Mein Brief an E.H.

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 6)

„Wo ist Ihr Brief an E.H.?“ Mit dieser Frage widmete mir Jochen Staadt am 22. November 1994 ein Exemplar des Buches „Teurer Genosse! Briefe an Erich Honecker“ (herausgegeben von Monika Deutz-Schroeder und Jochen Staadt, Transit Buchverlag, Berlin 1994). Wie kam Staadt, der an der Freien Universität in Dahlem DDR-Geschichte erforscht, darauf, daß es einen Brief von mir an Honecker gibt? Und warum haben die beiden Herausgeber, die unbeschränkten Zugang zu den rund zwei Millionen (!) an Honecker gerichteten Briefen hatten, diesen einen Brief von Harald Wessel an Erich Honecker nicht in den schönen roten Briefband aufgenommen?

Honeckers Antwortbrief, einen Monat vor dem 11. Plenum Abbildung: Archiv Wessel

Soweit ich mich erinnere, habe ich tatsächlich nur einen politisch relevanten Brief an Honecker geschrieben. Das war am 16. Oktober 1965. Das Schreiben auf ND-Kopfbogen umfaßte knapp zwei Seiten. Es war eine höflich sachliche Richtigstellung, eine Gegendarstellung zu einer Behauptung Honeckers in einer „Sitzung des Sekretariats des ZK der SED“, die am 13. Oktober 1965 stattgefunden haben muß.


An diesem 13., einem Mittwoch (dem Wochentag der „Sitzungen des Sekretariats“), war Rudi Singer zu einer überraschend einberufenen ND-Kollegiumssitzung erschienen, um uns unverzüglich über „die neuen Beschlüsse der Parteiführung“ zu informieren. Dabei hatte Singer uns offiziell mitgeteilt, „das Sekretariat des ZK“ habe „schärfstens“ einen „Kommentar des Genossen Dr. Wessel in der FDJ-Studentenzeitung ´Forum´“ „verurteilt“ und erwarte „entsprechende Konsequenzen“. Da ich keinen Kommentar fürs „Forum“ geschrieben hatte, fiel ich Singer ins Wort, um ihm sogleich zu widersprechen.

Noch am gleichen Tag riet Hermann Axen mir, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Sie sei viel zu ernst. Honecker persönlich habe den „Forum“-Kommentar ins Spiel gebracht und „Konsequenzen“ verlangt. Ich telefonierte mit Albert Norden, der mich ebenfalls zur Gegenwehr ermunterte. Ob ich auch Kurt Hager zu Rate zog, den ich Donnerstagvormittag (14. Oktober 1965) bei einer akademischen Festveranstaltung in Jena traf, ist mir nicht erinnerlich. Es waren turbulente Tage. Zurück aus Jena wurde ich in der Redaktion mit Eva Erlers Problem konfrontiert – das schon erwähnte „besondere Vorkommnis“ an der Berliner Wildangel-Oberschule.

Um „den Stier bei den Hörnern zu packen“, schrieb ich am 16. Oktober 1965 besagten Brief an E.H.. Laut „Verteiler“ (am Ende des Schreibens) ging das Original an Honecker („Mitglied des Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees“ der SED). Die ersten drei Durchschläge erhielten Norden, Axen und Turba. Zwei weitere Durchschläge waren zur „Ablage“ (in den ND-Akten und in meinem Privatarchiv) bestimmt. Es gab ja damals noch keine Xerokopiergeräte in der DDR. Und je nach Qualität des Kohle- bzw. Durchschlagpapiers war (selbst bei kräftigen Schreibmaschinen) auf dem fünften, sechsten oder siebten Durchschlag kaum noch etwas zu erkennen.

Axen und Norden gehörten (wie auch Hager) zum „Sekretariat des ZK“, in dem Honecker deshalb das Sagen hatte, weil der „Generalsekretär“ Ulbricht dort kaum noch erschien, sondern sich auf die Leitung der Sitzungen des Politbüros (des „höchsten Parteiorgans zwischen den Parteitagen“) konzentrierte. Indem Axen und Norden eine Kopie meiner Gegendarstellung erhielten, entstand ein kleines Stück „Öffentlichkeit“ im internen Richtungskampf. Honecker konnte den Brief nicht einfach in den Papierkorb werfen. Er konnte meine als „Bitte“ vorgetragene Forderung nicht ignorieren, das, was er im „Sekretariat“ fälschlich behauptet hatte, an gleicher Stelle zu korrigieren.

Am 11. 11. (Karnevalsdatum) 1965 antwortete Honecker – parteioffiziell, auf einem den Mitgliedern des. Politbüros vorbehaltenen Kopfbogen des SED-Zentralkomitees. Schwarz auf weiß gab er mir eine Art Vollzugsmeldung. Faktisch hatte Honecker vor „den Sekretären des Zentralkomitees“ eine „irrtümliche Annahme“ berichtigen und also einen „Irrtum“ eingestehen müssen. Das dürfte ihm, dem Verehrer der Louis-Fürnberg-Parteihymne „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“, nicht leichtgefallen sein. In seinem kurzen Antwortbrief brachte er denn auch gleich drei Bosheiten unter:

Erstens „vergaß“ er in der Anschrift die im SED-Schriftverkehr vorgeschriebenen Funktionsbezeichnungen – „Mitglied des Redaktionskollegiums und Leiter der Abteilung Wissenschaft der Redaktion Neues Deutschland“. Postalisch hatte er mich schon abgesetzt.

Zweitens tat er so, als hätte ich die Namen (Sabbat und Rother) der hinter dem „Forum“-Kommentar-Kürzel „S.R.“ stehenden Journalisten enthüllt. Das war nicht der Fall. Das hatte ich in meiner Gegehdarstellung bewußt vermieden. Woher aber wußte Honecker am 11.11.65, daß „S.R.“ für Rother und Sabbat stand?

Drittens behauptete Honecker, besagter Kommentar sei (wenn schon nicht von mir verfaßt) immerhin mit mir besprochen worden. Das kann ich (nach drei Jahrzehnten!) nicht zweifelsfrei ausschließen. Doch Honeckers Zeuge für diese Behauptung (der damalige FDJ-Chef Horst Schumann) war kaum glaubwürdig und kann meiner Erinnerung nicht auf die Sprünge helfen.

Er liebte mehr die russischen Weisen. Erich Honecker 1973 bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft Foto: ADN/Hubert Link. Bundesarchiv Bild 183-M0803-767/ CC-BY-SA 3.0

Schumann hatte sich als unfähig (und unwillig) erwiesen, den „stolzen Millionenverband“ FDJ von seinen bürokratischen Verkrustungen zu befreien. Er hatte die Chance des Jugendkommuniqués „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ weitestgehend ungenutzt gelassen. Erst im Sommer 1965, nachdem Ulbricht die FDJ-Führung neuerlich des Dogmatismus geziehen hatte, versuchte Schumann eine Annäherung an den Reformkurs des im Herbst 1963 beschlossenen SED-Jugendkommuniqués. Herauskam allerdings nur ein „FDJ-Beatgruppen-Wettstreit“, den die FDJ-Führung in den Tagen der „Oktoberstürme“ eiligst abblies.

Am 11. 11. 1965 hätte ich also dreifachen Grund gehabt, E.H. eine Rückantwort zu schicken. Doch das geschah nicht. Mir reichte das schriftliche Eingeständnis seines „Irrtums“. Zudem war ich inzwischen öffentlich aktiv geworden – mit einem (in verschiedenen Bezirkszeitungen spontan nachgedruckten!) ND-Aufsatz zur „Kernfrage“ des politischen Richtungsstreits: „Hat Springer bei uns Chancen?“ (ND vom 23. Oktober 1965, Seite 4).

Nachdruck von Wessels ND-Artikel, der die Sicherheitsfraktion aufbrachte, am 27. Oktober 1965 in der Hallenser SED-Zeitung „Die Freiheit“

Honecker hatte sich nämlich „im Sekretariat“ über zwei Sätze des „Forum“-Kommentars („Forum“ 19/65, Seite 21 ) mächtig aufgeregt: „In der DDR gibt es Tausende von Beat-Gruppen. Aber es gibt keinen Springer.“ Das war die reine Wahrheit (im Herbst 1 965!) – wenn auch lakonisch ausgedrückt. Für E.H. aber war das „eine politisch gefährliche Verharmlosung“ der aus dem Westen kommenden „ideologischen Infiltration“. Den Sicherheitsfanatikern Schelepin, Semitschastny, Honecker und Mielke (die „Bild“-Bilder von der „Schlacht in der Waldbühne“ vor Augen) waren Schlaggitarren, Beat, Beatles und Rolling Stones nichts weiter als üble „Elemente der Infiltration“.

In meinem ND-Aufsatz vom 23. Oktober 1965 (den Axen nach leichter Zensurierung druckte) wurde das von E.H. intern attackierte „Forum“ öffentlich „das mit Recht geschätzte FORUM“ genannt. Der ebenfalls von E.H. angegriffene „Eulenspiegel“ erhielt das Attribut „populär“. Im Gegensatz zu E.H. war bei mir von dem „unter der Jugend (aber nicht nur dort) beliebten Takt der Schlaggitarren“ die Rede. Und die „gewiß nicht neuen“ Versuche von Westmedien, junge Leute in der DDR gegen die DDR aufzubringen, seien (wörtlich) „kein Grund für uns, in Panik zu geraten“! Honecker und seine moskowitischen Hintermänner als Panik-Macher.

Seite 1 des ND vom 21. Mai 1965. Amlinken Rand in der Mitte die angeblich „untergebutterte“ TASS-Meldung

Doch Papier ist geduldig, zumal das Zeitungspapier. Wir glaubten mit Gründen überzeugen zu können. Doch die Machtstrukturen scherten sich nicht um gute Gründe. Und in den Medien hatten gerade die „Hausherren von morgen“ (eine soziologische Chiffre, auf die wir zurückkommen werden) die relative Liberalität seit 1962/63 für unumkehrbar gehalten. Die Geschichte der DDR war ja nicht die Geschichte eines kontinuierlichen Niedergangs oder eines „Untergangs auf Raten“. Wenn das 11. Plenum vom Dezember 1965 bildhaft, „Kahlschlag“ genannt wird, dann muß logischerweise zuvor etwas gewachsen sein.

Im Sommer 1964 hatten die „Dreiundsechziger“ (wie man den „Forum“-Kreis, die NÖS- und Jugendkommuniqué-Leute in Analogie zu den „Achtundsechzigern“ im Westen nennen könnte) nicht nur das exzellente Journal „Forum“, sondern auch Jugendradio DT 64 („Heiße Rhythmen und heiße Eisen“) zur relativ offen kritischen Selbstverständigung. Außerdem war der erwähnte Beschluß „zur Verbesserung des ND“ in Arbeit, der „Neues Deutschland“ in eine immanent kritische Zeitung verwandeln sollte. Er kam endlich am 27. Oktober 1964 ins SED-Politbüro – just an dem Tag, da Schelepin/Semitschastny in Moskau Chruschtschow stürzten und Breshnew zur Macht verhalfen. Da fühlte E.H. sich ermutigt, mit Singers Hilfe unseren Beschlußentwurf sogleich restaurativ zu kastrieren.

Schon Anfang 1965 startete E.H. eine Art Maulkorb-Kampagne gegen populäre kritische Journalisten. Erstes Opfer im ND war Klaus Höpcke, seit 1964 Leiter der ND-Abteilung Kultur. Im Herbst 1963 hatte Höpcke als FDJ-Sekretär in Leipzig (!) einfallsreich für das Jugendkommuniqué gestritten. Am 12. März 1965 aber diktierte Axen eine (im ND-Kollegium nicht erörterte ) „Ergänzung zum Kollegiumsprotokoll Nr. 198“: Höpcke habe „in letzter Zeit eine Reihe ernster politisch-theoretischer Fehler zugelassen“. Welche „Fehler“? Mir schien es ein „Fehler“ zu sein, daß Klaus Höpcke zu rasch eine schriftliche „selbstkritische Stellungnahme“ abgab.

In der Nacht vom 20. zum 21. Mai 1965 hatte ich „Nachtchefdienst“ Es kam eine TASS-Erklärung zu einer Rede des USA-Präsidenten Johnson. Die UdSSR, so beteuerte TASS erneut, werde „mit ihrer geballten Macht“ die DDR-Grenzen schützen. Ich stellte die Meldung einspaltig auf die Titelseite. Damit handelte ich mir ein Riesentheater ein.

Zitat aus dem „Protokoll Nr. 209a“ des ND-Kollegiums vom 31. Mai 1965: „Im Verlauf der Beratung über die Kritik des Politbüros zur Behandlung der TASS-Erklärung… haben die Genossen Dr. Wessel und Heinrich völlig unkritisch und überheblich auf die Kritik der Parteiführung … reagiert.“ Honecker hatte Singer zu der Kollegiumssitzung geschickt. Doch auch er brachte keine Mehrheit gegen mich zustande.

Wieso die „TASS-Affäre“ vom 21. Mai erst am 31. Mai im ND-Kollegium (im Beisein des Honecker-Intimus Singer!) behandelt wurde? Eine Vortragsreise nach München bewirkte Kritik-Aufschub. Die „Deutsche Journalisten-Union“ hatte mich gebeten, über „Kybernetik und Gesellschaft“ zu sprechen. Und da ich die Einladung (mit Zustimmung Axens und Nordens) angenommen hatte, ließ man mich erst einmal (mit Gerhard Scheumann als „Reisebegleiter“) nach München fahren, bei welcher Gelegenheit ich den inzwischen verstorbenen Theo Pirker kennen- und schätzen lernte.

Honecker-Intimus Rudolf Singer setzte sich im ND-Kollegium nicht durch. Hier Singer bei der Grundsteinlegung für das ND-Gebäude am späteren Franz-Mehring-Platz am 6. Janaur 1968 Foto: Archiv Wessel

Erst Mitte Juni 1965 wurde die „TASS-Affäre““ vorläufig begraben – in einem Telefongespräch, das sich (von Singers Büro aus) mit Honecker ergab. Mit westfälischer Sturheit blieb ich bei meiner Ansicht, die sowjetische Bestandsgarantie für die DDR sei doch eine Selbstverständlichkeit; und Selbstverständliches könne man nicht als Sensation aufmachen. Honecker warf mir (ruhig, sachlich) vor, die von ihm selbst erwirkte, politisch „äußerst wichtige“ TASS- Erklärung im ND „untergebuttert“ zu haben. Er beendete das Telefonat mit der Forderung, ich solle künftig in solchen Fällen ihn um Rat fragen. „Auch um Mitternacht?“ – „Ja, auch mitten in der Nacht!“

Ende August 1965 war es zu einem neuen „Knatsch“ gekommen, den ich Axel Cäsar Springers „Bild“-Zeitung verdankte. „Bild“ hatte (28. August 1965, Seite 1) „aus Berlin“ „gemeldet“, „SED-Spitzenfunktionär Harald Wessel“ habe „in einem Zonen-Sommerlager Oberschüler, die in die Bundesrepublik reisen wollen“, „auf das nächste Jahrhundert“ (warum nicht Jahrtausend?) „vertröstet“. Echo aus der moskowitisch inspirierten „Abgrenzer“-Ecke des „Großen Hauses“: „Wie kommt Wessel dazu, öffentlich Prognosen über Termine der Wiedervereinigung anzustellen?“ – „Ihr wißt doch, wie `Bild` lügt“, konnte ich „reinen Gewissens“ antworten.

Die „Bild“-„Meldung“ vom 28. August 1965 bezog sich auf eine Diskussion mit Oberschülern, die mich zum 29. Juli 1965 in ihr Ferienlager Straußberg bei Sondershausen eingeladen hatten. Auszüge aus dem Protokoll (vom Tonband) der Debatte waren am 6. August in der Erfurter Bezirkszeitung „Das Volk“ erschienen. Dort stand meine „Prognose“, „spätestens im Jahre 2000“ werde die „nationale Frage gelöst sein“. Darüber, wie wir uns die „Lösung der nationalen Frage“ damals vorstellten, gäbe es viel zu sagen. Zunächst bleibt die Frage: Auf welchem eigenartig langen Weg gelangte damals die „Meldung“ an „Bild“?

Am 11. 11.1965 aber, als E.H. mir das Eingeständnis eines Irrtums schriftlich gab, hatten die deutschsprachigen „Schelepins“ heimlich längst weiter an der Repressionsschraube gedreht.

Nächste Folge: GULAG-Import?