Der Kanne-Prozeß

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 8)

Am Donnerstag, den 25. November1965, hatte ich gegen acht Uhr früh gerade mein Redaktionsbüro betreten, da klingelte das Telefon. Am Apparat war Margot Honeckers Sekretärin: „Die Chefin möchte Dich sprechen. Ich verbinde.“ Margot Honecker, seit Ende 1963 Minister für Volksbildung in der DDR-Regierung, fragte, ob ich Zeit und Lust hätte, mittags mit ihr nach Potsdam zu fahren. Sie wolle dort auf der internationalen Konferenz „Die Lehrer im antifaschistischen Widerstandskampf der europäischen Völker (1933 bis 1945“ einige Begrüßungsworte sprechen und am Abend (zum Konferenzabschluß) einen kleinen Empfang für die Teilnehmer geben. Auf der Fahrt könnten wir gewisse Dinge bereden. Ich sagte zu.

Verordnete „Verklemmung“ im ND vom 26. November 1965. Das „Interview“ wurde trotz Einspruchs von mehreren Mitgliedern des ND-Redaktionskollegiums gedruckt

Nach neun (offizieller Dienstbeginn im ND) ging ich ins Redaktionssekretariat, um meinen Ausflug nach Potsdam anzusagen und einen „Zweispalter“ über die dortige Pädagogen-Konferenz anzumelden. Eberhard Heinrich und Armin Greim besprachen die Seitenverteilung für die nächste ND-Ausgabe (26. November 1965). Unklar war, was und wieviel „Neues Deutschland“ von der an diesem Donnerstag im DDR-Staatsrat stattfindenden „Beratung Walter Ulbrichts mit Kulturschaffenden“ bringen würde. Auf die Seite 6 sollte ein „Interview mit Dr. Heinz Klemm“ (stellvertretender Direktor des Pädagogischen Instituts Leipzig/Vorsitzender der Ständigen Kommission Volksbildung beim Bezirkstag Leipzig) kommen.

„Nun dürfen wir schon die Verklemmungen‘ der LVZ (´Leipziger Volkszeitung´) mitdrucken“, sagte Heinrich und gab mir das Telex-Manuskript. Überschrift desselben: „Westdeutsche Pädagogen erklärten: /Die DDR ist ein Staat, /der für Ordnung/und Sauberkeit sorgt“. „Vor kurzem“, hieß es im Vorspann ohne nähere Orts- und Zeitangabe, sei Klemm von „westdeutschen Pädagogen“ eingeladen gewesen. „Unser Leipziger Korrespondent“ (ein Namenloser!) habe mit Klemm gesprochen; „das Interview“ werde „auch in der ´Leipziger Volkszeitung´ abgedruckt“. Offensichtlich hatte Heinz Fellenberg (Leiter des Leipziger ND-Büros) sich geweigert, für das beim SED-Bezirkschef Fröhlich gebastelte „Interview“ seinen Namen herzugeben.

„Sonne, Sex und Sozialismus“ – unter dieser Überschrift hatte der „Spiegel“ über das Deutschlandtreffen der Jugend 1964 berichtet, das eine deutliche Absage an sexuelle Repression gewesen war

Dreierlei war alarmierend an dem „Interview“, das der zeitgeschichtlich Interessierte in der ND-Ausgabe vom 26. November 1965 nachlesen kann:

Erstens zitierte Klemm (ohne Namen, Orts- und Zeitangabe) die „Meinung“ „Bild“-lesender westdeutscher Hotelgäste über die DDR: „Das ist wenigstens ein Staat, der gegen solche unmoralischen Erscheinungen auftritt, der für.Ordnung und Sauberkeit sorgt. Wir könnten froh sein, wenn auch bei uns (also im Westen; H.W.) gegen Gammlerunwesen und Rowdytum konsequent eingeschritten würde.“

Zweitens gab Klemm von sich, er habe seinen „westdeutschen Berufskollegen auch gesagt, daß ein Teil der Rowdys und Arbeitsbummelanten zu Arbeitserziehung verurteilt wurde; sie lernen jetzt in Betrieben der Braunkohlenindustrie wieder ordentlich arbeiten und leben“! Mit solchen Klemm-Sprüchen wurde die „Westarbeit“ bedenkenlos DDR-innenpolitisch instrumentalisiert – zur Durchsetzung der Schelepin/Semitschastny-Linie im „Bruderland“. Man muß sich vor Augen halten, daß zu diesem Zeitpunkt nur LVZ-Leser von den Vorgängen auf dem Leipziger Leuschner-Platz „informiert“ waren – tendenziös informiert; und so tendenziös informierte Klemm nun in der „zentralen Presse“ die Leser in der ganzen DDR.

Drittens griff Klemm „einen Schuldirektor“ (gemeint war vermutlich Wolfgang Triebel, Direktor der Berliner Wildangel-Oberschule, der in der „Deutschen Lehrerzeitung“ das Jugendkommuniqué verteidigt hatte, und solche Leipziger Pädagogen an, die „sich bei der Bezirksleitung“ (des Paul Fröhlich in Leipzig) „über die getroffenen Maßnahmen“ „beschwerten“. Auch von ihnen und der Art ihres Protestes bei Fröhlich hatte die Öffentlichkeit bislang nichts erfahren.

Als Chefredakteur Axen am späten Vormittag dieses 25. November 1965 noch immer nicht in der Redaktion erschienen war, rief ich ihn über seinen eigenen „Sonderapparat“ zuhause an, um gegen das „Klemm-Interview“ mein „Veto“ als ND-Kollegiumsmitglied einzulegen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihm bereits sagen, wer in der Redaktion gegen diese Art der Behandlung der Leipziger „Vorkommnisse“ sei: Heinrich, Greim, Hansen, Höpcke, Dr. Günter Kertzscher, Herbert Naumann, die gesamte Abteilung Volksbildung, von mir und der Abteilung Wissenschaft gar nicht zu reden.

Wiederbelebung des „hysterischen Sozialismus“ – Text des ND-Redakteurs Max Kahane zum Kanne-Prozeß im ND vom 4. Dezember 1965. Axen zählte Kahane zu denen, die nicht „zurückweichen“ würden

Axen reagierte böse. „Der Klemm“ werde unter allen Umständen gedruckt, ohne Verzögerung, in der morgigen Ausgabe. Auch komme jetzt der „Kanne-Prozeß“ in die zentrale Presse. Das sei sogar mit Turba abgestimmt. – „Kurt Turba nimmt vermutlich an, daß ich zum Prozeß nach Halle fahre.“ – „Nein, das kommt nicht in Frage. Aus Halle berichtet Martin John. Eventuell fährt Max Kahane nach Halle. Du bist dazu nicht geeignet. Du weichst ständig zurück.“ – „Wer weicht zurück, Genosse Axen, Du oder ich?“ – Nach diesem Dialog redeten wir (Axen und ich) nicht mehr miteinander – bis zu der Nacht nach dem 11. Plenum, über die noch zu berichten sein wird.

„Kanne-Prozeß“ – seit dem 8. November 1965 lief vor der Jugendstrafkammer des Kreisgerichts Halle-West unter Vorsitz von Dr. Horst Schur ein Prozeß gegen 25 männliche (!) Jugendliche, denen „vollendete oder versuchte Notzuchtverbrechen in Tateinheit mit gewaltsamer Unzucht“ vorgeworfen wurden. Auch „verbrecherische Trunkenheit“, „Eigentumsdelikte“ und „gefährliche Körperverletzung“ seien im Weichbild des Jugendtreffpunkts „Freundschaftskanne“ am Hallenser Friedemann-Bach-Platz vorgekommen.

Berichte über den Prozeß erschienen zunächst nur in der Hallenser Bezirkszeitung „Freiheit“. Dieses Blatt hatte ich (seines schönen Namens wegen) als einzige Bezirkszeitung zufällig im ND abonniert (an Berliner Kiosken gab es Bezirkszeitungen schon deshalb kaum zu kaufen, weil Westberliner Korrespondenten der Zugang zu ihnen erschwert werden sollte). So konnte ich mit wachsendem Entsetzen verfolgen, wie in Halle der „hysterische Sozialismus“ der Stalin-Ära wiederbelebt und zur systematischen moralischen Diskriminierung der „Hausherren von morgen“ instrumentalisiert wurde.

Zum „ hysterischen Sozialismus“ gehörten ja nicht nur die „Ehrenpräsidien“, in die auf SED-Versammlungen der frühen fünfziger Jahre nach sowjetischem Vorbild abwesende „Heilige“ wie Stalin und Mao Tse-tung mit minuten langem rhythmischen Beifall und „Ovationen“ „gewählt“ wurden, sondern auch die unerträglichen Versammlungen der „sexuellen Repression“, auf denen „ertappte“ bzw. denunzierte Genossen von „Polit-Voyeuren“ genötigt wurden, ihre Intimsphäre Zug um Zug zu entblättern und reuige Selbstbezichtigung zu üben. Die Transformation „sexueller Repression“ in „innerparteiliche Repression“ folgte einer primitiven Analogie: „Wer fremdgeht, hintergeht auch die Partei.“

Im Gegensatz zu solchen „miefbürgerlichen“ Mentalitäten folgte das Jugendkommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ (September 1963) unverkennbar dem „Lustprinzip“. Es schrieb das individuelle Recht auf Liebe und Glück, auf selbstbestimmte Partnerschaft fest. Viele vernünftige Leute waren unauffällig, aber erfolgreich bemüht, Repressionen abzubauen. Friedrich Karl Kaul beispielsweise wurde „FKK“ genannt, weil er die Ausbreitung der Freikörperkultur juristisch flankierend unterstützte und sich für „sexuellen Datenschutz“ auf den Hotel-Meldezetteln verwendete. Die Sexualforschung (wie auch die Jugendforschung) kam endlich in Fahrt. Als „Der Spiegel“ 1964 seine Reportage vom „Deutschlandtreffen der Jugend Pfingsten 1964 in der Hauptstadt der DDR“ unter den treffenden Titel „Sonne, Sex und Sozialismus“ stellte, konnten wir annehmen, die „filzlausigen Zeiten“ seien endgültig vorbei.

Und nun diese Prozesse! Vor der Fahrt nach Potsdam schnitt ich (für alle Fälle!) die „Freiheit“-Berichte über den „Kanne-Prozeß“ aus und steckte sie in ein Kuvert, das bis heute erhalten blieb. Da mir eine „Freiheit“-Nummer fehlte, ging ich ins Archiv, wo alle Bezirkszeitungen gesammelt wurden.Dort konnte man sehen, daß nicht nur in Halle ein Anti-Jugend-Prozeß lief, sondern in zahlreichen Kreisstädten der DDR – „wie aus heiterem Himmel“ alle zur gleichen Zeit und nach demselben Muster gestrickt. Wem verdankte die DDR dieses Wunder an Gleichzeitigkeit?

Die Prozeß-Berichte in der „Freiheit“ waren durchweg nicht gezeichnet – weder ein Name noch ein Kürzel. Doch erfuhr man immerhin, daß vor Gericht die Frage erörtert wurde, ob der Griff des Angeklagten H.J. -Sch. ins Schamhaar einer Zeugin (die auch zur „Kanne“-Clique gehörte) eher „zerrend“ oder „kosend“ gewesen sei. Auch war zu lesen, wie die als „Zeugen“ geladenen Eltern, Lehrer und Lehrmeister der Angeklagten bloßgestellt und zu „selbstkritischen Stellungnahmen“ gedrängt wurden.

Juristisch entwickelte sich der „Kanne-Prozeß“ schon ab 10. November 1965 zu einem Flop – als die „Zeugin G.“ ihre vor den „Ermittlern“ gemachte „Aussage“ ausdrücklich als falsch bezeichnete und tapfer bekannte, aus eigenem Willen mit (dem Angeklagten) Werner St. „in den Park gegangen“ zu sein. Trotzdem erhielt Werner St. (der dann in der „Freiheit“ plötzlich Lothar St. hieß) am 4. Dezember 1965 vier Jahre Zuchthaus. Da Dr. Horst Schur am 1. Dezember bereits über 26 Jahre Zuchthaus verhängt hatte, steuerte er zur „Lesemappe“ für das 11. Plenum über 30 Jahre Zuchthaus bei.

Diese drakonischen Strafen für nicht zweifelsfrei erwiesene Schuld waren also noch nicht ausgesprochen, als ich am 25. November 1965 gegen Mittag an der Ecke Wilhelmstraße/ Unter den Linden in Margot Honeckers (schlecht beheizbaren) schwarzen „Tatra“ stieg. Was die Volksbildungsministerin zum Hallenser Prozeß sagen würde, war durchaus nicht vorhersehbar.

Margot Feist gratuliert als jüngste Abgeordnete der Volkskammer am 11. Oktober 1949 Wilhelm Pieck zu seiner Wahl als DDR-Präsident. Die spätere Frau Erich Honeckers sollte ein paar Jahre später selbst Opfer der Ausforschung ihrer Intimsphäre werden
Foto: ADN-Zentralbild/Igel, Bundesarchiv, Bild 183-S88775 / CC-BY-SA 3.0

Von Kurt Turba wußte ich, daß Margot Honecker im Herbst 1963 zu unserem Entwurf des Jugendkommuniqués „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ eine ablehnende schriftliche Stellungnahme verfaßt hatte, deren Text ich allerdings nicht kannte (erst 1990 kam er mir unter die Augen – ein Konvolut von unvernünftigen Sprüchen, die der Verfasserin wohl 1953/54 beim Studium an der Komsomol-Hochschule in Moskau zugeflogen waren). Doch nachdem das Kommuniqué im September 1963 trotz der Honecker-Einwände beschlossen worden war, hatte sich die langjährige FDJ-Funktionärin und „oberste Pionierleiterin“ auf Jugendforen zur „Linie des Kommuniqués“ bekannt und war an die Spitze des Ministeriums für Volksbildung gerückt. Dort stand ihr (als wissenschaftlicher Berater) ein theoretischer Kopf des „Forum“-Kreises zur Seite: Klaus Korn.

Als Margot Honecker 1954 in dem alten Ministerialgebäude Wilhelmstraße 68 erschien, um in der Hauptabteilung Lehrerbildung die „Abteilung Organisation“ zu übernehmen, machte sie einen nicht gerade glücklichen Eindruck. Ihr Dienstzimmer lag zufällig neben meinem (von 1952 bis Herbst 1955 war ich für die naturwissenschaftlichen Ausbildungsprogramme der Lehrerbildung zuständig). Und obgleich die Büro-Nachbarin nie über ihren Karriere-Knick von 1953 sprach – klar war, daß sie für die Verwandlung der Margot Feist in Margot Honecker einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Sie war das „Bauernopfer“, mit dem er seine Position an der Spitze der FDJ zu retten versuchte, bis auch er Ende Mai 1955 aus dem FDJ-Zentralrat verschwand.

Zeitzeugen berichten, daß in den frühen fünfziger Jahren in der FDJ-Zentrale ziemlich lockere Sitten herrschten. Bestimmte Zentralratsheime nordöstlich von Berlin hätte man damals durchaus „Freundschafts-Kannen“ nennen können. Diesen Umstand nutzte unmittelbar vor dem berüchtigten IV. Parlament der FDJ (27. bis 30. Mai 1952) eine als Komsomol-Brigade getarnte Inspektionsgruppe des sowjetischen Geheimdienstes, um in „persönlichen Gesprächen“ mit FDJ-Zentralratsfunktionären (penetrante Ausforschungen der Intimsphären inbegriffen) einen Erpressungshintergrund für die von Stalin gewünschte Militarisierung des DDR-Jugendverbandes zu schaffen.

Ob die Liaison des noch mit Edith Baumann verheirateten FDJ-Chefs Erich Honecker mit der Vorsitzenden der Pionierorganisation Margot Feist im Frühling 1952 schon bestand, weiß vermutlich nur Margot Honecker im fernen Chile. Daß sie aber als „Sündenbock“ sowohl für das Versagen der FDJ um den 17. Juni 1953 als auch für die private „Affäre“ „in die Wüste“ (nämlich auf die Moskauer Komsomol-Hochschule) geschickt wurde, ist ziemlich“ klar. Margot Feist war landesweit bekannt, nachdem sie am 11. Oktober 1949 „als jüngste Abgeordnete der Volkskammer“ dem soeben gekürten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck einen riesigen Blumenstrauß hatte übergeben dürfen. 1954 verschwand sie (für 13 Jahre) sang- und klanglos aus der Volkskammer. Kein Wunder, daß sie nun um eigenes Profil und um eigene Hausmacht bemüht war.

Bericht der Hallenser SED-Zeitung „Die Freiheit“ vom 2. Dezember 1965 zu den Urteilen im Kanne-Prozeß


Am 25. November 1965 verteidigte Frau Honecker den Hallenser Prozeß nicht. Vielmehr war sie besorgt, die Anti-Gammler-Welle könne auch die Schulen überschwemmen. Das „Schwarzer-Peter-Spiel“ war voll im Gange. „Rette sich, wer kann“ lautete die Geheimparole (auch im Staatsrat, wo Ulbricht mit den Künstlern „konferierte“) – denn für das Wochenende hatte sich eine hochkarätige Delegation der KPdSU-Führung angesagt.

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