Oktoberstürme

Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR? Aus Harald Wessels Erinnerungen an den Herbst 1965 (Folge 3)

Erst mußten „die Wahlen gewonnen“ werden. Dann konnte der widerliche Wirbel beginnen. Die „Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen“ waren am Sonntag, den 10. Oktober 1965. Die oberste Wahlkommission unter der Leitung von Friedrich Ebert jun., Sohn des ehemaligen sozialdemokratischen Reichspräsidenten gleichen Namens, bestätigte das Wahlergebnis (Wahlbeteiligung: 98,84 Prozent; für den Wahlvorschlag der Nationalen Front: 99,86 Prozent!) am 11. Oktober und erstattete am 14. Oktober ihren Bericht vor dem Staatsrat der DDR, dessen Vorsitzender Walter Ulbricht war.

Manöverbericht auf der Titelseite von „Neues Deutschland“ am 22. Oktober 1965. Die Balken unter den Schlagzeilen wurden blau gedruckt

Die politischen Oktoberstürme setzten folgerichtig am 20. Oktober 1965 ein. Kurt Turba blies der eisige Ostwind schon am 11. Oktober mächtig ins Gesicht. Ich selbst war am Mittwoch, den 13. Oktober dran. Wir kamen nicht mehr dazu, unsere Meinung zu den „Volkswahlen“ öffentlich zu sagen.

Die Wahlen vom 10. Oktober 1965 hatten auf der Grundlage des Wahlgesetzes vom 31. Juli 1963 stattgefunden. Dieses Wahlgesetz wurde gerade verabschiedet, als Ulbricht meinen Freund und „Forum“-Chefredakteur Turba am 13. Juli 1963 zu einer völlig neuen Jugendpolitik bevollmächtigte. Da wir uns kaum an einem soeben beschlossenen Wahlgesetz vergreifen konnten, blieb das Problem von „Volkswahlen“ im Jugendkommuniqué „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ weitestgehend ausgespart. Gleichwohl hatten der „Forum“-Kreis und die entscheidenden Mitglieder der mit dem Jugendkommuniqué entstandenen Jugendkommission relativ klare Vorstellungen zur Reform von Wahlen in der DDR. Die vom Sowjetsystem entlehnten Über-90-Prozent-Zahlen wurden auch innerhalb der DDR, zumindest von den klügeren Funktionären, allgemein als Zumutung empfunden und intern bespöttelt.

Von diesem Schwachsinn aber wieder abzukommen, erwies sich selbst in der freimütigeren Atmosphäre von 1963/64 (gerade angesichts des Moskauer Modells!) als eine Art Quadratur des Kreises. Deshalb schlugen wir vor: erstens (schon wegen der internationalen politischen Konfrontation) in programmatischer Hinsicht das „Wahlbündnis der Nationalen Front“ zunächst beizubehalten; zweitens aber die „gemeinsame Kandidatenliste der Nationalen Front“ in eine Liste mit personellen Alternativen zu verwandeln. Der Wähler hätte dann zwar mit seiner Wahl der allgemeinen Politik der „Nationalen Front“ nach wie vor automatisch zugestimmt, wäre aber hinsichtlich der zu wählenden Volksvertreter zu einer echten Entscheidung zwischen Personen, die ihm paßten, und solchen, die ihm nicht paßten, befähigt worden. Natürlich hätte eine reale Persönlichkeitswahl den in den fünfziger Jahren „für alle Ewigkeit“ festgelegten Parteienproporz verändert. Deshalb zielte unser Vorschlag zunächst auf Kommunalwählen im Herbst 1965.

Albert Norden hatte sich die von Turba vorgetragenen Ideen wohlwollend angehört. Er sah anfangs nur ein technisches (komplizierte Auszählungen) und ein psychologisches Problem („Wie trösten wir die Durchgefallenen?“). Doch im Frühjahr und Sommer 1965 war von „Wahlreform“ schon keine Rede mehr. Die Reformvorstellungen von 1963/64 erwiesen sich als illusionär, weil sie intern, statt öffentlich im „Forum“ erörtert wurden.

Da ich im Spätsommer 1965 eine ungemein attraktive junge Dame kennenlernte, die als Kandidatin für ein Ostberliner Stadtbezirksparlament aufgestellt war, erlebte ich erstmalig aus nächster Nähe mit, wer da in welcher Weise die „Volksvertreter“ tatsächlich auswählte. Zwar waren zu den Kommunalwahlen 1965 deutlich mehr jüngere Kandidaten nominiert worden als früher. Doch die personelle Wahl hatten die Apparate (Staat, Partei, MfS, mitunter sogar das KGB) besorgt. Und mich beschlich eine dunkle Ahnung, daß „Erich & Erich“ (Honecker und Mielke) systematisch, aber verdeckt manipulierbare Leute zur „restaurativen Infiltration“ untergebracht haben könnten.

Am 20. Oktober 1965 geschah dreierlei:

Erstens begann in Thüringen das Militärmanöver „Oktobersturm“, das größte Kriegsspiel, das die UdSSR jemals zu Friedenszeiten außerhalb ihrer Staatsgrenzen veranstaltet hat. Honecker durfte es mit einem Meeting in Buchenwald eröffnen.

Zweitens veröffentlichte die „Leipziger Volkszeitung“ (Organ der SED-Bezirksleitung Leipzig) unter dem Titel „Dem Mißbrauch der Jugend keinen Raum!“ einen hanebüchenen Text, der (zusammen mit einigen Fotos vom Jugendkrawall in der Westberliner Waldbühne) eine ganze Zeitungsseite füllte. Gezeichnet war das Elaborat mit „Ständige Kommission Jugendfragen des Bezirkstages Leipzig“. Die Leipziger Verlautbarung kam in entscheidenden Punkten einer Zurücknahme des Jugendkommuniqués „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“ vom 21. September 1963 gleich. Kernsatz des Bannfluches von der Pleiße: „Lange Haare sind unmenschlich.“

Drittens fand im Ministerium für Kultur der DDR eine vom Kulturminister Hans Bentzien einberufene außerordentliche Tagung „über Jugendfragen“ statt, zu der „die ersten Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke“ zusammengetrommelt worden waren. Auf dieser Tagung wurden Beat-Musik und Jugendradio DT 64 für das angeblich zunehmende Rowdytum unter der Jugend in der DDR verantwortlich gemacht. Der Minister für Kultur verkündete eine „Anweisung zur Überprüfung der Jugendklubhäuser und Jugendklubs“ sowie eine „Anordnung über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik“. Da beide Papiere de facto und de jure solche Rechte beschnitten, die der DDR-Jugend im Jugendgesetz (Mai 1964) von der „obersten Volksvertretung“ garantiert worden waren, standen die „Anweisung“ und „Anordnung“ von Anfang an im Verdacht „reiner Behördenwillkür“.

Alexander Schelepin war als Nachfolger von Iwan Serow von 1958 bis 1961 Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB. „Selbst ein Schwein scheißt nicht in seinen Trog“, sagte er 1958 zum Erscheinen von Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“. Das Abbild findet sich auf seinem Grabstein Moskau
Foto: A. Savin/ CC-by-sa 3.0

Die Gleichzeitigkeit der drei Repressionstatsachen war gewiß kein Zufall. Drei Oktoberstürme an einem Tag – das ließ auf einen Timing-Spezialisten als Wirbelwind-Regisseur schließen. Honecker war, wie sich später noch oft zeigen sollte, solch ein Spezialist für politisches Timing, für die Wahl des günstigsten Zeitpunktes, für die Inszenierung von Gleichzeitigkeiten (Synchronizitäten). Der Leipziger Bannfluch gegen lange Haare wäre ebenso wie die kulturministerielle Willkür eine klägliche Episode geblieben ohne den gleichzeitigen gigantischen Geschützdonner aus Thüringen.

Doch gerade das ungewöhnliche Kriegsspiel mit „aus der Tiefe“ (per Luftarmada) herangeführten zusätzlichen Sowjetdivisionen war für Honecker eine Nummer zu groß. Als die eigentlichen Urheber des Oktobersturmtiefs über der DDR, das auch noch an den „Sturm auf das Winterpalais“ von 1917 erinnern sollte, kamen nur Breshnew und sein KGB-Duo A.N. Schelepin/W.J. Semitschastny in Betracht. Das aus der Komsomol-Führung stammende KGB-Duo kannte Honecker noch aus seiner Zeit als FDJ-Chef. Kurt Turba, der vor seiner Zeit als „Forum“-Chefredakteur einige Zeit als Studenten-Sekretär in Honeckers FDJ-Zentralrat gearbeitet hatte, wußte von der Schelepin-Honecker-Seilschaft. Deshalb nahmen wir Honeckers wachsende Obstruktion gegen unsere Jugendpolitik nicht auf die leichte Schulter. Doch vieles wußten wir nicht. Wir konnten nicht ahnen,

– daß Schelepin/Semitschastny eine/die führende Rolle beim Sturz Nikita Chruschtschows im Herbst 1964 gespielt hatten,

– daß KGB-Chef Semitschastny die auf dem XX. KPdSU-Parteitag 1956 „abgeschaffte“ Telefonkontrolle des KGB im Parteiapparat stillschweigend (noch unter Chruschtschow!) wieder eingeführt und solcherart „Lauschangriffe“ sogar gegen seinen Parteichef unternommen hatte,

– daß die KGB-Instrukteure in den Geheimdiensten der „Bruderländer“, die nach dem XX. Parteitag zu „Beratern“ verniedlicht worden waren, unter Semitschastny wieder zu Kontrolleuren und Anleitern „emporwuchsen“,

– und daß Breshnew schon 1964 zusätzlich zu allen objektiven Interessengegensätzen zwischen Moskau und Ostberlin von einer tiefen Antipathie gegen Ulbricht erfaßt worden war.

Dank der peniblen Protokollierungswut Honeckers kann heute jeder nachlesen, wie Breshnew sich noch am 28. Juli 1970 bei Honecker gleich zweimal über das politische „Schwitzbad“ beklagte, das der bärtige Sachse in seiner „Datsche am Döllnsee“ 1964 dem wuchtigen Moskowiter bereitete: „Er stellt einfach meine Delegation auf die Seite, preßt mich in ein kleines Zimmer und redet auf mich ein, was alles falsch ist bei uns und vorbildlich bei euch. Es war heiß, ich habe geschwitzt. Er nahm keine Rücksicht…“ Und weiter wörtlich Breshnew zu Honecker: „Ich sage dir ganz offen, es wird ihm (Ulbricht) auch nicht möglich sein, an uns vorbei zu regieren… Wir haben doch Truppen bei euch… Deutschland gibt es nicht mehr, das ist gut so.“

Wladimir Semitschastny löste 1961 Schlepin ab, der Chef des neugeschaffenen Komitees für Parte- und Staatskontrolle wurde und damit seinen Einfluß auf das KGB behielt. Erspielte eine Schlüsselrolle beim Sturz Chruschtschows
Foto: Commons: RIA Novosti

Wie gesagt, diese Denkungsart des neuen Kreml-Herrn konnten wir 1965 wirklich nicht erahnen. Doch es war genau diese Machtmentalität, die sich am 20. Oktober 1965 in der DDR austobte. Die DDR als ein Stück Moskauer Kriegsbeute, das zu gehorchen und zu liefern hat – und gefälligst nicht selbständig zu denken, weder über eine vernünftige Wirtschafts- noch über eine zukunftsträchtige Jugendpolitik.

Im Oktober 1965 bekam die Redaktion „Neues Deutschland“ einen Vorgeschmack auf jene Gängelei, die in den siebziger und achtziger Jahren. Mode werden sollte. Die Kriegsspielberichte für das ND kamen „Von unseren Manöverberichterstattern“ aus Erfurt. Sie waren wie die Fotos vor Ort „abgestimmt“ und genehmigt worden. Daran durfte in der Redaktion kein Wort geändert werden. Auch die Plazierung an der Spitze der Zeitung war festgelegt.

Solch eine Entmündigung der Redaktion war im SED-Statut nicht vorgesehen. Sie widersprach auch dem Politbüro-Beschluß „zur Verbesserung des ND“ vom Herbst 1964. Besonders sauer war der langjährige stellvertretende ND-Chef Eberhard Heinrich, ein Vertrauensmann Albert Nordens. Heinrich galt als der eigentliche „Macher“ der Zeitung. Ein Jahr zuvor hatte er mit Armin Greim (Leiter des Redaktionssekretariats) und mir den Entwurf des Politbüro-Beschlusses ausgearbeitet. Heinrich war der Erfinder der „Blauen Periode“, in der das ND blau als zweite Druckfarbe verwendete. Honecker, dem passionierten Träger von FDJ-Blauhemden, war blau im ND ein Greuel. Das „Zentralorgan“ hatte rot zu sein.

Am 21. Oktober 1965 – während in Thüringen Felder, Wälder und Straßen von Panzerketten zerwühlt wurden – kam es im ND zu einem absurden Farbenkrieg. „Die blauen Aggressoren, die am Vortrag die Westgrenze durchbrachen, sind zurückgedrängt“, lautete die aus Erfurt durchgegebene verbindliche erste Unterzeile. In der Art des braven Soldaten Schwejk setzten sich die Blauen in der Redaktion gegen alle roten Bedenken durch. Die Schlagzeile „Waffenbruder schlagen den Klassenfeind“ wurde in der fettesten Schrift zu drei Zeilen aufgeblasen, von denen jede balkendick unterstrichen wurde – in blauer Farbe.

Nächste Folge: Lack aufs Haar