„…entscheiden die Kader alles“

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 17 und Schluß)

Am 27. Januar 1966, wurde Kurt Turba nach knapp zweieinhalbjähriger Amtszeit als Leiter der „Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED“ und der „Abteilung für Jugendfragen“ im Apparat des ZK der SED abgesetzt. Damit verlor die 1963 eingeleitete wichtigste Reformbewegung in der Geschichte der DDR nach dem Selbstmord Erich Apels am 3. Dezember 1965 einen weiteren-herausragenden Promotor. Die „kaderpolitischen“ Veränderungen nach dem 11. Plenum hatten die von Moskau erzwungene politische Richtungsänderung in den Apparaten der DDR (SED, MfS, Staat und Massenorganisationen) zu verankern und folgten der „bewährten“ Stalin-Formel: „Ist die Linie klar, entscheiden die Kader alles.“

Kurt Turba, Leiter der Jugendkommission beim SED-Politbüro bis Januar 1966. Seine Ablösung wurde in den DDR-Medien nicht mitgeteilt
Foto: Archiv Wessel

Mit dem Datum der Amtsenthebung Kurt Turbas offenbarten die Moskauer Mächtigen wieder einmal ihren Sinn für kalendarische Anzüglichkeiten. Genau 32 Jahre zuvor, am 27. Januar 1934, war der von J. W. Stalin „erstattete“ „Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag. Über die-Arbeit.des ZK der KPdSU (B)“ veröffentlicht worden, der die barbarische „Philosophie der Säuberungen“ enthielt. Stalin wandte sich gegen „Leute, die es nicht für ihre Pflicht halten, die Beschlüsse der Partei und der Regierung auszuführen“. Er fragte: „Was soll mit solchen Funktionären geschehen?“ Und antwortete: „Man muß sie ohne Schwanken von den leitenden Posten absetzen, ohne Rücksicht auf ihre Verdienste in der Vergangenheit. (Zurufe: `Sehr richtig!´) Man muß sie absetzen, sie auf niedrigere Posten stellen und das in der Presse bekanntmachen…“

Am 1. März 1939, im „Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag“der KPdSU(B), teilte Stalin dann eiskalt mit, die Partei habe nun rund 270.000 Mitglieder weniger als zur Zeit des XVII. Parteitages. „Daran ist jedoch nichts Schlimmes. Das ist im Gegenteil gut, denn die Partei festigt sich dadurch daß sie sich von Unrat säubert…“ Diese Tschistka-Maxime (schon 1947 in der deutschsprachigen Ausgabe von Stalins „Fragen des Leninismus“ nachlesbar), die den „anders denkenden Genossen“ zum „Unrat“ erklärt, von dem „die Partei“ „gesäubert“ werden müsse, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch soziologisch verhängnisvoll: Diese Maxime implizierte einerseits massenhaften Gesinnungsmord und andererseits einen geradezu unaufhaltsamen Kreativitäts- und Kompetenzverfall. Ein Sozialisationssystem aber, das mit eigenwilligen, kreativen und kompetenten Köpfen strukturell nicht zurechtkommt, während es die opportune Mittelmäßigkeit „adelt“, kann nicht beständig sein.

Mit Kurt Turbas Absetzung würde vor allem die Jugendkommuniqué-Formel „Hausherren von morgen“ sprachregelnd ausgemerzt. Kein DDR-Medium durfte diese Formel ab Ende Januar 1966 verwenden. Selbst Polemik gegen die (seit Herbst 1963 sehr populäre) „Hausherren-von-morgen“-Formel war nun untersagt. Es sollte so aussehen, als habe es diese Formel nie gegeben – zur „Unperson“ die „Unformel“. Sowjetischen Medien war der Begriff „Hausherren von morgen“ von Anfang an so suspekt gewesen wie 1964 der Begriff „Deutschlandtreffen“. Boris Orlow von der „Iswestija“, mein Reisebegleiter nach Armenien, klärte mich auf, warum das so war: „Ulbricht konnte doch nicht im Ernst annehmen, daß er mit solchen Alleingängen durchkommen würde.“

Hermann Axen, ehemaliger Auschwitzhäftling und ND-Chefredakteur bis Februar 1966
Foto (Ausschnitt): ADN-Zentralbild, Peter Heinz Junge, Bundesarchiv, Bild 183-F0418-0001-053 / CC-BY-SA 3.0

Hausherren von morgen – das war (wie schon angedeutet) eine soziologische Chiffre für den (vor allem im „Forum“-Kreis) angestrebten „schleichenden“ Elitenwechsel. Anfang der sechziger Jahre waren in der DDR genügend gut ausgebildete und hinreichend selbstbewußte junge Frauen und Männer herangewachsen, die einen Wandel der „Kaderpolitik“ ermöglichten: weg vom bislang vorherrschenden Gesinnungsprinzip, hin zum Leistungsprinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Ohne solch einen Wandel würde es kaum einen „produktiven Sozialismus“ und keinen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der DDR geben.

Indem der „kinderpolitische“ Wandel auf dem 11. Plenum gestoppt wurde, war de facto auch das Schicksal der DDR besiegelt. In dem Rehabilitierungsantrag, den Kurt Turba am 27. November 1989 an den damaligen SED-Generalsekretär Egon Krenz richtete, sind die Vorwürfe, die Erich Honecker, Paul Verner und Günter Mittag am 27. Januar 1966 gegen Turba erhoben haben, genau aufgelistet – gleich an der Spitze die Anklage, Turba habe „die Jugend der Republik gegen die Leiter aufgehetzt“. „Aufgehetzt“? Das ist nicht wahr. Wir haben den Sachverstand und das individuelle wie kollektive Selbstwertgefühl junger Leute zu systemimmanenter Kritik ermutigt und zur schrittweisen Übernahme von Leitungs- und Führungsfunktionen. Pauschal die Leiter (die im Amt befindlichen Funktionäre) zu kritisieren, war damals nicht nötig; es gab noch viele ältere Idealisten. Und „krawallig“ emotionalisiertes Vorgehen hätte auch dem vorherrschenden Stil der jungen Generation widersprochen. Die „Dreiundsechziger“ wollten „Turbulenzen“ wie am 17. Juni 1953 in der DDR oder 1956 in Polen und Ungarn durchaus vermeiden.

ND vom 18. Februar 1966 über einen angeblichen Beschluß des SED-Zentralkomitees

Turba wurde auch vorgeworfen, er habe Schriften der („bürgerlichen“!) Jugendpsychologie, der Soziologie und Kybernetik studiert, „statt seine Nase gefälligst in Parteibeschlüsse zu stecken“. Dabei kannte kaum einer im ZK-Apparat die Vor- und Nachteile gültiger SED-Beschlüsse besser als Turba; diesen oft redundanten „Wortsalat“ genau zu kennen, war nämlich lebenswichtig, so man dem damaligen Aufbruch zahlreicher DDR-Humanwissenschaftler gegen bornierte Vorurteile moskowitisch geschulter „Altkader“ neue Spielräume verschaffen wollte – was der tiefere Sinn des „Forum“ und des „Forum“-Kreises gewesen ist. Nicht ohne Grund nannte sich ein Teil der Opposition von 1989 „Neues Forum“. Da aber der Kreis um Bärbel Bohley und Jens Reich programmatische und personelle Bezüge zum authentischen „Forum“ (von 1962 bis 1965) und zum damaligen „Forum“-Kreis tunlichst vermieden hat, blieb das „Neue Forum“ ohne anhaltende größere Akzeptanz.

Die mit Abstand semantisch schärfsten Aufforderungen zu systemimmanenter Bürokratie-Kritik hatten wir (wie schon angedeutet) in der programmatischen Rede untergebracht, die Walter Ulbricht am 23. September 1963 auf der großen Berliner Jugendkundgebung hielt. Ulbricht, der seinen Machiavellismus unter Stalin gelernt hatte, wußte genau, welche brisanten Thesen er da (aus unserer Feder) vortrug. Insofern richtet sich Honeckers Kritik vom 27. Januar 1966 unausgesprochen vor allem gegen Ulbricht. Und so bleibt die Frage, wieso Ulbricht am 27. Januar. 1966 nicht eingegriffen hat.

Dem SED-Parteistatut gemäß hätte Turba nur vom SED-Politbüro abgesetzt werden können, das ihn 1963 einstimmig zum Leiter der Jugendkommission bestimmt hatte. Indem Ulbricht Turba der Verfügungsgewalt des von Honecker majorisierten ZK-Sekretariats anheimgab, ließ er „seinen“ jugendpolitischen Erneuerer praktisch fallen. Daß Honeckers Sekretariat die SED-Jugendpolitik „gegenreformatorisch“ usurpierte, kann Ulbricht nicht entgangen sein, denn Ulbrichts persönlicher Mitarbeiter Wolfgang Berger nahm an den Sitzungen des ZK-Sekretariats regelmäßig teil – am 27. Januar 1966 ebenso wie bereits am 11. Oktober 1965. Berger hatte dort zwar kein Stimmrecht, aber er wird Ulbricht åber alles Wichtige informiert haben.

Laut Protokoll waren am 27. Januar 1966 folgende Sekretäre des ZK der SED anwesend und also an Turbas Absetzung beteiligt: Erich Honecker, Gerhard Grüneberg, Günter Mittag, Paul Verner und Werner Jarowinsky. „Entschuldigt“ abwesend waren die ZK-Sekretäre Walter Ulbricht, Kurt Hager, Albert Norden. Auch Hermann Axen, der als ND-Chefredakteur an den Sitzungen des Politbüros und des ZK-Sekretariats teilzunehmen pflegte, war höchstwahrscheinlich am 27. Januar 1966 nicht dabei. Dennoch hatte er mir bei meiner Rückkehr aus Armenien Anfang Februar „im Auftrage der Parteiführung“ (sprich: in Honeckers Auftrag) vier Gebote auszurichten:

– Erstens sollte ich mich in der ND-Redaktion auf Fragen der Wissenschaft konzentrieren und die Finger von anderen Gebieten, vor allem von Jugendpolitik, lassen;

– zweitens solle ich meine Mitarbeit am „Forum“ „sofort und völlig“ einstellen;

– drittens solle ich „in nächster Zeit“ öffentliche Auftritte, besonders auf Jugend-Foren, vermeiden und

– viertens hätte ich „ab sofort jeden Kontakt“ zu Kurt Turba abzubrechen!

Eberhard Heinrich, stellvertretender ND-Chefredakteur bis Januar 1966
Foto: Archiv Wessel

„Was mutet ihr mir da zu? Das könnt ihr mir doch nicht zumuten! So etwas ist im Parteistatut nicht vorgesehen“, sagte ich zu Axen, dem die ganze Sache sichtlich peinlich war. „Ich hab’s dir gesagt, sei vernünftig, Harald. Und laut ND-Arbeitsordnung muß die Mitarbeit von ND-Redakteuren an anderen Zeitungen vom Chefredakteur, also von mir genehmigt werden, in jedem einzelnen Fall.“ – An das erste und dritte Gebot mußte ich mich wohl oder übel halten. Das zweite Gebot umging ich, indem meine Beiträge zum „Forum“ fortan – mit Klaus Hilbigs umsichtiger Hilfe – unter Pseudonymen erschienen. Gegen das vierte Gebot verstieß ich sofort: Als einer der ersten „Selbstfahrer“ im ND brauchte ich keinen Fahrzettel, sondern konnte sofort mit dem Dienst-Wartburg in die Frankfurter Allee zu Turba fahren. Mit einer Flasche Teacher’s Whisky zu achtzig Mark.

Ablösung Eberhard Heinrichs, im ND vom 11. Januar 1966 als normaler Funktionswechsel kaschiert

Turba war niedergeschlagen, wortkarg und ohne Arbeit (also auch ohne Einkünfte bis Ende Februar, bei sechs Kindern!). Ich erfuhr nur Bruchstücke: Auf einer Aktivtagung im ZK-Apparat habe er (Turba) seine Bedenken zum 11. Plenum, vorzutragen versucht und sei von Honecker per Zwischenrufen (ein Drittel des Auditoriums war für Turba, zwei Drittel standen hinter Honecker) niedergemacht und wenige Tage später aller Ämter enthoben worden. Die Wahrnehmung seines Volkskammer-Mandats sei ihm untersagt worden! Selbst seine Patenbrigade im RAW Zwickau (in Turbas Wahlkreis) dürfe er nicht mehr besuchen. Und: „Mittag hat meinen Ausschluß aus der Partei gefordert, nachdem Verner Abschriften von Mitschnitten meiner Telefongespräche vorgelesen hat. Harald, wie naiv sind wir gewesen.“

Da man Turba erpresserisch gesagt hatte, eine neue Arbeitsstelle werde ihm erst nach Abgabe einer „selbstkritischen Stellungnahme“ vermittelt, ging ich, zurück in der Redaktion, zu Axen, schilderte ihm Turbas Lage und fragte, unter Anspielung auf Erich Apels Selbstmord, durchaus provokativ: „Wem eigentlich ist mit einer Suizidwelle in der SED gedient?“ – Vieles spricht dafür, daß Axen meine Klage über Turbas Situation weitergegeben hat. In der schon erwähnten „Spiegel“-Notiz vom 7. März 1966 hieß es: „Der Leiter der Jugendkommission beim Politbüro, der gelernte Melker Kurt Turba, wurde abgelöst und zur Bewährung in die Redaktion der Zonen-Nachrichten-Agentur ADN strafversetzt“ („Der Spiegel“ 11/1966). Die „Spiegel“-Notiz half Honecker, im SED-Apparat aufkommende Proteste über Turbas Behandlung zu beschwichtigen und zugleich Stalins Rat von 1934 zu befolgen: „Man muß sie absetzen, sie auf niedrigere Posten stellen und das in der Presse bekanntmachen…“

Hans Bentzien, DDR-Kulturminister bis Januar 1966
Foto (Ausschnitt): ADN-Zentralbild, Heinz Koch, Bundesarchiv, Bild 183-A0802-0091-006, CC-BY-SA 3.0

Die Mitglieder des Redaktionskollegiums des SED-Zentralorgans Neues Deutschland waren vor solcher „Informationswillkür“ etwas besser geschützt als Kurt Turba. Da (im Unterschied zur „Prawda“) die Namen der Kollegiumsmitglieder täglich im ND-Impressum standen, waren personelle Veränderungen der Leitung des ND im SED-Zentralorgan erklärungspflichtig. Und da konnte man kaum mit solchen Plattheiten kommen wie im Kurt Turba betreffenden internen „Sekretariatsbeschluß“: Turba wird von seinen Funktionen abgelöst, „weil er auf Grund seines ganzen Verhaltens für die weitere Arbeit im Apparat des ZK nicht tragbar ist“. Da hätten zahlreiche ND-Leser in Briefen gefragt: „Auf Grund welchen Verhaltens?“ Also mußte man im Falle Eberhard Heinrichs und Hermann Axens anders verfahren als bei Kurt Turba.

Heute (1996) ist ziemlich klar, daß Leonid Breshnew, als er vom 27. bis 29. November 1965 in die DDR kam, um seine politische Linie gegen Ulbricht durchzusetzen, nicht nur entsprechende politische Grundsätze, sondern auch konkrete „kaderpolitische“ Forderungen mitbrachte. Wenn bei einer anderen Linie „die Kader alles entscheiden“ (Stalin), dann mußten „reformverdächtige“ „Köpfe rollen“: wirtschaftspolitisch Erich Apel, jugendpolitisch Kurt Turba, kulturpolitisch Hans Bentzien und medienpolitisch vor allem die Leitung des SED-Zentralorgans Neues Deutschland. Der aufsehenerregende Tod Erich Apels am 3. Dezember 1965 verzögerte die von Moskau gewünschten personellen „Säuberungen“. Doch schon am 18. Dezember 1965 teilte Willi Stophs Ministerrat die Ernennung von Joachim Herrmann zum „Staatssekretär für gesamtdeutsche Fragen“ mit; das neue Staatssekretariat hatte fortan (wie ich selbst erlebte) Ulbrichts „deutschdeutsche Eigenmächtigkeiten“ zu kontrollieren und zu bremsen.

„Ist die Linie klar, entscheiden die Kader alles“ (J. W. Stalin). ND-Meldungen vom 13. Januar 1977

Als nächstes wurde Eberhard Heinrich von der ND-Spitze in den ZK-Apparat „strafversetzt“; die Meldung im ND (11. Januar 1966) erweckte den Eindruck eines „normalen“ Funktionswechsels. Dann ersetzte Stoph den Kulturminister Bentzien durch Klaus Gysi, weil Bentzien (so die ND-Meldung vom 13. Januar 1966) „Fehler zugelassen“ habe“. Von Turbas Absetzung am 27. Januar erfuhren (am 7. März 1966) nur „Spiegel“-Leser. Die Absetzung Hermann Axens als ND-Chef wurde am 18. Februar 1966 im ND als „Beschluß des Zentralkomitees“ ausgegeben und gleichsam wie eine Beförderung (zum Sekretär des ZK!) präsentiert.

Die Hexenjagd auf Künstler und Kunstwerke ist in der Literatur über das 11. Plenum ausführlich beschrieben. Diese Inquisition war schlimm genug. Doch die Schistka unter kreativen Köpfen der DDR-Politik kann aus heutiger Sicht als eine Art Anfang vom Ende der DDR angesehen werden. Die Jugendlichen, die im Spätsommer 1989 via Ungarn der DDR entflohen, waren die Kinder der vom 11. Plenum tief enttäuschten „Hausherren von morgen“.

Es folgt als Zugabe: Drei Ehrenrunden für Kurt Turba