Die Nacht der langen Messer

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 2)

Wie einer die Schlagzeile „Lange Nacht bei heißen Rhythmen“ als „Heiße Nacht der langen Messer“ mißverstehen kann, ist schwer zu verstehen. „Heiße Nacht der langen Rhythmen“ – das könnte als Versprecher oder als Jux noch hingehen, auch „Nächtliche Länge bei rhythmischer Hitze“. Doch „lange Messer“? Wo kommen die Messer her?

ND-Bericht vom 4. Oktober 1965

Die Messer konnten nur aus dem Kopf des Mannes kommen, der sich am Morgen des 4. Oktober 1965 in einem Telefongespräch über die Schlagzeile „Lange Nacht bei heißen Rhythmen“ („Neues Deutschland“ vom 4. Oktober 1965, Seite 2) mächtig empörte, dabei aber beharrlich so tat, als stehe im „Zentralorgan“ vom Tage „Heiße Nacht der langen Messer“. Dieser Mann hieß Erich Honecker.

Die „heiße“ Schlagzeile gehörte zu einem Bericht über das Geraer Bezirksjugendtreffen vom Wochenende (2. und 3. Oktober 1965). Über 15.000 Mädchen und Jungen waren aus dem ganzen Bezirk in die nicht gerade weiträumige Bezirkshauptstadt Gera gekommen, wo ein geistig anregendes und unterhaltsames Programm geboten wurde. Höhepunkt war die lange Nacht in den Sonntag. Auf allen Plätzen der Stadt wurde getanzt. Dutzende der damals in der DDR wie Pilze aus dem Boden sprießenden Beatgruppen, aber auch traditionelle Jazz-Formationen wie die Jenenser „Old Timers“ gaben den Ton an. Den Einwohnern der Stadt war es recht.

Junge Leute hatten das unkonventionelle Programm zusammen mit der FDJ-Bezirksleitung aufgestellt. Die SED-Bezirksleitung mußte es absegnen. Sie tat es nach internen Querelen. Mutig, mutig! Denn just in die „Planungsphase“ platzten die erschröcklichen Nachrichten von den „Jugendkrawallen“, die sich am 15. September bei einem Konzert der Rolling Stones in der Westberliner Waldbühne entwickelt hatten und über die in der „Bild-Zeitung“ tagelang mit furchterregender Breite in Wort und Bild berichtet worden war.

In jenen Tagen bekam ich „Bild“ erstmalig in die Hand. Hermann Axen schickte mir das Exemplar, das für den ND-Chef abonniert war. Er sagte mir auch, wer im SED-Politbüro zu den „Bild“-Lesern gehöre. So konnte ich mir ausmalen, wie die jugendpolitischen Hardliner in der SED-Führung mit der Waldbühnenrandale die Stimmung gegen Kurt Turbas Formel „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ aufputschen würden. Das war ein gefundenes Fressen für die politischen Falken.

„Die Schlacht in der Waldbühne“. So lautete die „Bild“-Schlagzeile am 16. September 1965 in Riesenlettern, quer über der Titelseite der Berliner Ausgabe. Dazu die ganze dritte Seite voller Fotos von der „Schlacht“ und dem „Schlachtfeld“. Wenn Honecker diese Ausgabe von „Bild“ nicht im Aktenkoffer hatte, als er am 17. September an der Seite Walter Ulbrichts zum Staatsbesuch nach Moskau reiste, dann war das Blatt aus Karlshorst an die Moskauer KGB-Zentrale geschickt worden.

Der Kreml – im festen Glauben, daß Zeitungen in aller Welt politisch gesteuert sind – nahm das „Schlachtgetümmel“ in der Stadt mit Viermächtestatus ernst. Ohne Moskauer Rückendeckung hätte Honecker es jedenfalls nicht gewagt, am 20. September von Baku auf das SED-Zentralorgan anzuweisen: „Zum 2. Jahrestag des Jugendkommuniqués nichts auf Seite 1!“

Titelseite von „Bild“ am 16. September 1965

Am 22. September 1965 unternahm Albert Norden eine Reise in den Bezirk Gera. Überraschend rief er mich an und fragte, ob ich ihn nicht begleiten und die Berichterstattung fürs ND übernehmen wolle. Die Chefredaktion sei einverstanden. Am 10. Oktober sollten in der DDR Kommunalwahlen sein. Norden, ein hochintelligenter Rabbiner-Sohn aus Wuppertal, war beim „Roten Presse-Zaren“ Willi Münzenberg in die Lehre gegangen und in der SED-Führung für die Medien zuständig. Also jagten wir auf dieser Wahlkampf-Reise von einer Kundgebung zur anderen.

Es begann mit einem Meeting der NVA im Grenzort Blankenstein. Norden, einer der wenigen zündenden Redner in der SED-Führung, sprach weitgehend frei und sagte plötzlich: „Der Bonner Staatssekretär Carstens ist schlecht beraten, wenn er glaubt, durch seinen gegenwärtigen Besuch in Moskau die durch nichts aus der Welt zu schaffende Kampfgemeinschaft zwischen der DDR und der Sowjetunion auch nur im geringsten in Frage stellen zu können.“ Die intelligenteren Soldaten und Offiziere horchten auf. Da setzte Norden noch eins drauf: Die Ulbricht-Reise werde zeigen, „daß die Entscheidung darüber, wie sich die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion weiter entwickeln, nicht bei den westdeutschen Militaristen liegt.“

Auf dem Weg zur Papierfabrik Blankenstein, wo eine Aussprache mit Jungwählern vorgesehen war, konnten wir ungestört sprechen. „Jaja, dieser Carstens“, sagte ich. Norden lächelte. „Man hat ihn auf der Moskauer Chemieausstellung ´den Deutschen Tag´ eröffnen lassen.“ – “Als ob wir nicht auch Deutsche wären.“ – “Eben. Aber natürlich geht es um das neue Wirtschaftsabkommen zwischen der DDR und der Sowjetunion. Wir müssen nachher noch über das Bezirksjugendtreffen in Gera reden.“

Das Jungwähler-Forum litt unter Zeitnot. Nur zwei vorbereitete Fragen konnten gestellt werden. Die im Jugendkommuniqué geforderte „offene Aussprache“ fand nicht statt. Dabei hatten sich seit September 1963 mehr und mehr Jugend-Foren durchgesetzt, bei denen höchstens die ersten zwei, drei Fragen vorbereitet und „abgestimmt“ waren, um die Debatte in Gang zu bringen. Dann aber wurde „frei von der Leber weg“ geredet. Ich vermutete, Norden habe den Zeitplan absichtlich durcheinandergebracht, um nicht mit „freien Fragen“ konfrontiert zu werden.

Auf den Jungwähler-Tischen standen Bananen und Trauben, damals so selten in der DDR, daß man sie zur Korruption verwenden konnte. Gleichwohl war die Methode, jungen Leuten mit Bananen das Maul zu verstopfen, ein Rückfall in die Zeit vor der Verkündung des Prinzips „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“.

Nach dem Forum nahm Norden mich beiseite. Vorlaut und respektlos, wie ich war, fragte ich ihn: „Hätten die Bananen nicht in eine Kinderkrippe gehört – wenn wir schon so wenig davon haben?“ Keine Antwort. Statt dessen eine knallharte Ermutigung ganz anderer Art: „Die Vorfälle in der Waldbühne dürfen auf keinen Fall dazu führen, daß wir unserer Jugend die Schlaggitarren wieder wegnehmen. Die Jugendkommission muß konsequent bleiben. Das habe ich auch Ziegenhahn gesagt.“

Herbert Ziegenhahn war der „1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera“ und insofern politisch letztverantwortlich für das Bezirksjugendtreffen am 2./3. Oktober 1965 in Gera. Ziegenhahn hörte auf Norden und „ließ der Jugend ihren Lauf“. Der 2. Sekretär in Gera, der auch für „Sicherheit“ zuständig war, hörte eher auf Honecker, damals in der SED-Führung „Sicherheitsbeauftragter“. Daher rührten wohl die Querelen im Vorfeld des Jugendtreffens. Am Sonntagmorgen (3. Oktober 1965) eröffnete Ziegenhahn im Beisein von Kurt Turba (Leiter der Jugendkommission beim SED-Politbüro) das im Programm vorgesehene Jugendforum in Gera. Trotz der „Langen Nacht bei heißen Rhythmen“ waren zahlreiche junge Leute erschienen. Zitat aus dem Bericht des ND-Jugendredakteurs Dieter Adolf (ND vom 4. Oktober 1965, Seite 2):. „Trotz allem“ (gemeint war der Beat-Rhythmus auf allen Plätzen) „und gerade deshalb: Die Polizei hatte weitaus weniger Arbeit als an anderen Wochenenden, teilte Herbert Ziegenhahn zu Beginn des Jugendforums mit.“

Ziegenhahns Mitteilung war eine Ohrfeige für die Sicherheitsfanatiker in Ostberlin und Moskau. Deren Furcht vor Jugendkrawallen in der-DDR analog zur „Schlacht in der Waldbühne“ wurde in Gera als unbegründet vorgeführt. Nach dem Geraer Treffen entfiel praktisch jeder Vorwand zu einer restriktiven Jugendpolitik und zu einer Revision des 1963 beschlossenen Kommuniqués „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“.

Als Erich Honecker am Montag morgen den ND-Bericht „Lange Nacht bei heißen Rhythmen“ las, muß er empört und verwirrt gewesen sein. Er griff zum „Sonderapparat“ (Telefon für das Sondernetz innerhalb des Parteiapparats), wählte aber nicht die Nummer des ND-Chefredakteurs, sondern die des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Gera. Den konnte Honecker zurechtweisen, ohne Widerspruch befürchten zu müssen. Honecker – in langjähriger Zuchthaus-Haft diszipliniert – schrie nicht herum. Er fragte nur: „Wie kommt ihr dazu, in Gera eine ´Heiße-Nacht der langen Messer´ zuzulassen?“ Solcher Lakonismus hatte im Partei- und MfS-Apparat zumeist eine verheerende Wirkung. Der 2. Sekretär gab die „E. H.-Frage“ an seine Untergebenen, aber auch an Ziegenhahn – weiter. Noch 15 Jahre später konnte Ziegenhahn den Journalisten Wessel nicht begrüßen, ohne leise und lächelnd die Floskel „Heiße Nacht der langen Messer“ hinzuzufügen.

Titelblatt des „Eulenspiegel“ vom 1. April 1963

„Muß der Honecker mächtig sein“, sagten sich die einen, „wenn er so willkürlich mit nachprüfbaren Tatsachen umgehen darf“. Nur wenige begriffen den Hintersinn: Die „langen Messer“ waren keine Anspielung auf die Bartholomäus-Nacht, sondern offensichtlich ein Rekurs auf den sogenannten Röhm-Putsch vom Sommer 1934. Die ungeniert mörderische Art, in der Hitler damals gegen „seine eigenen Leute“ (vor allem in der SA-Führung) vorging, schockierte die ganze zivilisierte Welt und muß auch den jungen Honecker stark beeindruckt haben. „Die Ereignisse vom 30. Juni“, schrieb die Moskauer „Prawda“ am 2. Juli 1934 zum „Röhm-Putsch“, seien bezeichnend. „Die faschistische Diktatur frißt selbst ihre eigenen ´besten Leute´ auf.“ Das galt spätestens ab 1. Dezember 1934 (dem Tag der provokativen Ermordung Kirows) auch für die Stalin-Diktatur. Wollte Honecker mit den „langen Messern“ bewußt drohen? Oder rutschten ihm die „langen Messer“ unbewußt heraus – als Ausdruck einer „traumatischen politischen Urangst“?

Nach der Rückkehr vom Staatsbesuch in der Sowjetunion stand Honecker nicht nur im Wort bei Breshnews Sicherheitsbürokraten („Keine Jugendkrawalle in der DDR!“, „Schluß mit den unberechenbaren westlichen Kultureinflüssen auf die DDR-Jugend!“ usw.), sondern er selbst fürchtete offenbar um seine Machtchancen im Wettstreit mit den jüngeren, besser gebildeten und fachlich wie politisch kompetenteren „Hausherren von morgen“. Und innerlich traute Honecker (wie auch Mielke und andere Hardliner) dem „Geraer Frieden“ nicht. Vielmehr standen. Schlachtenbilder à la Waldbühne ihm damals vor Augen, wenn er nur das ihm semantisch wie psychologisch fremde Wort „Beat“ las oder hörte. Nur so ist die ebenso bornierte wie rücksichtslose Vehemenz zu erklären, mit der der ehemalige FDJ-Chef Honecker im Herbst 1965 die DDR-Jugend zu disziplinieren versuchte und sie dabei doch nur in Opposition trieb.

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