Apel erschießt sich

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 9)

Es war am 3. Dezember 1965. Gegen Mittag sickerte sie durch, die schreckliche und erschreckende Nachricht: Erich Apel hat sich heute morgen erschossen. Ich ging in mein Dienstzimmer, schloß die Tür und wollte allein sein. Es war ein Schock, viel schlimmer als bei der Ermordung John F. Kennedys zwei Jahre zuvor, schlimmer auch als bei der Nachricht vom tödlichen Hubschrauberabsturz des Hoffnungsträgers Werner Lamberz 1978 in der libyschen Wüste.

Deutlicher Hinweis auf Zusammenhänge: Seite 1 des Zentralorgans „Neues Deutschland“ vom 4. Dezember 1965

Im Unterschied zu Lamberz war Apel persönlich mir kaum bekannt und nicht vertraut. Dennoch fand ich ihn ungemein sympathisch – nicht nur wegen seiner wirtschaftspolitischen Arbeiten und seines komplex angelegten Reformkonzeptes, sondern auch wegen seiner souveränen und intelligenten Art, sich im Kreise von zumeist todernsten Würdenträgern zu bewegen.

Das beispielsweise werde ich nie vergessen: Apel als Beifallinitiator auf der Jugendkundgebung am 23. September 1963 in der (noch zu DDR-Zeiten abgerissenen) großen Sporthalle in der Berliner Karl-Marx-Allee. Ulbricht hatte Turba um einen Rede-Entwurf gebeten – „die neue Melodie“, „wie ein Paukenschlag“, „damit die FDJ aufwacht“ … Na schön, wenn der wollte! Die Rede ist nie veröffentlicht worden! Es gab da eine Passage gegen Bürokratie und Bürokraten, die mit dem Rat an die jungen Leute endete, ihr Blauhemd anzuziehen und den Bürokraten „auf die Bude zu rücken“.

Ich saß seitlich in der zweiten Reihe, inmitten der Jugendlichen, nur wenige Meter vom Rednerpult entfernt, hinter dem das ganze SED-Politbüro und die obersten FDJ-Funktionäre überhöht Platz genommen hatten. Versteinerte Gesichter, die sich (geradezu Eiseskälte abstrahlend) noch mehr versteinerten, als Ulbricht den Anti-Bürokraten-Rat gegeben hatte. Die jungen Leute zögerten mit ihrem Beifall, aber Erich Apel hob lachend seine Hände zum Klatschen, und ein befreiender Beifall durchzog die Halle, der umso stärker wurde, je mehr Jugendliche begriffen, daß da oben eine ganze Riege saß, die keine Hand rührte und in eisiger Ablehnung verharrte.

In die Jugendkommission hatte Apel eine junge Wirtschaftsfunktionärin delegiert, die gut informiert war, über ein ausgeprägtes Problembewußtsein verfügte (was damals nicht selbstverständlich war) und auch dasjenige voll verstand, was nur angedeutet und nicht klar ausgesprochen wurde. Natürlich ist mir der Name der klugen Blondine entfallen.

Auf das gemeinsame Forum Erich Apels und Kurt Turbas in Leipzig während der Frühjahrsmesse 1965 hatte ich mich gefreut. Sehr früh war ich mit meinem alten, aber zuverlässigen Wartburg in Berlin aufgebrochen, um allen Schneemassen zum Trotz pünktlich in Leipzig zu sein. Apel war ohnehin in der Messestadt. Doch Turba, der sich seinem Fahrer und Tatra anvertraut hatte, blieb unterwegs liegen. Das Jugendforum fiel aus. Die demonstrative Bekundung der Einheit von „Neuem ökonomischen System“ (NÖS) und Jugendkommuniqué fand nicht statt. Daß die Wirtschaftsreform der „Hausherren von morgen“ bedurfte, konnte nicht augenfällig unterstrichen werden.

Wichtigster Promotor des Neuen Ökonomischen Systems: Erich Apel (links) am Stand des Instituts für Regeltechnik Berlin 1964 auf der Leipziger Frühjahrsmesse. Zweiter von rechts: SED-Chef Walter Ulbricht
Foto: ADN/Zentralbild, Peter Heinz Junge, Bundesarchiv, Bild 183-C0304-0091-020 / CC-BY-SA 3.0

Die Wirtschaft der DDR litt ja nicht nur unter Kapital- (Investmittel-) und Ressourcen-Mangel (infolge der Reparationslasten, der Teilung Deutschlands und des Abschnürung vom Weltmarkt), nicht nur unter den (von Moskau oktroyierten) untauglichen Planungs- und Leitungsmethoden, sondern auch unter der Unfähigkeit von Wirtschaftsfunktionären, die eher nach Gesinnung und Botmäßigkeit als nach Fähigkeit und Leistung ausgewählt worden waren. Inzwischen war aber eine Generation gut ausgebildeter Fachleute herangewachsen, die zunehmend vor den Führungsetagen „im Kaderstau standen“. Ein Elitenwechsel war unumgänglich: Die „Hausherren von morgen“ bildeten den soziologischen „Adressaten“ der Reform.

Mit dem Tod von Apel verlor die DDR den wichtigsten Promotor des NÖS. Gewiß, jeder Mensch ist irgendwie ersetzbar. Doch zum Tod eines Menschen kam die schwer faßbare massenpsychologische Entmutigung. Die Aufbruchstimmung wurde irreparabel beschädigt. Hoffnungskeime starben ab. Apels Tod wurde von vielen DDR-Bewohnern als Katastrophe empfunden. Und man fragte sich besorgt: Was soll nun werden?

Mir drängten sich an diesem 3. Dezember 1965 vor allem drei Fragen auf:

– Wie werden sie es der Bevölkerung beibringen?

– Wie hoch sind die sowjetischen Handelsforderungen, wenn Apel nur noch der Griff zur Pistole blieb?

– Hat man ihn erpresserisch unter Druck gesetzt?

Auf die ersten beiden Fragen erhielt ich Antworten schon am Abend des traurigen Tages. Nach einer Antwort auf die dritte Frage suche ich noch dreißig Jahre später!

Die Materialien über Apels Tod und über die Unterzeichnung des neuen, langfristigen Handelsabkommens (für 1966 bis 1970!) mit der Sowjetunion kamen direkt aus dem SED-Zentralkomitee in die ND-Redaktion – vermutlich von Albert Norden, der sie in diesem Falle mit Ulbricht abgestimmt haben wird. Die Materialien wurden nebeneinander auf die Titelseite des ND vom 4. Dezember 1965 gestellt. Das war der deutlichste Affront gegen Moskau, den sich „Neues Deutschland“ in seiner Geschichte geleistet hat. Und dieser Affront war beabsichtigt.

Im Unterschied zu anderen DDR-Zeitungen (beispielsweise der „Jungen Welt“) stand im ND der schwarzumrandete Apel-Block (links und dreispaltig) an erster Stelle, der Bericht von der Unterzeichnung des Handelsabkommens (acht Stunden nach Apels Tod!) hingegen erst an zweiter Stelle – dem SED-Zentralorgan war mithin Apels trauriger Tod.wichtiger als das langfristige Handelsabkommen. Im Unterschied zu anderen Blättern stellte ND das „Ärztliche Bulletin“ an die Spitze des Apel-Blocks; denn in diesem Bulletin stand die wichtigste Information: Am 3. Dezember 1965, vormittags 10.00 Uhr, schied Dr. Erich Apel aus dem Leben.

Natürlich, per „Ärztlichem Bulletin“ wurde der politische Selbstmord zum „medizinischen Fall“ verharmlost; aber daß der Selbstmord eines führenden Genossen an der Spitze der Zeitung mitgeteilt und daß der aus dem Leben geschiedene Genosse demonstrativ mit allen Ehren verabschiedet wurde, war nach damaligen Maßstäben „ungeheuerlich“ – nie zuvor hatte sich eine „Bruderzeitung“ so etwas geleistet. Und das Nebeneinander von „Genosse Erich Apel gestorben“ und „Handelsumsatz DDR-Sowjetunion erreicht 60 Milliarden“ legte die „quasilogische“ Schlußfolgerung nahe, daß Apel zur Pistole griff, weil er diesen Vertrag nicht unterzeichnen bzw. (durch Anwesenheit bei der Unterzeichnung) akzeptieren wollte.

Soweit ich damals informiert war, hat Apel sich zwei Stunden nach Dienstbeginn (acht Uhr) in seinem Dienstzimmer mit seiner Makarow-Dienstpistole erschossen. Das war ein offenes Geheimnis: Seit dem 17. Juni 1953 hatten führende Partei- und Staatsfunktionäre eine Pistole und zwei Magazine Munition zur Selbstverteidigung im Panzerschrank. Es gab „Waffenträger“ (wie Hermann Axen), die das „Ding“ nie anrührten, aber auch solche, die ihre Makarow im Leipziger Hotelbett unter dem Kopfkissen (!) liegenließen und damit endlose Untersuchungen des MfS auslösten; denn die „Staatssicherheit“ hatte die Oberhoheit über jede Patrone.

Besonders ungewöhnlich an der ND-Ausgabe vom 4. Dezember 1965 war die „Zweckentfremdung“ der Leitartikelspalte. Statt des täglichen Leitartikels stand in der sechsten Spalte der Titelseite ein Bericht mit zusätzlichen Informationen zum Handelsabkommen. Was war an diesem Bericht so wichtig, daß seinetwegen der Leitartikel geopfert wurde?

In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1965 war ich bis Redaktionsschluß in der Redaktion geblieben. Es wurde spät in dieser Nacht, weil Sowjetbotschafter P. A. Abrassimow „aus Anlaß der Unterzeichnung“ des Handelsabkommens noch einen Empfang gegeben hatte – zu später Stunde. Dort konnte der „Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der UdSSR in der DDR“ doch noch Walter Ulbricht zuprosten, der zur Unterzeichnung des Abkommens demonstrativ nicht erschienen war. Dafür aber ließ ein Beauftragter Ulbrichts sich gegen Mitternacht über „R-Apparat“ die „letzten Zeilen der sechsten Spalte auf Seite 1“ vorlesen und war zufrieden, als er hörte, daß die „339 Schiffe, 3130 Reisezugwagen und 5250 Kühlwaggons“ „auf der ersten Seite“ untergekommen waren.

Stückgutfrachter vom „Typ 17“, gebaut auf der Warnowwerrft in Warnemünde. 26 davon lieferte die DDR ab 1968 an die UdSSR 26 Stück. Insgesamt war im Handelsvertrag von 1965 die Lieferung von 339 Schiffen an die Sowjetunion vorgesehen. Diese Festlegung auf material- und energieintensive Exportportgüter stand Ulbrichts und Apels Plänen für eine intelligenzintensive Produktion diametral entgegen.
Foto: Wolfgang Fricke via wikimedia commons, CC-BY-SA 3.0

Warum sollten die Waggons und Schiffe unbedingt auf der Titelseite stehen? Gewiß deshalb, weil diese ungemein material- und energieintensiven Exportgüter, die bei steigenden Rohstoff- und Energieträger-Preisen, aber gleichbleibendem Exporterlös immer unvorteilhafter für die DDR wurden, sinnfällig signalisierten, daß Moskau die Politik des Eintreibens reparationsäquivalenter Leistungen auch in den kommenden Jahren fortzusetzen gedachte. Das NÖS zielte auf intelligenzintensive Produkte zum Export auch in den Westen. Der Spielraum dafür wurde mit dem 43prozentigen (!) Anstieg des Exports in die UdSSR unverantwortlich eingeengt.

Verständlich, daß Erich Apel (bis etwa 29. November 1965 mit Ulbrichts Rückendeckung) sich gegen ein solches „Abkommen“ entschieden gewehrt hat. Ende November hatten die anderen „Bruderländer“ ähnliche „langfristige Abkommen“ „geschluckt“: Prag am 5. Oktober, Sofia am 13. Oktober, Budapest am 20. Oktober und Warschau am 18. November. Für den 6. Dezember war eine Tagung des ZK der KPdSU angesetzt – zur Behandlung des sowjetischen Wirtschaftsplanes 1966, der anschließend (7. bis 9. Dezember 1965) auf einer Tagung des Obersten Sowjets verabschiedet werden sollte. Deshalb kam Breshnew persönlich vom 27. bis 29. November 1965 nach Berlin, um in Gesprächen mit Ulbricht, aber auch mit anderen Spitzenfunktionären, deren Namen nicht genannt wurden, „Dampf zu machen“.

In der Leitartikel-Spalte des ND vom 4. Dezember 1965 war zu lesen, die „Abschlußverhandlungen“ zum Handelsabkommen seien vom 30. November bis 3. Dezember in Berlin geführt worden – seitens der DDR von Alfred Neumann, der am. Abend des 3. Dezember auch für die DDR unterzeichnete. Am 2. Dezember müssen die „Verhandlungen“ unterbrochen worden sein, denn Neumann nahm an diesem Donnerstag an einer „außerordentlichen“ Sitzung des SED-Politbüros teil (wie auch Apel, Ulbricht, Honecker u.a.), die von zehn bis achtzehn Uhr dauerte.

Gab es auf dieser Sitzung einen für Apel nicht zu bewältigenden Dissens zwischen ihm und dem Politbüro? Dem noch vor Apels Selbstmord am 3. Dezember (zehn Uhr) geschriebenen Beschlußprotokoll (Nr. 47/65) ist ein solcher Dissens nicht zu entnehmen. Zu den von Apel vorgelegten Plänen (Wirtschaftsplan 1966 und Perspektivplan bis 1970) wurde zwar eine „Überarbeitung“ „entsprechend den Hinweisen in der Diskussion des Politbüros“ beschlossen. Doch das war üblich. Zudem ist die „Stellungnahme“ von ZK-Abteilungen zu Apels Planentwürfen erhalten geblieben; dort wurden Änderungen vorgeschlagen, die zumeist im Sinne des Wirtschaftsreformers waren. Beschlossen wurde auch, daß auf dem 11. SED-Plenum Ulbricht zum Perspektivplan und Apel zum Volkswirtschaftsplan 1966 sprechen sollten.

Das Beschlußprotokoll (Nr. 47/65) gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß das SED-Politbüro über den „letzten Stand“ der sowjetischen Handelsforderungen informiert worden wäre oder gar darüber eine Diskussion geführt hätte. Vielleicht hat Apel das volle Ausmaß der Kreml-Begehrlichkeiten erst am Morgen des 3. Dezember 1965 erfahren? Ab zehn Uhr stand er als Redner für das 11. Plenum nicht mehr zur Verfügung; im Beschlußprotokoll (Nr. 47/65) wurde sein Name durchgestrichen und handschriftlich durch Alfred Neumann ersetzt.

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Potemkinsches Testament