für Sicherheitsfragen und Parteiorgane, nicht aber für Medien zuständigen ZK-Sekretärs Honecker war. Singer (während des zweiten Weltkrieges Mitarbeiter des Geheimdienstes der Sowjetarmee) war zu der Zeit Abteilungsleiter für Agitation im SED-ZK-Apparat. Er unterstand Albert Norden, hörte aber auf Honecker.

Ich erinnerte Axen an die endlose Reihe schwachsinniger SED-Kampagnen gegen Kreppsohlen, Ringelsocken, Ochsenkopf-Antennen, Hula-Reifen usw… Mit solchen Donquichotterien habe das vom SED-Politbüro einstimmig beschlossene Jugend-kommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ im September 1963 Schluß gemacht. Wie er, Axen, eine Wiederbelebung des „hysterischen Sozialismus“ zulassen könne, sei mir unbegreiflich.

Doch meine Widerrede war vergeblich. Axen, 1947 in Meißen von Honecker zum „Vorsitzenden des II. Parlaments der FDJ“ erkoren und mindestens bis 1988 ein „treuer Freund der Sowjetunion“, ließ den Dreck-Kommentar drucken. Die „Berliner Zeitung“ war am 16. Oktober ebenfalls auf die „Gammler“-Linie eingeschwenkt. Und am Sonntag, den 17. Oktober, stand auf der letzten Seite des ND ein mit „Max Stiller“ gezeichneter großer Artikel „Die Amateur-Gammler“, von dem ich bis heute nicht weiß, wer ihn wirklich verbrochen hat. Die langen Haare, behauptete „Max Stiller“, brächten „das Blut vieler Bürger in Wallung“.

Die Leserbriefe zeigten das Gegenteil. Ein Betriebsingenieur verwahrte sich gegen die Diffamierung von Langhaarigen. Die wahre Ursache von Bummelantentum in der DDR-Industrie liege in schlechter Organisation und unregelmäßigen Rohstofflieferungen. Überhaupt muß zu Ehren der DDR-Bevölkerung gesagt werden, daß ihr „Hysterie-Potential“ im Vergleich zu den frühen fünfziger Jahren mächtig geschrumpft war. Das „Lack-aufs-Haar-Phänomen“ bewies es.

Irgendein psychologisch geschulter „Aufklärer“ unter den konspirativen Inszenierern besonderer Vorkommnisse muß in jenen Oktobertagen die Idee gehabt haben, daß man einem (zwangsweise) gestutzten Haarschopf nicht mehr ansieht, wie lang er vorher war; wirksamer sei es da doch, „Lackfarbe“ auf die Pilzköpfe bzw. aufs schulterlange Stones-Haar zu gießen. Jedenfalls sollte auch solcher „spontaner Volkszorn“ in den Medien „begrüßt“ werden. Doch soweit ich das damals überblicken konnte, hat sich nirgends ein Handlanger für solch einen „Lackangriff“ gefunden.


Spätestens am 29. Oktober 1965 mußten die stillen Regisseure des MfS und die mutmaßlichen „Oberspielleiter“ in der Karlshorster Filiale des Schelepin/Semitschastny-„Revolutionstheaters“ die Wildangel-Schul-Inszenierung als Flop absetzen. An diesem Tage druckte die unter Margot Honecker Oberaufsicht stehende „Deutsche Lehrerzeitung“ einen Aufsatz von Direktor Wolfgang Triebel – mit einem Jugendkommuniqué-Zitat als Motto und mit der Schlagzeile „Die Ideologie sitzt nicht in den Haaren, sondern im Kopf.“

Als übrigens Hermann Axen trotz seiner Botmäßigkeit im Frühjahr 1966 seinen ND-Chefposten räumen mußte, schenkte er mir seine 31 Zentimeter lange Papierschere Marke Trusetal mit DDR-Zeichen erster Qualität. Mit ihr schneide ich besonders gute oder schlechte Artikel aus – und manchmal wird das eigne Haar gestutzt. Die Schere reicht so schön bis hinter den Kopf.

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