Haymarket in Leipzig

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 5)

Lob der Leipziger Band The Butlers im ND vom 4. April 1965. Demonstranten bei den Leipziger Beat-Protesten am 31. Oktober 1965 schwenkten den Artikel wie eine Fahne. Auf dem Foto der Butlers links unten ist ganz links Klaus Jentzsch zu sehen, der Gründer der Klaus-Renft-Combo

Das waren Sternstunden des Journalistenlebens in der ND-Redaktion der sechziger Jahre. Sonntagsdienst mit Georg Hansen. Die dünne Montagsausgabe des ND wurde damals noch von nur zwei „erwachsenen“ Redakteuren gemacht. Dazu kamen zwei, drei Sport-und Fotoreporter. Die zwei „Erwachsenen“ saßen sich am großen Tisch des Redaktionssekretariats gegenüber. Dort stand auch ein R-Apparat (Telefon des Sondernetzes der Regierung). Sofern der nicht klingelte und die beiden Redakteure sich gut verstanden, war der Sonntagsdienst eine ruhige Angelegenheit.

Mit Georg Hansen verstand ich mich ausgezeichnet. „Harald“, sagte er immer mal wieder zu mir, „warum züchtest du nicht eßbare Kartoffeln statt deine Perlen hier vor die Säue zu werfen?“ Wie die meisten wirklichen Altkommunisten hatte Hansen einen mächtigen Respekt vor „studierten Leuten“, besonders vor Naturwissenschaftlern. Daß ich auf molekular-biologischem Gebiet promoviert hatte, wog in Hansens Augen seinen Vorsprung an politischer Lebenserfahrung völlig auf. Zudem waren wir beide Rheinländer: Hansen (als Willi Leitner) 1903 in Köln geboren, ich 1930 in Wuppertal, er 1919 der KPD beigetreten, ich 1948 der SED.

„Prawda“ und „New York Times“ las Georg Hansen täglich, „Neues Deutschland“ nur selten. Dennoch war ihm ND-Chef Axen in Debatten über das ND meist nicht gewachsen. Politisch missionarischer Eifer war Hansen fremd. Lieber erzählte er Witze – solche mit hintergründigem philosophischem Sinn. Es war ein großer Vertrauensbeweis, wenn Hansen unter vier Augen von seinen Abenteuern als Komintern-Agent andeutungsweise berichtete: Wie er mit einem Koffer voll Dollarnoten (Sowjetdevisen) via London nach China reiste, wo Heinz Neumann einen Aufstand organisierte, der blutig niedergeschlagen wurde. Wie er Ende der zwanziger Jahre in Großbritannien wegen Spionage für Moskau zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Wie er 1946 im Auftrag der Sowjetischen Militäradministration die Ostberliner Nachrichtenagentur ADN gründete und als deren Chef Tag und Nacht, neben dem Fernschreiber saß, um alle hinausgehenden Meldungen vorher zu kontrollieren…

„Im Fragebogen steht unter erlernter Beruf bei mir Metallarbeiter“, pflegte Hansen schnurrig zu erzählen. „In Wahrheit bin ich gelernter Drahtzieher. Drahtzieher in doppeltem Sinne.“ Und grinsend verbreitete er sich dann über die technischen Finessen bei der Wandlung von Metallstücken in feinste Drähte. Am frühen Nachmittag des 31. Oktober 1965 legte der professionelle Drahtzieher Georg Hansen unvermittelt die Zeitungen aus der Hand und sagte: „Harald, das haben die selber angezettelt.“ Er stand auf, ging in den Speisesaal, um einen Kaffee zu trinken.

Wer hatte was „selber angezettelt“? Und wie kam Hansen zu seinem definitiven Urteil? Natürlich hatte er (in fremdsprachige Zeitungen vertieft) die Telefonate wahrgenommen, die ich seit Dienstbeginn (9 Uhr) über den R-Apparat und über das normale Telefon führen mußte. Den Zettel mit meinen Notizen während der Telefonate habe ich aufgehoben.

„… das haben die selber angezettelt.“ Georg Hansen, stellvertretender ND-Chefredakteur war Drahtzieher von Beruf
Foto: Dieter Hannes

Zuerst rief Rudi Singer an, der auf Honecker hörende Agitationschef im ZK der SED. Er stutzte, als er meinen Namen durch, den R-Apparat hörte, fing sich aber rasch: „Aus Leipzig etwas Besonderes?“ – „Länderspiel?“ (An diesem Sonntag war ein Fußball-Länderspiel DDR-Österreich in Leipzig angesetzt.) „Nein!“ – „Was sonst?“ – „Etwas anderes! Ruf mich an, wenn Du etwas hörst!“

Ein Sportreporter, der gerade aus Leipzig gekommen war, sagte mir auf Befragen: „Ja, eine Gammler-Versammlung wird zum Länderspiel erwartet; alles sehr nervös; Polizei, Lehrer, FDJ usw. wurden vergangene Nacht alarmiert; ob wirklich schon was war, weiß ich nicht.“ Das ließ ich Singer wissen. Er, ungehalten: „Doch, es muß etwas gewesen sein. Ich weiß es sicher. Wenn nach 12 Uhr noch etwas ist, mich sofort informieren. Meldung nur von ADN, unauffällig plazieren. Vielleicht in zentraler Presse überhaupt nichts!“

Gegen Mittag erwischte ich Heinz Fellenberg, damals Leiter der ND-Bezirksredaktion in Leipzig. Er wußte zu berichten, daß am Vormittag einige hundert Jugendliche und mindestens ebenso viele Sicherheitskräfte auf dem Leuschner-Platz zusammengelaufen seien und gegen das Leipziger Beat-Verbot demonstriert hätten. Nachfrage: „Wie demonstriert?“ Antwort: „Die LVZ („Leipziger Volkszeitung“) vom 20. Oktober wurde verbrannt; den ND-Butler-Artikel hingegen schwenkten viele wie eine Fahne. Polizei ging mit Wasserwerfern und mit aufgepflanzten Bajonetten gegen Demonstranten und Schaulustige vor. LVZ bringt eine Meldung. ADN soll nichts bringen.“

Die LVZ vom 20. Oktober war die „Oktobersturm“-LVZ mit dem ganzseitigen Bannfluch gegen das Jugendkommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ und dem idiotischen Kernsatz: „Lange Haare sind unmenschlich.“ Mit dem ND-Butler-Artikel war Heinz Sterns Reportage unter der (blau gedruckten) Schlagzeile „Butlers‘ Boogie“ über die Leipziger Gitarrengruppe „The Butlers“ auf Seite 7 im ND vom 4. April 1965 gemeint. „Butlers‘ Boogie“ war eine der besten Arbeiten des DDR-Journalisten Heinz Stern, der in der Redaktion „Junge Welt“ gestartet war, dann zu „“Neues Deutschland ging und später beim „Magazin“ landete.

DDR-Plakat für den Film „Die glorreiche Sieben“. Der Western wurde auf Beschluß der Jugendkommission beim SED-Politbüro angekauft. Die SED-Bezirksleitung Leipzig ließ ihn, weil er angeblich „Texasideologie“ verbreite in der Messestadt verbieten. Die Leipziger fuhren nach Halle, um ihn zu sehen

Stern hatte sich im April 1965 im ND vorbehaltlos hinter „The Butlers“ und ihre Fans gestellt und dabei die FDJ-Stadtleitung Leipzig sowie den Sicherheitsmann des Rates des Kreises Eilenburg öffentlich angezählt – wegen der von ihnen verhängten Auftrittsverbote. Das war beherzter Journalismus; denn kaum ein anderer als der langjährige Moskauer ND-Korrespondent und treue Freund der Sowjetunion Heinz Stern wußte besser, daß „Butlers‘ Boogie“ in keinem Sowjetblatt gedruckt werden würde und daß die KGB-Gesinnungswächter für so etwas einen unzweideutigen Namen hatten: Texas-Ideologie.

Nun, in den Tagen zwischen dem 20. Oktober 1965 (Tag der drei Oktoberstürme) und dem 30. Oktober 1965 waren von 49 registrierten Leipziger Amateur-Beat-Gruppen 44 verboten worden, darunter die in der ganzen DDR populären „Butlers“. Obgleich diese Zahlen damals geheim blieben (Michael Rauhut, Kenner der Leipziger Szene, konnte sie 1990 ermitteln), die Verbote sprachen sich natürlich herum, und entsprechend aufgebracht waren die Fan-Gemeinden.

Doch das „Zeitalter spontaner Demos“ hatte 1965 noch nicht begonnen: Die Studenten-Unruhen in den-USA, in Frankreich und in der alten BRD machten erst 1968 Schlagzeilen. Und in der damaligen DDR waren spontane Demonstrationen seit dem 17. Juni 1953 einfach undenkbar. Deshalb war Georg Hansens „Das haben die selber angezettelt“ so abwegig nicht – vorausgesetzt, man verstand Hansen richtig: Das haben die politischen Nutznießer des Leipziger Auflaufs selber angezettelt! Alle damals offenkundigen und später nach der „Wende“ erkundeten Tatsachen über den „deprimierenden Leipziger Sonntag“ fügen sich schlüssig allein unter der Annahme, daß die aufgebrachten Fans zu einem öffentlichen Krawall à la Westberliner Waldbühne provoziert werden sollten. Haymarket auf dem Leipziger Leuschner-Platz!

Wieso gerade Leipzig? Die Messestadt bot sich aus mehreren Gründen für eine konspirativ angelegte Provokation an:

Erstens war dazu kein anderer damaliger SED-Bezirkssekretär so „gut veranlagt“ wie der zu Leipzig residierende gelernte Koch Paul Fröhlich (1913 bis 1970) – ein Hardliner, der, hätte man die Mitglieder des SED-Politbüros einem Intelligenztest unterzogen, unbestritten auf dem letzten Platz gelandet wäre.

Zweitens hatten KGB und MfS in der Messestadt besonders gut ausgebaute „Stützpunkte“ man war dort damals schon mit „Inoffiziellen Mitarbeitern“ „tief im Volk verankert“.

Drittens verfügte vom KGB-Führungsduo Schelepin/Semitschastny zumindest der erstere über eine nostalgische Beziehung zu Leipzig: Schelepin war am 27. Mai 1952 als Komsomol-Chef ins Präsidium des IV. Parlaments der FDJ „gewählt“ worden, jenes berüchtigten FDJ-Parlaments, auf dem Honecker die von Stalin befohlene Militarisierung des DDR-Jugendverbandes exekutierte, zu welchem Zwecke Zehntausende FDJler in erdfarbene Windjacken gesteckt, nach Leipzig gekarrt und – nach Geschlechtern getrennt-zu einem Aufmarsch mit Luftgewehren (!) kommandiert wurden.

Viertens hatte Fröhlichs Administration spezifische neuere Erfahrungen im „Kampf gegen die Texasideologie“: Der auf Beschluß der Turba-Jugendkommission für die DDR angekaufte Western „Die glorreichen Sieben“ wurde in Leipzig verboten, so daß jung und alt von Leipzig nach Halle fuhr, um einen Film zu sehen, der dem KGB (und der HVA des MfS?) nur deshalb nicht paßte, weil es seine Topspione in Großbritannien intern „Die glorreichen Fünf“ zu nennen beliebte.

Auch nach den lobenswerten Untersuchungen von Michael Rauhut bleiben der Zeitgeschichte Fragen. Woher wußte Rudi Singer vor dem „spontanen Ereignis“, daß das „spontane Ereignis“ „mit Sicherheit“ stattfinden würde? Wer ließ wo jene Handzettel drucken, die zur Protestversammlung am 31. Oktober 1965 auf dem Leuschner-Platz aufriefen? Wer ordnete an, daß in allen Schulen, Lehrwerkstätten, Jugendwohnheimen usw. schon am Freitag vor einem Ereignis gewarnt wurde, das „am Sonntagvormittag auf dem Leuschner-Platz“ stattfinden würde? Wer erfand die Parole: „Schlagt zu, kämpft um das Beat-Recht!“? Wer ließ die Parole wo auf Stoff /Pappe malen bzw. auf Handzettel drucken?

Gegen Mittag sollen (laut einem von Michael Rauhut 1990 aufgespürten Bericht der SED-Bezirksleitung) rund 2500 Personen auf dem Leuschner-Platz gewesen sein, darunter nur „500 – 800 jugendliche Anhänger der Beat-Gruppen“, von denen 147 junge Leute (unter 18 Jahren) polizeilich „zugeführt“ wurden, obgleich offensichtlich niemand die provokative Parole „Schlagt zu“ befolgt hatte – mit Ausnahme von Angehörigen der Sicherheits- und Ordnungskräfte vermutlich. Die Festgenommenen wurden teilweise in „Arbeitslager“ eingewiesen, auf deren Erfinder wir zurückkommen werden.

Die Öffentlichkeit erfuhr von den „Arbeitslagern“ offiziell nichts. Am Montag, dem 1. November 1965, druckte die „Leipziger Volkszeitung“ auf ihrer zweiten Seite eine „Meldung“ von der Art, wie Erich Honecker sich damals (aber auch später!) eine „Nachricht“ vorstellte: Viel „Anmache“, wenig Information. Die Schlagzeile „Ruhestörern und Rowdys das Handwerk gelegt“ muß vom Koch Fröhlich gewesen sein; nur ein Mann seines geistigen Formats fand nichts dabei, ausgerechnet den „Arbeitsscheuen“ ihr „Handwerk zu legen“.

Viele Leser schüttelten darüber nur den Kopf. Einer allerdings nahm die LVZ-„Meldung“ politisch sehr ernst: Walter Ulbricht. Am 2. November 1965 schickte er ein internes Fernschreiben „An die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED“, in dem er unter Bezug auf die Leipziger „versuchten Unruhen“ seinen bisherigen jugendpolitischen Kurs aufgab und definitiv „Selbstkritik übte“:

Bombenexplosion auf dem Haymarket in Chicago am 4. Mai 1886. Der Haymarket ist seitdem Markenzeichen geheimdienstlicher Provokationen. Das Bild veröffentlichte damals die Zeitschrift „Harper´s Weekly“

„Es war falsch, daß von seiten des Zentralrates der FDJ der Wettbewerb von Beat-Gruppen organisiert und die Auffassung verbreitet wurde, daß im Unterschied zu Westdeutschland Westschlager und Beat-Musik bei uns keine schädliche Wirkung hervorrufen können.“ Noch am 14. April 1965 hatte deGr in Leipzig geborene und politisch aufgewachsene Ulbricht die FDJ-Führung heftig wegen ihrer „dogmatischen“ Haltung kritisiert und zu neuen Wegen der Jugendpolitik im Sinne des Jugendkommuniqués gedrängt. Nun, nach dem ebenso provokativen wie deprimierenden Leipziger Sonntag, opferte er flugs die Freizeitinteressen der DDR-Jugend, um seine eigne Haut zu retten.

Am 4. Mai 1886 explodierte auf dem Haymarket von Chicago eine offensichtlich geheimpolizeilich initiierte Bombe, die einige Polizisten das Leben kostete und daher den auf dem Platz für sozialpolitische Verbesserungen demonstrierenden Anarchisten und Sozialisten „angehängt“ werden konnte. Die Bombe bildete den Vorwand für eine gnadenlose Verfolgungsjagd auf Linke und Andersdenkende aller Couleur. Haymarket steht seither als Markenzeichen für eine politische Provokation. Solange die Haymarket-Imitate von KGB/MfS gegen die DDR-Reformversuche von 1963 bis 1965 nicht adäquat geschichtlich rekonstruiert sind, kann von „Aufarbeitung“ der DDR-Geschichte nicht gesprochen werden.

Nächste Folge: Mein Brief an E.H.