Ein falscher Prophet

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 13)

Zielscheibe für Hanna Wolfs Philippika auf dem 11. Plenum: ND-Artikel aus der Ausgabe vom 12. April 1965

Unter den Glückwünschen, die mich zum Jahreswechsel 1965/66 erreichten, befand sich überraschenderweise eine mit freundlichen Worten versehene Briefkarte aus Oberhof – von Hanna Wolf. Vielleicht fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut – nach ihrer Philippika auf dem 11. Plenum gegen den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser“? Oder nachdem sie bemerkt hatte, daß ihre böse Bemerkung, solche Artikel würden „Freiheit der Kritik an der Partei“ schaffen, wider Erwarten im ND stand und „an der Parteibasis“ kaum „freudige Zustimmung“ fand? Oder nachdem sie hier und da gefragt wurde, wieso sie erst nach acht Monaten und nicht schon im April 1965 gegen den „Artikel von Turba und Wessel über die Besserwisser“ Stellung genommen hat?

Natürlich wußte Hanna Wolf, daß eine achtmonatige Schwangerschaft für eine Philippika ziemlich ungewöhnlich war. Deshalb betonte sie auf dem 11. Plenum, sie habe das (ihre Kritik am Turba-Wessel-Artikel) damals gleich gesagt. Mag ja sein, daß sie das im April 1965 sich selbst oder irgendwem „damals gleich“ gesagt hat – uns, den beiden Autoren der Betrachtung in „Neues Deutschland“, jedenfalls nicht. Mit einem Griff zum Telefonhörer hätte sie ihren Widerspruch damals gleich an die richtige Adresse richten können: an Kurt Turba und an mich. So verfuhr man gewöhnlich innerhalb der SED – in den frühen sechziger Jahren, während die Methode, hinter dem Rücken von Betroffenen über sie zu reden und gegen sie zu operieren, als ein Relikt aus Stalins Zeiten (und als MfS-Vorrecht!) galt.

Die Betrachtung „Macht besseres Wissen Besserwisser? Das Vorbild überzeugt“ von Turba und mir im ND vom 11. April 1965 (Seite 3) war keineswegs ein Plädoyer gegen „die führende Rolle der Partei“, sondern eine Mahnung an alle Funktionäre, junge Leute zu Wort kommen zu lassen, ihnen zuzuhören und auf sie zu hören. Auch besseres Wissen und größere Lebenserfahrung gäben keinem älteren Menschen das Recht, sich gegenüber jüngeren Leuten rechthaberisch und autoritär zu gebärden. Die Besserwisserei von Erwachsenen gegenüber dem Nachwuchs war damals in der DDR nicht stärker ausgeprägt als in der BRD, aber sie war in der „ideologiedurchsetzten“ DDR-Gesellschaft besonders ärgerlich und von einer desintegrativen Wirkung. Sie verschärfte die natürlichen Widersprüche zwischen den Generationen.

1965, das Jahr von Erich Honeckers falschen Prophezeihungen, begann mit einem Empfang im Staatsrat der DDR. Honecker (links) und Walter Ulbricht mit ihren Frauen Margot und Lotte am 9. Januar 1965 Foto: ADN/Zentralbild, Ulrich Kohls, Bundesarchiv, Bild 183-D0110-0001-001 / CC-BY-SA 3.0

Doch die Brisanz des „Artikels von Turba und Wessel über die Besserwisser“ lag nicht nur in seinem gesellschaftskritischen Inhalt, sondern auch und vor allem in seiner „internen Aufsässigkeit“. Der Turba-Wessel-Artikel ging von kritischen Stimmungen und Beschwerden aus, die junge Leute bei dem von der Turba-Jugendkommission organisierten „Jugendwochenende“ vom 27./28. März 1965 in der mecklenburgischen Kleinstadt Demmin artikuliert hatten. Dieses Demminer Wochenende hatte die von Turba geleitete „Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED“gegen den intriganten Willen von „Erich & Erich“ (Honecker und Mielke) veranstaltet und dann auch noch zu einem „Medienereignis“ gestaltet.

Bald nach dem Chruschtschow-Sturz Ende 1964 in Moskau begann ein eigentümlicher Nervenkrieg gegen Turba. Honecker schickte Turba mit zunehmender Häufigkeit „rote Hausmitteilungen“. Das waren auf rotem Papier geschriebene kurze Mitteilungen über „Vorkommnisse mit Jugendlichen“. Jedes bei irgendeinem Jugendtanz in der DDR zu Bruch gegangene Bierglas wurde von Mielkes (damals noch nicht inflationär angewachsener) „Truppe“ registriert und nach Berlin gemeldet. Dort in der MfS-Zentrale kamen die „spektakulärsten“ „Vorkommnisse“ auf Mielkes Tisch, wo sie „dramatisiert“ und auf rotem Papier an den „Sicherheitsbeauftragten“ der SED-Führung, „Genossen Erich Honecker“, geschickt wurden. Und der gab dann die roten Zettel postwendend „Gen. Turba zur Kenntnis“.

Inflation der „Vorkommnisse“: Staatssicherheitsminister Erich Mielke beim Staatsbeuch in der UdSSR im Juni 1964
Foto (Ausschnitt): ADN/Zentralbild, Peter Heinz Junge, Bundesarchiv, Bild 183-C0609-0048-001 / CC-BY-SA 3.0

Eigentlich hätte Mielke diese roten Zettel an Ulbricht schicken müssen. Ulbricht, der damals auch die Hauptdaten der Kriminalitätsstatistik und der von ihm eingeführten DDR-Meinungsforschung bekam, hätte vermutlich die Bierglas-Zettel an Mielke zurückgegeben – mit der Forderung, gefälligst gebündelte und repräsentative Informationen zu liefern. Mielke. stand vor dem 11. Plenum „zwischen Baum und Borke“, zwischen Honecker und Ulbricht, genauer: zwischen den Intentionen der KGB-Instrukteure und Ulbrichts „eigensinnigen Reformversuchen“. Heinz Eichler, damals „persönlicher Mitarbeiter“ bei Ulbricht, wußte Kurt Turba zu berichten, neuerdings müsse er (Eichler) ständig hinter Mielke herrennen, weil der so nervös sei, daß er immer öfter nach Beratungen bei Ulbricht irgend etwas liegenlasse…

Im März 1965 bekam Turba einen „roten Zettel“ „zur Kenntnis“, auf dem von umgeworfenen dörflichen Mülltonnen die Rede war. Erfurter Jugendliche, die sich zur „Landhilfe“ gemeldet hatten, waren nahe Altentreptow eingesetzt worden und hätten „aus Langeweile“ an einem Wochenende Mülltonnen gestemmt. Die Jugendkommission beschloß, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen. Doch plötzlich kam vom MfS die Meldung, der Kreis sei wegen Maul- und Klauenseuche gesperrt. Ich plädierte dafür, daß der Berliner Veterinärmediziner Prof. Dr. Günther Heider, der auch Mitglied unserer Jugendkommission war, die „politische Seuche“ in Altentreptow überprüfen solle. Doch dann einigten wir uns, daß für Altentreptow geplante „Jugendwochenende“ kurzerhand nach Demmin zu verlegen.

Das „Jugendwochenende“ in Demmin (mit Beat, Tanz, interessanten Fachvorträgen, Dichterlesungen und vielen Diskussionen über „heiße Eisen“) war ein voller Erfolg – obgleich das MfS nicht nur mit „Beobachtern“, sondern offenbar auch mit manchem „Agent provocateur“ vertreten war… Einen herrlichen Bericht über das „Wochenende in Demmin“ schrieb der talentierte Reporter Dieter Wolf für „Neues Deutschland“ vom 2. April 1965 unter den (blauen!) Schlagzeilen „Die kleine Stadt will nicht schlafen gehen“. Beiläufige Erkenntnisfrucht dieses „Investigative Journalism“: Die in der Polizeiwache gesammelten Berichte offenbarten eine eindeutige Relation zwischen „Nichts los in Demmin“ und „Vorkommnissen mit Jugendlichen“.

Hanna Wolf hat das vermutlich nicht im Detail gewußt. Also muß sie „animiert“ worden sein – wie auch Inge Lange. Deren Rede auf dem 11. Plenum kannte ich (wie gesagt) damals nicht. Doch ein guter Freund (der im Büro Hager arbeitete) hatte mir erzählt, „die alten Hasen aus Honeckers FDJ-Zentralrat“ würden mich „zunehmend als einen ´Jugendpolitiker´ ohne FDJ-Erfahrung“ „anschwärzen“. Ein unverschämter Vorwurf, der FDJ-Erfahrung nur in Gestalt von FDJ-Apparat-Erfahrung gelten ließ – eine für eine Jugendorganisation tödliche Anmaßung!

Nachdem Hanna Wolfs Attacke auf Turba und Wessel im ND gestanden hatte, bekam ich überraschend viele Einladungen zu Vorträgen und Diskussionsabenden. Es waren zumeist intelligente Zeichen der Solidarität. Die Mehrheit der DDR-Deutschen einschließlich vieler SED-Mitglieder hatte damals schon die spezifische Mentalität der geduldig-hartnäckigen, nur scheinbar fügsamen, in Wahrheit durchtriebenen, gut überlegten und auf Solidarität setzenden Selbstbehauptung entwickelt – eine Mentalität, die das altbundesdeutsche „Herrschaftswissen“ noch kolossal bereichern wird… Zum 21. Dezember 1965 war ich vom „Zentralen Ausschuß für Jugendweihe“ eingeladen. Auf einer Tagung von Jugendweihe-Mitarbeitern aus der ganzen DDR sollte ich über „Aktuelle Probleme der Jugendpolitik“ sprechen. Das war spannend – für das Auditorium nicht weniger als für den Referenten.

Richtig lustig wurde es, als ich (scheinbar ohne jeden Anlaß) von meinen FDJ-Basis-Erfahrungen berichtete und dabei ausmalte, wie ich 1950 durch die „Prüfung zur Erlangung des FDJ-Abzeichens für Gutes Wissen in Bronze“ gefallen war. Die zur „Prüfung“ der Jenenser FDJ-Studenten angereiste „Prüfungskommission“ ließ mich „wegen Unklarheiten in der nationalen Frage“ durchfallen; Die „Unklarheiten“ bestanden darin, daß ich, nach Stalins Definition der Nation gefragt, auch auf die Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt zu sprechen kam, den die Kommission nicht kannte. Dafür aber hatten alle Mitglieder der Kommission das „Abzeichen für Gutes Wissen“ in Gold und in Silber am Revers.

Übrigens ordnete Honecker am 6. Juli 1966 eine Wiederaufnahme der zweifelhaften „Prüfungen“ zur „Erlangung“ der FDJ-Abzeichen „Für Gutes Wissen“ an – ohne allerdings „im Jugendverband“ eine nennenswerte Resonanz zu finden. Selbst dem FDJ-Apparat war die Sache nun zu albern.

Mit Szenenbeifall quittierten die Jugendweihe-Funktionäre am 21.-Dezember 1965 meine beziehungsvolle Einlassung, damals (1950) sei der Punkt gewesen, an dem ich mit Jugendarbeit habe aufhören wollen. „Doch was soll’s“, sagte ich, „wer wird denn gleich aufgeben wollen, wenn es schwierig wird… Ich blieb bei der Stange, bei der Jugendarbeit.. Jeden Monat mindestens einmal direkt mit jungen Menschen sprechen, das hilft nicht nur den Jugendlichen, sondern auch dem, der es tut…“

Hanna Wolf hat ihre Rede auf dem 11. Plenum nicht wieder drucken lassen. Auch Inge Lange bestand nicht darauf, die 11 .-Plenum-Rede in den 1987 erschienenen Band Inge Lange „Ausgewählte Reden und Aufsätze“ aufzunehmen. Statt dessen wurde eine Rede vom 2. Juni 1979 unter den Titel „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ gestellt – unsere Formel aus dem „Forum“ von 1963 nun zu einer Allerweltsparole „vermarktet“. Mit dem Verdrängen ihrer Reden vom Dezember 1965 folgten die beiden „scharfen Genossinnen“ dem Beispiel ihres „Vormannes“ Erich Honecker, dessen „Bericht“ auf dem 11. Plenum in der langen Reihe von Bänden mit Honecker-Reden fehlt.

Nicht erst 1989 stellte sich heraus, daß alle wichtigen Voraussagen Erich Honeckers vom Dezember 1965 direkt oder tendenziell falsch waren. In einigen Punkten mußte Honecker schon zehn oder fünfzehn Jahre später selbst einsehen, daß sein unkritisches Vertrauen zu Moskau ihn zu einem falschen Propheten hatte werden lassen. Einige Beispiele zur Erinnerung:

– Rohstoffe: Erich Apel hatte 1964 festgestellt, das von Moskau beherrschte Wirtschaftsgebiet werde nicht in der Lage sein, den Rohstoffbedarf der DDR zu decken. Erich Honecker versicherte auf dem 11. Plenum, mit dem neuen Handelsabkommen DDR-UdSSR sei die Rohstoffversorgung der DDR zuverlässig gesichert. Schon Mitte der siebziger und erst recht in den achtziger Jahren zeigte sich dramatisch, daß Apel die Dinge richtig vorausgesehen hatte.


Weltspitze: Im Gegensatz zu Apel forderte Honecker auf dem 11. Plenum die DDR-Wissenschaft auf, ihre Westorientierung zugunsten einer engen Kooperation mit der „absolut führenden“ Sowjetwissenschaft aufzugeben. Eine verhängnisvoll falsche Orientierung, die sich später auch mit Schalck-Golodkowskis Methoden nicht mehr wettmachen ließ.

Getreide: Honecker erzählte auf dem 11. Plenum, Breshnew habe ihm versichert, die sowjetischen Getreideimporte seien wetterbedingt und würden bald nicht mehr nötig sein. Tatsächlich mußte Moskau immer mehr Getreide importieren, und unter dem wirtschaftspolitischen Schwätzer Gorbatschow hatte die kleine DDR sogar Kartoffeln in die große Sowjetunion zu liefern.

Der einstige Kybernetik-Gegner und besondere Moskau-Freund Erich Honecker läßt 1988 in Moskau dem Kreml-Chef Michail Gobatschow den 1-Megabit-Schaltkreis der DDR vorstellen. Das Rennen um die Mikroelektronik ist da längst verloren
Foto: ADN/Zentralbild, Karl-Heinz Schindler, Bundesarchiv, Bild 183-1988-0929-418, CC-BY-SA 3.0

Kybernetik: Honecker beteuerte auf dem 11. Plenum, die Sowjetunion werde die DDR mit Halbleitern zuverlässig versorgen. Ehe Honecker Moskaus leere Versprechungen durchschaute, waren nicht mehr aufzuholende Jahre verstrichen. Noch nach dem VII. Parteitag (April 1967) verlangte Honecker vom damaligen ND-Chef Rudi Singer, „Neues Deutschland“ müsse den (von mir geschriebenen) Leitartikel über Kybernetik „zurücknehmen“, weil darin „Selbstlauf“ propagiert werde. Singer wies Honeckers absurdes Ansinnen zurück! Anfang der achtziger Jahre konnte man dann die Milliarden verschlingende, gleichwohl vergebliche mikroelektronische „Aufholjagd“ erleben.

Kein Keil: Honecker vergatterte auf dem 11. Plenum den SED-Apparat wieder auf die „unverbrüchliche Freundschaft“ zur sowjetischen Führungsmacht. Nie werde es gelingen, einen Keil zwischen UdSSR und DDR zu treiben. Diese wortreichen Ergebenheitsbekundungen gegenüber Moskau richteten sich „unterschwellig“ gegen Ulbrichts zaghafte Bemühungen um DDR-Selbstbestimmung. Die Geschichte hat gezeigt, daß gerade mit dem „Kein Keil“-Geschwätz der verhängnisvollste Keil in eine vernünftige Partnerschaft zwischen DDR und UdSSR getrieben wurde.

Um es prononciert zu sagen: Das wichtigste Opfer des von der Moskauer Restaurationsbürokratie initiierten und von der SED-Hardliner-Fraktion exekutierten 11. Plenums war die von vielen Menschen als Ideal erstrebte internationale Solidarität. „Bruderländer“ als „Kronkolonien“ zu behandeln – das konnte einfach nicht gutgehen.

Nächste Folge: „Ulbricht macht das Tor auf“